Replik auf Hamed Abdel-Samads Koran-Buch

"Heilige Schriften lesen sich anders"

Student in der Mosche der Al-Azhar Universität in Kairo
Ein Student in der Moschee der Al-Azhar Universität in Kairo bei der Lektüre © picture-alliance / dpa / Sarah Louise Ramsay
Wolfgang Palaver im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 07.10.2016
Heilige Texte wie die Bibel oder der Koran werden von Gläubigen ganz anders gelesen, entgegnet der katholische Theologe Wolfgang Palaver dem deutsch-ägyptischen Buchautor Hamed Abdel-Samad. Dessen Buch über den Koran begegnet er deshalb mit Skepsis.
"Die meisten Gläubigen Moslems haben einen ganz anderen Zugang zum Koran als Abdel-Samad", sagt der katholische Theologe Wolfgang Palaver aus Innsbruck über das neue Buch "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses." des deutsch-ägyptischen Publizisten Hamed Abdel-Samad im Deutschlandradio Kultur. Dessen Interpretation erkläre nur unzureichend, warum ein Viertel der Menschheit, und damit 1,6 Milliarden Menschen, heute dem islamischen Glauben angehörten.

Kritik aus Sicht der Leser

"Ein gläubiger Moslem, der dieses Buch lesen wird, wird es sehr bald beiseite legen und sagen, mit dem kann ich nichts anfangen", sagte Palaver. Ein Salafist, der eben fundamentalistisch an den Koran herangehe, werde noch mehr Gründe finden, Abdel-Samad zu bekämpfen. "Die vielen nichtwissenden Deutschen, die vom Koran und Islam keine Ahnung haben und Ressentiments haben, werden viel Munition finden", kritisierte der Theologe das Buch von Abdel-Samad.

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Ist der Koran eine Botschaft der Liebe oder eine Botschaft des Hasses – beides findet sich als Antwort auf dem aktuellen, auf dem gestern erschienen Buch des deutsch-ägypters Hamed Abdel-Samad, und bei uns im Deutschlandradio Kultur hat er gestern erklärt, was er damit mein:
Hamed Abdel-Samad: Der Koran ist praktisch ein Supermarkt: man kann darin alle möglichen Produkte kaufen, erwerben, benutzen, brauchen, missbrauchen. Es gibt Toleranz und Nächstenliebe, es gibt Gewalt und Ausgrenzung. Das Problem ist nicht, was im Koran steht, sondern der Stellenwert des Korans als das endgültige letzte Wort Gottes, das angeblich direkt von Gott offenbart wurde. Da liegt das Problem.
Frenzel: Hamed Abdel-Samad, ein Autor und Kritiker des Islams, wie er sich heute oft zeigt. Eine richtige Analyse? Das wollen wir heute weiterdiskutieren mit einem Mann, der Abdel-Samad schon in Debatten begegnet ist, Wolfgang Palaver, Professor der Theologie in Innsbruck. Guten Morgen!
Wolfgang Palaver: Guten Morgen!
Frenzel: Der Koran: Botschaft der Liebe, Botschaft des Hasses. Ist diese Ambivalenz, ist das eine treffende Beschreibung, die Abdel-Samad da vornimmt?
Palaver: Wenn man sehr oberflächlich an den Text herangeht – das gilt aber nicht nur für den Koran, sondern mehr oder weniger für alle heiligen Texte –, dann findet man, so wie im menschlichen Leben, Elemente der Liebe, Elemente des Hasses. Es spiegelt sich in diesen heiligen Texten die Ambivalenz unseres menschlichen Lebens wider.
Frenzel: Das heißt also, der Koran ist in der Hinsicht nicht anders als die Bibel zum Beispiel.
Palaver: Nicht sehr viel anders. Also wenn Sie das Alte Testament nehmen, dann können Sie ganz dasselbe Buch schreiben, und selbst wenn Sie das Neue Testament wirklich aufmerksam lesen – es gibt ja auch Kritiker des Neuen Testamentes –, dann finden Sie Texte über die Hölle, finden Texte über das Heulen und Zähneknirschen, und wenn man sich die genauer anschaut, dann steht man auch vor dem Problem, dass verschiedene Seiten hier angesprochen sind. Die Frage ist, was ist dann das Zentrum, wie ist das Ganze zu interpretieren.
Meine Reaktion ist – ich habe das Buch jetzt auch gelesen in den letzten Tagen –, wie könnte man sich, wenn man dieses Buch ganz banal interpretiert und sagt, ja, da sind Elemente der Liebe drin, da sind Elemente des Hasses drinnen, das ist ein Supermarkt, und jeder nimmt sich, was er will, könnte man mit so einem Text, wenn man ihn so interpretiert, sich erklären, dass ein Viertel der Menschheit heute dem islamischen Glauben angehört, also 1,6 Milliarden – das wäre doch zu billig.

Der positive Bezug

Frenzel: Ja, aber, ich meine, es gibt ja auch, ich glaube, etwa eine Milliarde Christen in der Welt, die eben auch ein sehr ambivalentes Buch als Grundlage haben. Also das wäre ja an sich noch nicht das Problem.
Palaver: Ja, aber mein Punkt ist der, also wenn Sie ein gläubiger Mensch sind, also ein Christ, ein Jude oder ein Moslem, dann müssen Sie ja zu diesem Text irgendwo einen positiven Bezug haben und müssen jetzt in dem Sinn eine Theologie im Hintergrund haben, zumindest implizit, die Ihnen hilft, diese Widersprüche, die auf der ersten oberflächlichen Textebene gegeben sind, aufzulösen.
Ich glaube, dass die großen Traditionen das sehr gut konnten, weil man sonst nicht erklären kann … also wir wissen das von den Ideologien Nationalsozialismus, Kommunismus, das ist zwar möglich mit extremen Repressalien, einige Jahrzehnte Menschen für eine Ideologie sozusagen zu fesseln und gefangen zu nehmen, aber nicht über Jahrhunderte und nicht in dieser Zahl. Das heißt, die meisten Gläubigen Moslems haben einen ganz anderen Zugang zum Koran als Abdel-Samad.
Frenzel: Ja, aber was Herr Abdel-Samad sagt, ist ja nicht, der Koran ist das Problem, sondern, dass er für bare Münze genommen wird, dass er als direktes Gesetzwerk von vielen verstanden wird und damit entsprechend Religionspolitik gemacht wird. Ist das nicht ein valider Punkt?
Palaver: Ja. Da gebe ich Ihnen ganz recht, also seine Kritik an Interpretationen des Korans, die also diesen Text wie ein Kochbuch oder eine Rezeptvorlage für kleinste Details des menschlichen Lebens im Sinne einer wortwörtlichen Übernahme dieses Textes verwenden, ist natürlich völlig abstrus und lebenszerstörend und so weiter. Das gilt natürlich ebenso auch wieder für extremfundamentalistische Interpretationen der Bibel.

Was ist der Mehrwert?

Frenzel: Ist es dann nicht gut, wenn jemand, gerade ein Moslem, ein solches Buch schreibt und sagt, bitte nehmt es als historischen Text und nicht als Gesetzbuch?
Palaver: Ja, das mag gut sein, aber mein Kritikpunkt ist der, er muss ja auch erklären können oder er muss jetzt einem Gläubigen Moslem erklären können, was ist jetzt der Mehrwert dieses Buches, warum ist das nicht irgendein Buch. Ich meine, in der Menschheit werden ja Millionen von Büchern geschrieben, und die heiligen Bücher – die Bibel, der Koran und andere Texte –, das sind besondere Texte, wo viele Menschen über viele Jahrhunderte auch wirklich eine tiefere Lebensführung erfahren haben.
Frenzel: Ich habe ihm genau diese Frage gestellt, Herr Palaver, was der Nutzen dieses Buches ist, und wir hören mal kurz seine Antwort darauf:
Abdel-Samad: Wenn wir diese Debatte nicht in der Mitte der Gesellschaft führen, humanistisch, ohne Muslime auszuschließen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass der rechte Rand solche Themen natürlich für sich beansprucht wie die Themen Freiheit und wie die Themen Menschenrechte, was nicht stimmt. Wir müssen diese Debatte in der Mitte der Gesellschaft führen, weil sie eine ernsthafte Debatte ist. Wir müssen über den Islam und insgesamt über Migration und Flüchtlinge offener, entkrampfter sprechen und mehr in der Mitte der Gesellschaft zum Wohle der Menschen.
Frenzel: Hamed Abdel-Samad hat das gestern bei uns gesagt. Wolfgang Palaver, Theologe in Innsbruck, das sind Worte, denen kann man doch eigentlich nichts entgegensetzen, oder?
Palaver: Ich weiß jetzt nicht, wo die Mitte der Gesellschaft ist. Ich meine, die Frage, die sich mir gestellt hat, ist, ein gläubiger Moslem, der dieses Buch liest, der muss sich eigentlich von seinem Glauben distanzieren, weil dann im Kern dann doch herauskommt, dass Mohammed ein Paranoiker, psychisch schwer geschädigt war, und die vielen schwierigen Texte im Koran nichts anderes wären wie Projektionen eines psychisch kranken Menschen.

Man muss da eine Brücke schaffen

Frenzel: Wenn man es so weit interpretieren möchte, ja, da gebe ich Ihnen recht, das wäre für einen bekennenden Muslim sicherlich schwierig. Gleichzeitig ist aber vielleicht gerade die Herausforderung für den Islam, ein etwas entspannteres Verhältnis zu entwickeln, wie das ja auch im Christentum passiert ist.
Palaver: Ja …
Frenzel: Die meisten bekennenden Christen lesen ja die Bibel heute nicht mehr so, als wäre es eine wahre Geschichte.
Palaver: Das stimmt so nicht. Ich meine, ich bin ja gläubiger Christ, und natürlich ist das eine wahre Geschichte, aber das heißt nicht …
Frenzel: Aber Adam und Eva, das glauben Sie nicht, oder?
Palaver: Was glaube ich nicht? Ich meine, natürlich glaube ich nicht, dass die Welt in sechs oder sieben Tagen geschaffen worden ist, und viele, viele andere Dinge sind natürlich auch in der Bibel nicht in dem Sinne als naturwissenschaftliche Aussage zu verstehen. Also, aber zu sagen, es ist keine wahre Geschichte, das kann kein gläubiger Christ so unterschreiben, und darum fehlt in diesem Buch über den Koran eigentlich die Brücke, dass ein gläubiger Moslem sich auf diese Überlegungen, wie gefährlich eine Kochbuchhaltung dem Koran gegenüber ist.
Ich glaube, da muss man eine Brücke schaffen. Ein gläubiger Moslem, der dieses Buch lesen wird, wird es sehr bald beiseite legen und sagen, mit dem kann ich nichts anfangen. Ein Salafist, der eben fundamentalistisch an den Koran herangeht, wird noch mehr Gründe haben, Abdel-Samad zu bekämpfen, und die vielen nichtwissenden Deutschen, die vom Koran und Islam keine Ahnung haben und Ressentiments haben, werden viel Munition finden.
Frenzel: Sagt Wolfgang Palaver, Professor der Theologie in Innsbruck. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hamed Abdel-Samad: "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses."
Droemer Knaur Verlag, München 2016, 19,99 Euro.

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