Repräsentation statt Integration

Von Dimitrios Kisoudis |
Jahr für Jahr gipfeln die Bemühungen, Migranten in Deutschland zu integrieren, in einer großen Diskussion im Kanzleramt. Wie wäre es damit, die Integration aufzugeben und sich stattdessen um die Repräsentation der Minderheiten zu bemühen?
Kenan Kolat, einer der Diskutanten, hat kürzlich dazu aufgefordert, nicht länger von „Integration“ zu reden. Damit hat sich der Bundesvorsitzende der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“ links und rechts unbeliebt gemacht. Noch zum Jahreswechsel hatte Kolat von der Bundesregierung stärkere Integrationsbemühungen verlangt. Kein halbes Jahr später stellt er fest, die Integrationspolitik führe zu nichts und stoße bei den Türken auf keine Akzeptanz. Als Repräsentant seiner Landsleute wird Kolat wissen, wovon er spricht. Doch Kolat geht weiter und behauptet, der Begriff der Integration sei gar nicht bestimmt.

Mit dieser Behauptung rührt Kolat an staatsrechtliche Fundamente. Denn Integration ist in erster Linie weniger Strafmaßnahme für die Türken im Staate als der Vorgang, dem der Staat seinen Bestand überhaupt erst verdankt. So hatte es der Verfassungsrechtler Rudolf Smend schon in der Weimarer Republik im Sinn. Nachdem die Weimarer Reichsverfassung im Angesicht der Nationalsozialisten Selbstmord begangen hatte, wollte man die junge BRD wappnen, die pluralen Kräfte in ihr bannen: Gemeinsame Werte sollten die Bürger zur Einheit „integrieren“. Das ist der historische Ort der Integration. Wenn sich die Türken und türkischstämmigen Deutschen nicht integrieren, gerät also die Bundesrepublik in ihrer Nachkriegsgestalt ins Wanken.

Und dennoch hat Kolat Recht, wenn er feststellt, dass die Integration vor der neuen multikulturellen Herausforderung versagt. Der Deutsche in der U-Bahn weiß es ebenso gut wie der Türke mit den hohen Werten im Ohr, für die er seinem Vaterland entsagen soll. Die Alternative zur Integration ist aber nicht die Partizipation, die der gebürtige Istanbuler Kolat einklagt. Die Alternative heißt „Repräsentation“.

Gerade die Türken haben mit einer Politik der Repräsentation wertvolle Erfahrungen gesammelt. Im Osmanischen Reich empfing der Sultan den Patriarchen von Konstantinopel als Repräsentanten der orthodoxen Minderheit. Der Patriarch gewährleistete den Gehorsam seiner Untertanen und erhielt im Gegenzug das Privileg, deren Ehesachen nach dem kanonischen Recht zu regeln. So konnte der Patriarch Zeitehen der Orthodoxen durch spirituelle Strafen die Anerkennung verweigern. Ähnlich verhält es sich mit den Türken, die heute als griechische Staatsbürger in Westthrakien leben. Vor allem in Fragen des Familienrechts unterstehen sie den Muftis, Rechtsgelehrten, die ihre Entscheidungen aufgrund der Scharia treffen. Auf der anderen Seite hat der griechische Staat in den Muftis zuverlässige Ansprechpartner.

Repräsentation lässt Minderheiten am Gemeinwesen teilhaben, ohne ihre kulturelle Eigenart zu zerstören. Integration zwingt Minderheiten zur Assimilation, entweder an das staatstragende Volk oder an staatskrönende „Werte“. Integration ist ein Paradigma des Nationalstaats, ihre Voraussetzung das einheitliche Recht. Repräsentation ist ein Paradigma des Imperiums, ihre Voraussetzung das rechtliche Privileg.

Was würde ein Paradigmenwechsel hierzulande bedeuten? Zunächst wäre darauf zu verzichten, den Türken jenen ostentativen Verfassungspatriotismus abzuverlangen, an dem die Einbürgerungstests ebenso kranken wie die Integrationsgipfel. Der Ehegattennachzug könnte am Zivilrecht gemessen werden, am islamischen Recht oder am Interesse des deutschen Staates – nicht aber an vagen Integrationshoffnungen. Schließlich wäre es erstrebenswert, eine möglichst kleine Anzahl von Repräsentanten ansprechen zu können, die in ihrer Gemeinde über eine gut begründete Autorität verfügen. Ob sich dazu weltliche oder geistliche Vertreter besser eignen, hängt von politischen Entwicklungen in der türkischen Nation ab.

Dimitrios Kisoudis, Publizist, geboren 1981, studierte Historische Anthropologie, Germanistik und Hispanistik in Freiburg. Er arbeitet in der Dokumentarfilmproduktion und beschäftigt sich mit Ideologien in Geschichte und Gegenwart. Letzte Buchveröffentlichung: „Politische Theologie in der griechisch-orthodoxen Kirche“.
Dimitrios Kisoudis, Publizist
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