Renteneintrittsalter

"Es herrscht eine Kultur des Frühausstiegs"

07:25 Minuten
Vier ältere Männer sitzen an einem Strand auf Mallorca auf einer Mauer und blicken aufs Wasser.
Irgendwann ist dann auch mal gut: Senioren aus Deutschland auf Mallorca. © picture alliance / dpa / photothek / Ute Grabowsky
Hans Martin Hasselhorn im Gespräch mit Julius Stucke · 13.12.2022
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Die Unternehmen brauchen dringend Mitarbeiter, doch der Trend zur Frühverrentung ist ungebrochen. Der Arbeitsforscher Hans Martin Hasselhorn erklärt, unter welchen Bedingungen die Menschen bereit wären, länger zu arbeiten.
Überall herrscht Arbeitskräftemangel, deswegen soll unter anderem wieder länger gearbeitet werden: Die Bundesregierung will erreichen, dass weniger Menschen vor der Regelaltersgrenze in Rente gehen. "Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz.
Anlass sind neue Zahlen vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). Sie bestätigen einen Trend, nach dem die Menschen in Deutschland immer häufiger früh in Rente gehen. Viele scheiden demnach bereits mit 63 oder 64 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus – und damit deutlich vor der Regelaltersgrenze.

Die "Rente mit 63" ist beliebt

Eine Ursache dafür sei die "Rente mit 63", heißt es: also die seit 2014 bestehende Möglichkeit eines frühzeitigen Rentenbezugs ohne Abschläge für Menschen, die 45 Versicherungsjahre aufweisen können. Im damaligen Gesetzgebungsverfahren ging man von 200.000 bis 240.000 Anträgen pro Jahr aus. Doch im vergangenen Jahr nutzten nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung fast 270.000 Neurentner diesen Weg.
Auch andere Quellen bestätigen den Trend. Seit 2011 befragt die repräsentative Studie „lidA – leben in der Arbeit“ wiederholt ältere Erwerbstätige aus den sogenannten Babyboomer-Jahrgängen dazu, wie lange sie arbeiten wollen und können. Die Untersuchung hält fest, wie sich Arbeitsbedingungen und Erwerbsverläufe verändern und welche persönlichen Motive hinter der Entscheidung stehen, den Job früher aufzugeben oder eben nicht.

Wunsch nach mehr Selbstbestimmung

Laut der Studie, bei der in Abständen jeweils bis zu 9.000 Personen in ganz Deutschland befragt werden, ist der Trend zum frühen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ungebrochen. "Es herrscht eine Kultur des Frühausstiegs", sagt Studienleiter Hans Martin Hasselhorn von der Universität Wuppertal. Das gelte für die Babyboomer als auch für jüngere Generationen.
Die Gründe dafür sind vielfältig, doch der Hauptgrund ist der Wunsch nach mehr freier Zeit. "Die Leute wollen über ihr Leben mehr selbst bestimmen, sie wollen es genießen, bevor es zu spät ist", sagt Hasselhorn. Andere empfinden ein "moralisches Recht", früher in Rente zu gehen. Und nicht wenige können es sich auch einfach leisten, selbst, wenn es zu Abschlägen bei der Rente kommt.
Diese Menschen zum Weitermachen zu motivieren, wird laut dem Arbeitsforscher eher schwierig. Hasselhorn sieht vor allem zwei Hebel: Die Betriebe müssen sich überlegen, wie sie die Arbeitsbedingungen, gerade bei harter körperlicher Arbeit, verbessern können, und sie müssen ihren älteren Mitarbeitern mehr Mitbestimmung bei den Arbeitsbedingungen einräumen.

Die Union bietet Gespräche an

"Das ist der Weg, um Beschäftigte länger zu halten", betont Hasselhorn. Denn drei Viertel von denjenigen, die früher in Rente gehen wollen, sagen zugleich, dass sie unter bestimmten Bedingungen bereit wären, weiter zu arbeiten.
Sicher ist: Die Debatte wird weitergehen. CDU-Fraktionschef Friedrich Merz bietet der Ampel-Koalition Gespräche über eine große Rentenreform im kommenden Jahr an. Natürlich nicht ohne Seitenhieb: "Die früheren Möglichkeiten für einen Renteneintritt sind das Lieblingsprojekt der SPD in der letzten Wahlperiode gewesen", so Merz.
Die FDP will das System wiederum grundsätzlich ändern und fordert eine weitgehende Flexibilisierung. "Ich bin überzeugt: Niemand muss den Menschen mehr vorschreiben, wann sie in Rente zu gehen haben, auch weil die Lebensläufe immer unterschiedlicher werden", meint FDP-Vizechef Johannes Vogel, der auf Schweden verweist. Dort gelte eine einfache Regel: "Wer eher in den Ruhestand geht, erhält weniger Rente, wer später geht, erhält mehr."
(ahe/dpa)
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