Reportagen geprägt von Neugier und großer Aufmerksamkeit

04.02.2013
Mit ihren Reportagen schreibt Charlotte Wiedemann an gegen die standardisierten Vorstellungen, die sich aus dem medienmächtigen Westen über die ganze Welt verbreitet haben. Die Autorin und Reporterin versucht dabei, in ihren Texten aus den Schablonen der Berichterstattung auszubrechen.
Wer die Reportagen, Berichte und Essays von Charlotte Wiedemann kennt, die in der "Zeit", "Le Monde diplomatique", "GEO" und einigen anderen renommierten Blättern erscheinen, der weiß, dass sie eine außerordentlich kenntnisreiche und sorgfältige Journalistin ist.

Ihre Texte überraschen ihre Leser gewöhnlich damit, dass die Realitäten, die darin betrachtet und beschrieben werden, sich immer - manchmal gerade nur ein wenig, manchmal aber auch sehr - von dem unterscheiden, was man als gut informierter Zeitungsleser erwartet hätte und bereits zu wissen glaubte.

Über die Hintergründe ihrer Arbeit als freie Auslandsreporterin hat sie nun ein Buch geschrieben, ihr zweites nach dem Band "Ihr wisst nichts über uns. Meine Reisen durch einen unbekannten Islam", über kleine und große Unterschiede der Betrachtungsweisen, über die Möglichkeiten eines offenen Blicks auf das Fremde und das Angewiesensein auf Leute, die westliche Journalisten durch unbekannte Gelände, neue kulturelle Gegebenheiten und fremde Sprachen lotsen.

"Wir sind Blinde, sobald wir unseren Kulturkreis verlassen, die Zone der uns vertrauten Zeichen", schreibt sie.
"Alltag entziffern. Zäune, Feldgrößen, Straßenbreite interpretieren. Dächer lesen. Was ist arm? (...) Wie viele Kochtöpfe verraten gesellschaftlichen Aufstieg?"

Der Versuch, Gesellschaften nach ihren eignen Zeichen zu "entziffern", kann nicht immer und schon gar nicht vollständig gelingen, aber Wiedemanns Reflexionen über diese Versuche allein sind schon lesenswert genug: Man erfährt dabei einiges - und hoch Interessantes - über die extrem restriktiven Bedingungen, unter denen ausländische Journalisten im Iran arbeiten und bekommt damit die Erklärung dafür, dass ein großer Teil der iranischen Gesellschaft der hiesigen Öffentlichkeit völlig unbekannt geblieben ist.

Vor allem islamische Länder hat Charlotte Wiedemann seit 1999 bereist und ist dabei immer wieder an die Grenzen der freien Berichterstattung gestoßen - Grenzen, die oft genug auch durch Stereotypen gezogen werden, wie sie Redaktionen und Publikum bei bestimmten Themen wie etwa dem Kopftuch erwarten.

Aber auch in ihren "Begleittexten" zu Reportagen aus Thailand oder dem indonesisch besetzten Neuguinea schreibt sie an gegen die standardisierten Vorstellungen, die sich aus dem medienmächtigen Westen über die ganze Welt verbreitet haben. Aus diesen "weißen" Erzählungen auszubrechen sei "schwer", "wenn sie erst durch vielfaches Wiederholen rund geschliffen worden ist zu einem handlichen Stück Gebrauchs-Wahrheit".

Die Entfernung von diesen Standards findet in Wiedemanns Texten so behutsam wie unspektakulär statt: steile Gegenthesen oder neue gültige Wahrheiten für alle wird man darin nicht finden. Man findet Neugier, Behutsamkeit und eine große Aufmerksamkeit nicht nur für die jeweiligen Themen und Länder, sondern auch für das journalistische Handwerk selbst.

Dieses Buch sei allen angehenden Journalisten sehr anempfohlen - und auch solchen, die gerne bessere Journalisten oder einfach nur bessere Zeitungsleser werden wollen.

Besprochen von Katharina Döbler

Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt
PapyRossa Verlag, Köln 2012
185 Seiten, 12,90 Euro

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