Renaissance des Heimatbegriffs

"Heimat ist, was man daraus macht"

Walter Leimgruber 2012 bei der Medienkonferenz Eidgenoessische Kommission fuer Migrationsfragen zur Studie Einbuergerungspraxis in der Schweiz.
Der Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber bei einer Konferenz © Imago/EQ Images/Manuel Winterberger
Walter Leimgruber im Gespräch mit Patrick Garber · 04.11.2017
Auch Grüne verwenden heute wieder selbstverständlich den Begriff "Heimat". In Zeiten großer Migrationsbewegungen steht dieser Begriff und was er bezeichnet aber zusehends zur Diskussion. Darüber sprechen wir mit dem Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber.
Neuerdings ist im deutschen Politikbetrieb viel von Heimat die Rede. Und zwar nicht nur bei Konservativen: Auch die bündnis-grüne Frontfrau Katrin Göring-Eckardt fordert, für die Heimat zu kämpfen. Dies ist offenbar mehr als eine Reaktion auf den Wahlerfolg der AfD, die vorgibt, die Heimat vor angeblicher Überfremdung zu bewahren. Heimat soll als einigendes Band von Grünen und Unions-Christen in einer Jamaika-Koalition dienen, von einem Bundes-Heimatministerium ist gar die Rede.

Klärung eines Begriffs

Doch was ist Heimat eigentlich? Macht dieser Begriff in einer Einwanderungsgesellschaft überhaupt Sinn? Oder wird er durch Multikulti obsolet? Ist Heimat nur etwas für Nostalgiker, gar für Reaktionäre? Oder ist Heimat etwas, das immer wieder neu geschaffen werden will? Was aber, wenn Heimatvorstellungen von Einheimischen und Migranten aufeinander treffen? Ist Heimat Verhandlungssache?

Prof. Dr. Walter Leimgruber, geboren 1959 in Herznach/Aargau in der Schweiz, leitet das Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Er studierte Geschichte, Volkskunde und Geographie an der Universität Zürich, wo er sich 2001 auch habilitierte. Forschungsaufenthalte führten ihn in die USA, nach Frankreich und Deutschland. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Integration und Ausgrenzung sowie Migration.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Warum reden in der Politik eigentlich plötzlich alle von Heimat? Gut, bei einer Regionalpartei wie der CSU ist das nicht so überraschend. Und für die AfD ist Heimat das, was sie gegen die angebliche Bedrohung einer angeblichen Überfremdung zu verteidigen vorgibt. Aber dass jetzt auch führende Grüne geloben für die Heimat zu kämpfen, das lässt aufhorchen. Mehr noch: Bei den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition wird der Begriff Heimat als Bindemittel für die sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Unions-Christen, Liberalen und Grünen bemüht. Sogar von einem möglichen Bundesheimatministerium ist die Rede.
Aber was bedeutet Heimat überhaupt in einer globalisierten Welt, in einer Einwanderungsgesellschaft? Darüber rede ich jetzt mit Prof. Walter Leimgruber. Er ist Ordinarius und Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und europäische Ethnologie an der Universität Basel. – Guten Tag, Herr Leimgruber.
Walter Leimgruber: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Leimgruber, was ist denn Ihre Heimat – der Kanton Aargau, in dem Sie aufgewachsen sind, oder die Schweiz oder Europa?

"Alles zusammen und noch viel mehr dazu"

Walter Leimgruber: Alles zusammen und noch viel mehr dazu. Meine Heimat ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Meine Heimat sind die Leute, die mich umgeben haben und die mich umgeben. Meine Heimat sind die Orte, an denen ich mich wohl fühle – und das sind sehr viele. Und meine Heimat ist die Welt, die mir irgendwie vertraut ist und in der ich eben das Gefühl habe, irgendwie dazu zu gehören.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben also mehrere Heimaten. Das klingt ja ungewöhnlich. Denn meist wird dieses Wort ja in der Einzahl verwendet.
Walter Leimgruber: Das ist so. Das ist auch vom Wortursprung her so. Da ist es eigentlich etwas ganz Trockenes, nichts Ideologisches, sondern eigentlich etwas Juristisches. Der Begriff ist übrigens ursprünglich sächlich. "Das Heimat" bezeichnet lange Zeit nichts anderes als das Haus, in dem man lebt und wo man seinen Lebensunterhalt verdient. Das ist ja in der Regel dann in früherer Zeit auch ein Bauernhaus. Und der Begriff wird auch so eingesetzt, um zu bezeichnen, da ist jemand, der hat ein Heimat. Das gibt es heute auch in verschiedenen Dialekten und Redewendungen noch. Im Schwäbischen etwa sagt man, der Älteste kriegt die Heimat, und meint damit eben: Der erbt das Haus, das Land, das dazu gehört, die Wirtschaft. Und da sieht man eben, die Heimat ist eigentlich die Basis, um den Lebensunterhalt zu verdienen.
Deutschlandfunk Kultur: Kulturgeschichtlich gesehen ist das also erstmal eine eher prosaische Bedeutung. Es ging schlicht um Besitz. Wie ist es dann zu dieser emotionellen Aufladung des Begriffs Heimat gekommen, gerade im deutschsprachigen Raum?

Zugehörigkeit, Besitzhaben und Rechte haben als Einheit

Walter Leimgruber: Man muss vielleicht als Zwischenstück schon noch sehen, dass der Besitz immer auch an bestimmte Formen der Zugehörigkeit gebunden war. Nämlich Besitz hieß nichts anderes, als dass man das Recht hat, in der Gemeinde, in der man diesen Besitz hat, eben überhaupt mitzureden, also auch mitzugestalten, dass man das Recht auf Armenunterstützung hatte. Hier sieht man sofort, dass Zugehörigkeit, Besitzhaben und eben Rechte haben eine Einheit sind.
Diejenigen, die nicht in der Heimat bleiben können, weil sie zum Beispiel eben den elterlichen Bauernhof nicht erben, die werden heimatlos. Die müssen irgendwo anders ihren Lebensunterhalt verdienen. Die ziehen weg. Die ziehen in die Stadt. Die ziehen an andere Orte hin…
Deutschlandfunk Kultur: Und verlieren damit auch Privilegien.
Walter Leimgruber: .. und verlieren damit Privilegien, nämlich dass sie eben nirgendwo mehr zugehörig sind. Und da entsteht natürlich dann so langsam die emotionale Ebene. Diejenigen, die das Gefühl haben, sie gehören ganz klar irgendwo hin, und diejenigen, die nirgendwo hingehören, das ergibt eigentlich unterschiedliche gesellschaftliche Kategorien.
Deutschlandfunk Kultur: Im 19. Jahrhundert hat dieser Heimatbegriff im Biedermeier und danach einen ziemlichen Aufschwung gewonnen. Gleichzeitig war dieses aber auch die Zeit einer rasanten Industrialisierung. – Bedeutet es, dass da schon ein rückwärtsgewandter Heimatbegriff entstanden ist, der also ein Idyll beschwor, das es gar nicht mehr gegeben hat angesichts massenhafter Arbeitsmigration?

"Es hat dieses Idyll ohnehin nie gegeben"

Walter Leimgruber: Es hat dieses Idyll ohnehin nie gegeben. Das Idyll war immer ein Idyll in den Augen derjenigen, die eben im Besitz von etwas waren. Ein Idyll ist es solange, wie man nicht hinschaut, was alles aus dem schönen Bild rausgelaufen ist, nämlich all die Menschen, die in diesem Idyll gar keine Chancen zum Überleben hatten.
Das ist natürlich mit der Industrialisierung, mit der Urbanisierung im 19. Jahrhundert nochmals akzentuiert worden, weil noch viel mehr Menschen wegzogen, noch viel mehr Menschen eben ihre Heimat, verstanden als der Ort, in dem sie aufgewachsen sind, verloren haben. Das hat natürlich die Problematik verschärft. All diese heimatlosen Menschen, die zum Teil auch unter schwierigen und zum Teil menschunwürdigen Umständen in den Städten hausten, die träumten sich natürlich zurück an diese Orte, wo sie sich doch noch etwas besser aufgehoben gefühlt haben als in den Städten.
Deutschlandfunk Kultur: Bleiben wir noch einen Moment im 19. Jahrhundert. Dort wurde ja nicht nur die Industrialisierung erfunden, sondern auch die Nation. War das nicht auch ein enormer Verlust von Heimat hier in Deutschland, weil man ja plötzlich nicht mehr Bayer, Rheinländer oder Sachse war, sondern man war Bürger des Deutschen Reiches. Wie passt das zusammen – Nation und Heimat?

Die Heimat-Haut des Nationalstaates

Walter Leimgruber: Man könnte es auch als Verdopplung der Heimat sehen. Das heißt, zu dieser eher eng definierten Heimat als Ort, an dem man aufgewachsen ist, oder im etwas größeren Fall eben, wie Sie gesagt haben, vielleicht auch die Region, kommt jetzt noch eine weitere Schicht dazu, nämlich die Zugehörigkeit zu einem Staat.
Die Nationalstaaten, die sich in dieser Zeit ja erst überall in Europa herausbilden, die nutzen das natürlich auch, um die Menschen an sich zu binden. Die sagen: Ja, wir wohnen zwar nicht alle im gleichen Ort, aber wir haben Gemeinsamkeiten. Wir haben die gemeinsame Sprache. Wir haben die gemeinsame Geschichte. Wir haben die gemeinsame Kultur. Wir gehören alle zusammen.
Damit bieten sie den Menschen sozusagen eine zweite Haut, Heimat-Haut an sozusagen, eine Ersatzheimat, nicht mehr diese Nähe, dieses Vertrautsein. Und dennoch hat man das Gefühl, obwohl man all diese Menschen, die in diesem Staat leben, nicht kennt, man gehöre irgendwie zusammen.
Deutschlandfunk Kultur: Damit ist Heimat allerdings ziemlich abstrakt geworden.
Walter Leimgruber: Damit ist Heimat sehr abstrakt geworden. Es gibt einen schönen Begriff von Benedict Anderson, dem Historiker, auf Englisch, der "imagined community", also der Gemeinschaft, die man sich einbildet oder die man sich vorstellt. Es braucht ziemlich viel Abstraktionsvermögen sozusagen, um überhaupt dieses Gefühl zu entwickeln: Wir alle, je nach dem, 10 Millionen, 80 Millionen, 100 Millionen – gehören zusammen.
Aber das ist wahrscheinlich die große Leistung in einem positiven Sinn –, neben allen negativen Effekten – dass es den Nationalstaaten gelungen ist, dieses Gefühl aufzubauen, dass sich die Leute eben plötzlich als Deutsche, als Franzosen, als Engländer oder als was weiß ich gefühlt haben.
Deutschlandfunk Kultur: Der Nationalstaat Schweiz existiert ja schon wesentlich länger als deutsche Nationalstaaten existieren oder existiert haben. Wie ist das mit der Schweiz als Nation und als Heimat?

Der alpine Raum prägt die Schweizer

Walter Leimgruber: Bei der Schweiz betont man immer die Mehrsprachigkeit. Aber ich muss vielleicht sagen, in Frankreich haben auch nicht alle französisch gesprochen und haben eine sehr unterschiedliche Geschichte. In Spanien haben nicht alle spanisch gesprochen und haben eine sehr unterschiedliche Geschichte – siehe die Konflikte heute.
Die Schweiz hat diese Situation schon immer gehabt und sie hat nach einer langen, langen Serie von Konflikten, das muss man auch sagen, eben eine Lösung gefunden, indem sie nicht die gemeinsame Sprache, nicht die gemeinsame Kultur in den Vordergrund gestellt hat, sondern einerseits die Vielfalt, aber diese Vielfalt gleich wieder eingepackt hat in eine Konstruktion oder in verschiedene Konstruktionen. Die eine wichtige Konstruktion ist, zu sagen: Das, was allen Schweizern – egal, welche Sprache sie sprechen – gemeinsam ist, ist sozusagen dieser alpiner Raum, der die Menschen prägt, der ihren Freiheitswillen prägt. Man hat den Bauern und den Hirten und den Sennen zum Idealtypus des Schweizers gemacht.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe es in der Anmoderation schon erwähnt, wir erleben hier in Deutschland gerade wieder einen Hype um den Begriff Heimat, aber vielleicht nicht nur hier in Deutschland. Denn die populistischen Bewegungen, die in verschiedenen Ländern in letzter Zeit Furore machen, kümmern sich ja auch immer wieder auf ihre Art um diesen Begriff. – Woher kommt dieser Hype gerade jetzt?

Parallelen von heutiger Globalisierung zum 19. Jahrhundert

Walter Leimgruber: Ich glaube, man kann tatsächlich viele Parallelen ziehen zum 19. Jahrhundert, zur Industrialisierung, zur Urbanisierung. Damals hat quasi dieser große Konstruktionsprozess des Nationalstaates den Leuten eine Art Halt geboten in dieser umwälzenden Situation, in einer Situation, in der die Menschen sich unsicher gefühlt haben. – Wie geht’s weiter? Wie sieht unsere Zukunft aus? Ich muss auch sagen, einen Halt geboten mit vielen negativen Effekten, weil natürlich auch hier wie in der kleinen Heimat immer bestimmte Gruppen ausgegrenzt worden sind.
Und heute, denke ich, dass es mit der Globalisierung ähnlich aussieht. Wir merken, dass das, was uns vertraut ist, egal, ob das auf der lokalen oder der nationalen Ebene ist, sich rasch verändert. Stichworte Digitalisierung, Robotisierung, aber auch ganz andere Bereiche, die nicht direkt mit der Globalisierung zu tun haben, etwa der Wandel der Geschlechterrollen, der Wandel des Generationenverhältnisses, Wir merken, dass sich ganz viel bewegt. Und wir haben das Gefühl, wir können das nicht wirklich beeinflussen. Wir haben keine Kontrolle darüber.
Dieses Gefühl der Machtlosigkeit und zum Teil auch der Angst führt natürlich, kann man sagen, dazu, dass die Menschen sich wieder nach Ebenen sehnen, wo sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu haben, und wo sie dieses Gefühl der Zugehörigkeit, der Identität usw. spüren können. Das sehen sie ja heute etwas bedroht. Sie haben Angst, dass sich sozusagen ihre eigene Identität auflöst.
Und wenn man hier Muster anbieten kann, die irgendwie plausibel sind, und meistens sind ja einfache Muster relativ plausibel, dann greifen die Leute zu.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Beispiel einer erfolgreichen Strategie war ja die von Donald Trump, mit der er US-Präsident geworden ist, indem er gesagt hat: "Make America great again." – Soll dieses again die Rückkehr in eine alte Heimat bedeuten, in der die USA groß war, also in eine andere Zeit?
Walter Leimgruber: Ich denke, schon in eine andere Zeit, nämlich in eine Zeit, in der dieses Gefühl des Herausgefordertseins, dieses Gefühl der Gefahr, dieses Gefühl der Bedrohung und dieses Gefühl des Niedergangs nicht vorhanden oder zumindest nicht so stark vorhanden war.
Ich denke, was ganz wichtig ist für die USA wie für alle westlichen Gesellschaften, wir haben jetzt einige Generationen erlebt, und ich würde meinen, ich spreche hier von den Generationen ab 1945, die eigentlich lange Zeit nur eins erlebt haben, nämlich einen Aufstieg der Gesellschaften insgesamt. Gerade Amerika ist natürlich ein gutes Beispiel, quasi auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht nach dem Zweiten Weltkrieg, der Geltung, des Ansehens der amerikanischen Kultur in der Welt. Und auf der anderen Seite aber auch der Aufstieg auf individueller Ebene. Die Menschen verdienen besser. Der Wohlstand wächst. Der Konsum wächst. Wir können uns heute vieles leisten, was wir uns 1945 nicht hätten leisten können. Und was uns heute prägt, ist eigentlich diese Erfahrung der letzten zwei, drei Generationen.
Zugleich spüren wir, diese Erfahrungen werden nicht in die Zukunft verlängert werden können. Das wird nicht so weitergehen können. Wir spüren also, dass wir da etwas verlieren. Dieser Appell "make America great again" heißt eigentlich: Holen wir doch diese gute Zeit, in der wir uns alle sehr wohl gefühlt haben, wieder zurück.
Deutschlandfunk Kultur: Heimat ist also nicht nur ein Ort, sondern ist auch eine Zeit, eine vergangene Zeit, an die man sich sehnsüchtig zurück erinnert?

"Heimat hat immer eine starke zeitliche Komponente"

Walter Leimgruber: Heimat hat immer eine starke zeitliche Komponente, nicht nur die, die ich gerade beschrieben habe. Zeitlich ist auch die individuelle Ebene sehr wichtig. Heimat ist für ganz viele Menschen die Phase, in der sie ein Kind waren, in der sie jung waren. Weil, wenn die Kindheit, wenn die Jugend einigermaßen normal oder sogar sehr positiv, sehr erfreulich verläuft, dann ist das die Phase im Leben, in der man sich so selbstverständlich wohl fühlt, zugehörig fühlt, vertraut fühlt mit seiner Umwelt, ohne alles dauernd hinterfragen zu müssen, wie das nie mehr später im Leben vorkommt.
Wenn wir dann erwachsen werden und uns mit all diesen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen haben, die halt unser Erwachsensein so mit sich bringt, dann ist diese Sehnsucht nach dieser Zeit der Zugehörigkeit auf der Ebene der Familie, auf der Ebene einer Nachbarschaft, eines Quartiers, einer Stadt, einer Community, von der man das Gefühl hat, ja, die versteht mich, wir reden gleich, wir haben die gleichen Interessen. Das wird dann sehr stark und sehr dominierend.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Leimgruber, wir haben gerade über den nostalgischen Aspekt und auch über vermeintlich idyllische Aspekte der Vorstellung von Heimat geredet. Aber Heimat kann ja auch ausgrenzend sein, kann bedeuten: Kein Zutritt für Fremde! – Ist Ausgrenzung von Fremdem oder von fremden Menschen notwendig verbunden mit der Vorstellung von Heimat?
Walter Leimgruber: Ich sage Ihnen mal so: In der Geschichte war diese Verbindung sehr häufig. Denn um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit herzustellen, braucht es eigentlich immer auch jemanden, der nicht zu dieser Gruppe der Zusammengehörenden gehört, der nicht dabei ist. Das ist leider so. Es gibt praktisch nie die totale Inklusion.
Wir haben das vorhin gesehen an dem Beispiel des Dorfes. Wer keinen Besitz hat, der hat bestimmte Rechte nicht. Der hört nicht dazu. Wir haben es gesehen auf der Ebene der Nation. Da ist die Abgrenzung häufig gegen außen. Da ist es der äußere Feind, der Nachbar zum Beispiel, den man bekämpft dann, was wir auch lange genug in blutigen Kriegen getan haben.
Es kann aber auch ein Feind im Inneren sein, ein sogenannter Feind, Minderheiten, die dann eben angeblich nicht dazu gehören, die nicht die gleiche Sprache sprechen, nicht die gleiche Kultur haben. Denken Sie an die Situation etwa der Juden in praktisch allen Ländern in Europa, bis sie dann als gleichwertig akzeptiert wurden.
Also, dieses Gefühl ist schon sehr stark. Aber Heimat kann wirklich auch heißen, dass man Leute, die frisch dazu kommen, aufnimmt, ihnen eben eine Möglichkeit bietet, eine Chance bietet. Und dieses inkludierende Element, das wird meiner Meinung nach etwas unterschätzt. Ich nenne das Beispiel der Schweiz. In der Schweiz sind 25 Prozent der Menschen, die hier leben, Ausländer, haben keinen schweizerischen Pass. 37 Prozent der Menschen, die in der Schweiz leben, haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das heißt, mindestens ein Elternteil ist eingewandert. Das zeigt schon, dieses Gefühl, dass hier alle immer schon da waren und alle quasi auf eine riesige gemeinsame Geschichte zurückblicken, das täuscht.
Die große Leistung der Gesellschaft besteht eigentlich darin, all diese Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten gekommen sind, in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen eben eine Heimat zu bieten. Eigentlich ist das heute bei allen europäischen Gesellschaften so, dass dieser Integrationsfaktor über die letzten hundert, zweihundert Jahre eine entscheidende Rolle dafür gespielt hat, dass wir eben heute dort stehen, wo wir stehen.
Deutschlandfunk Kultur: Allerdings hat Heimat ja doch auch sehr viel mit Identität zu tun. Viele Menschen sehen ihre Identität bedroht durch Fremdes – durch fremde Menschen, die in unverständlichen Sprachen sprechen, die sich fremdartig kleiden, die vielleicht sogar fremdartig beten. – Ist ein Abwehrreflex gegen Fremdes oder zu viel Fremdes, wo immer da die Grenze liegen mag, nicht etwas zutiefst Menschliches, was man immer mit berechnen muss?

"Heimat wird gemacht durch die Menschen"

Walter Leimgruber: Das muss man immer mit berechnen und es ist auch immer da. Das ist tatsächlich so. Das, was mir absolut vertraut ist, das, was ich nicht hinterfragen muss, da, wo ich mit den Leuten ganz selbstverständlich kommunizieren kann, eben das ist mein Alltag oder dann vielleicht in einem engen Sinne auch meine Heimat.
Aber umgekehrt, es gibt keine Gesellschaft und es entsteht keine Gesellschaft, in der man sich nicht mit etwas anderem auseinandersetzen muss. Wenn ich Handel treiben möchte, muss ich mich mit dem Gegenüber auseinandersetzen. Wenn ich reisen möchte, muss ich das tun. Wenn ich Arbeitskräfte brauche, muss ich das tun.
Das heißt eigentlich, dieser gesamte Prozess, in dem wir dieses Gefühl der Vertrautheit und der Zugehörigkeit herstellen, das ist eben ein Prozess. Das ist etwas, zu dem ich aktiv beitrage. Das ist ein Element, das entwickelt werden muss. Heimat ist nicht einfach da. Heimat wird gemacht durch die Menschen, die an einem bestimmten Ort sind. Und es gibt keine Orte, die so total abgeschottet sind, dass nichts Fremdes auf sie zukommt. Manchmal ist es etwas weniger fremd, manchmal ist es eben völlig unvertraut, exotisch, wie man das nennen möchte. Aber diese Auseinandersetzung ist eigentlich ein Elixier jeder Gesellschaft.
Und ich glaube, wir müssen lernen, dass wir eben diese Prozesse der Zugehörigkeit und der Identität als etwas verstehen, das wir selber tun. Also, das ist ein aktives Handeln. Und in dem Moment, wo ich anfange mich mit all diesen Fragen auseinanderzusetzen, warum ist der etwas anderes, warum betet der anders, warum sieht der anders aus, in dem Moment fangen wir bereits an, so etwas wie Heimat herzustellen, nämlich zu fragen: Was sind die Regeln, die für diese Gesellschaft gelten? Welche Regeln wollen wir sozusagen formalisieren, also als Gesetz festlegen? Welche gelten vielleicht informell im Alltag?
Dieser Prozess passiert in allen Gesellschaften und passiert natürlich in unserer Gesellschaft mit einer relativ großen Dynamik, was die Bewegung von Menschen, aber auch von Gütern und Finanzen betrifft, sehr intensiv.
Deutschlandfunk Kultur: Aber dieser Prozess stößt ja dann auch an Grenzen, spätestens wenn es um ethische Überzeugungen und um Recht geht. Beispiel: Geschlechterrollen. Hierzulande in Deutschland halten viele Menschen den Status von Frauen in konservativ-muslimischen Milieus für eine Form von Unterdrückung und machen das unter anderem auch am Tragen des Kopftuchs fest. Andererseits empfinden manche konservative Muslime das Auftreten westlich gekleideter Frauen in der Öffentlichkeit als ziemlich liederlich. – Ist Schluss mit Multikulti, wenn es um Grundauffassungen von Recht und Moral geht?

"Ich glaube sowieso nicht, dass Multikulti in dem Sinn existiert"

Walter Leimgruber: Ich glaube sowieso nicht, dass Multikulti in dem Sinn existiert. Multikulti ist ein Zauberwort, das eigentlich sagt: Alle können so leben wie sie wollen – nebeneinander. Man muss einfach freundlich und nett miteinander sein. So funktionieren Gesellschaften nicht!
Man kann sehr offen sein. Man kann sehr tolerant sein. Man kann ganz vieles akzeptieren. Aber es geht immer auch darum, quasi festzulegen, wo Grenzen sind. Was man aber vielleicht berücksichtigen muss, nehmen wir das Beispiel der Stellung der Frau oder der Gleichstellung: Ich meine, noch vor wenigen Jahrzehnten war in genau unseren Ländern, in Deutschland, in der Schweiz die Stellung der Frau alles andere als gleichberechtigt. Die wurde juristisch diskriminiert. Die wurde auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Man hat ihr eine klare Rolle zugewiesen, zu Hause am Herd für den Mann sorgen, für die Kinder sorgen. Diese Gesellschaft selber hat einen langen Kampf hinter sich, um überhaupt zu dieser Auffassung zu kommen, die wir heute als allgemeine anschauen.
Das sehen wir in vielen anderen Bereichen. Nehmen Sie auch das Beispiel der Religion. Es ist noch nicht so lange her, da war in vielen Gegenden Europas es praktisch unmöglich, dass ein Protestant eine Katholikin heiratet oder umgekehrt. Es ist noch nicht so lange her, da waren die Priester und die Pfarrer noch die mächtigsten Männer in einem Ort, in einem Dorf. Oder nehmen wir das Beispiel der gleichgeschlechtlichen Liebe. Das wurde noch vor wenigen Jahrzehnten an vielen Orten von Gesetzes wegen verfolgt, verdammt als medizinisches Problem, moralisiert usw. Heute ist das weitgehend akzeptiert.
Was ich damit sagen will: Diese Prozesse laufen in einer Gesellschaft immer. Es ist völlig egal, ob Menschen von außen dazu kommen oder nicht. Wenn Menschen von außen dazu kommen, die völlig andere Vorstellungen haben über Geschlechterrollen, dann soll man darüber reden, dann soll man die aushandeln. Und es ist absolut legitim, dass dann eine Gesellschaft festlegt: Für uns gelten bestimmte Grenzen. Und ich denke, dann müssen diese Grenzen auch durchgesetzt werden.
Ob diese Grenzen jetzt das Kopftuch betreffen oder die Burka oder etwas ganz anderes, das ist wirklich ein Aushandlungsprozess in der Gesellschaft. Aber man sollte nicht so tun, als sei es immer das Fremde, das das Problem ist. Das Problem ist, wir selber entwickeln unser Denken weiter. Und die Gesellschaft, die wir gestern noch waren mit den Wertvorstellungen, die wir gestern noch hatten, sind wir heute längst nicht mehr.
Deutschlandfunk Kultur: In eher konservativen Kreisen wird dieses Aushandeln aber eher so verstanden, dass die Zugewanderten die Normen und Werte des sogenannten Gastlandes übernehmen müssen, so dass es also eine Einbahnstraße ist. – Sie sehen das so, dass es ein Geben und Nehmen von beiden Seiten sein sollte?

"Stellen Sie sich vor, Sie müssten morgen flüchten"

Walter Leimgruber: Ich sehe das klar als Geben und Nehmen. Erstens mal, viele dieser Menschen sind hier, weil wir sie geholt haben, nämlich um hier zu arbeiten. Und auch diejenigen, die hier sind, weil sie zum Beispiel Flüchtlinge sind, die sind hier, weil es bestimmte Rechtsvereinbarungen gibt, die nicht zuletzt unsere Länder auch durchgesetzt haben aufgrund eigener historischer Erfahrungen.
Natürlich kann man zunächst einmal auch einfordern, dass diese Menschen sich an bestimmte Regeln hier halten. Ich schlage dann immer vor: Machen Sie mal das Umgekehrte. Stellen Sie sich vor, Sie müssten morgen nach Saudi-Arabien oder Afghanistan flüchten und dann ab sofort die Regeln von dort befolgen. Ich glaube, das kann für jemanden, der eine bestimmte Grundhaltung hat, wie das jetzt zum Beispiel ein westlicher Mensch hat, praktisch nicht funktionieren.
Da tritt genau dieser Aushandlungsprozess in Gang. Ich werde vielleicht versuchen, dort bestimmte Dinge nach meinen Vorstellungen anzupassen, soweit ich das kann in einem gesellschaftlichen und politischen System. Ich werde vielleicht Niederlagen erleiden. Ich werde vielleicht auch den einen oder anderen kleinen Erfolg erzielen. Aber es ist nicht möglich, dass ich das, was mich ausmacht, was mein Denken ausmacht, von heute auf morgen nehme, wie einen Rucksack in den Schrank stelle und mir etwas Neues überziehe, das dann meine neue kulturelle Identität ist.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, als Migrant bringt man ja auch seine alte Heimat mit. Sie sehen die alte Heimat des Einwanderers nicht unbedingt als ein Integrationshemmnis, sondern als etwas, das in diesen Aushandlungsprozess eingebracht wird?
Walter Leimgruber: Das muss in diesen Aushandlungsprozess eingebracht werden. In der Schweiz sind es ein gutes Beispiel die Italiener. Die sind ab den 50er Jahren in großer Zahl hierhergekommen. Es hat in den 60er Jahren eine riesige Diskussion gegeben, ob man diese Italiener überhaupt integrieren kann. Die seien uns so fremd, das würde nicht funktionieren. Die seien alle kriminell und Messerstecher und würden unsere Frauen beleidigen und bedrohen – also ähnliche Argumente, wie wir sie von anderen Gruppen auch heute wieder hören.
Heute sind die Italiener für uns, und ich denke, das ist in Deutschland nicht so anders, quasi Lebensstilvorbilder mit ihrer Art, eben das Leben zu gestalten, mit ihrer Küche, mit ihrer Kultur. Alle wünschen sich ein Haus in der Toskana und leben diesen mediterranisierten Lebensstil. Das ist nichts weiter als eine Folge dieses Aushandlungsprozesses. Wir sind mit bestimmten Bildern in die Diskussion reingegangen und haben mit der Zeit, beide Seiten, gemerkt, dass diese Bilder einseitig sind, nicht alles erfassen und haben unsere Meinung geändert und angepasst.
Das kann man eigentlich in vielen von diesen Situationen erkennen, dass mit der besseren Kenntnis, mit dem gegenseitigen Austausch eben auch ein Prozess stattfindet des Angleichens. Wir übernehmen bestimmte Dinge. Denken Sie nur an die Küche, aber auch viele andere Dinge im Alltag. Unser Lebensstil ist ein ganz anderer geworden in den letzten Jahrzehnten. Und ich denke, wir sollten diesen Prozess als Chance, als Möglichkeit sehen und nicht als Bedrohung.
Wir sind ja nicht so schwach und es ist ja nicht so, dass wir keine eigenen Werte und Vorstellungen haben. Also bringen wir die ein, verteidigen wir die, das ist überhaupt kein Problem, aber eben in einer Auseinandersetzung unter Gleichwertigen, unter Gleichbedeutenden.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt andererseits Migrationsforscher, die finden es wichtig für das gedeihliche Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft, dass Zugewanderte sich neue Heimaten auch richtig physisch schaffen können in Form eigener, von ihrer eigenen Kultur geprägter Stadtviertel, wie wir das aus den USA kennen – China Town oder Little Italy. – Bedeutet so was nicht Ghettobildung und das Entstehen von Parallelgesellschaften?

Nicht in Zusammenhängen der Herkunftsregion hängenbleiben

Walter Leimgruber: Man muss hier vielleicht unterscheiden. Wenn bestimmte Menschen an einem neuen, völlig unbekannten Ort in einer völlig unbekannten Gesellschaft ankommen, dann können solche Orte, wo eine bestimmte Vertrautheit herrscht, durchaus hilfreich sein. Man kann sich orientieren. Man kann sich überhaupt sprachlich verständigen. Man kann mit Menschen, die schon länger hier sind, sich austauschen, was die Möglichkeiten sind, was die Probleme sind, wie eben da dieses neue Umfeld überhaupt tickt, wie es sich verhält.
Aber wenn das ein Zustand wird, der über diese Anfangsphase hinausgeht, wird es meistens ein Problem. Ich glaube nicht an all diese Theorien, dass die Leute sich da zusammenschließen sollten. Wir haben das in vielen Einwanderungsnationen. Wir haben das in den USA, in Kanada usw. Was man aber überall sieht, ist: Dort, wo es gelingt, aus diesen quasi Ghettos oder Zusammenschlüssen rauszukommen, funktioniert die Gesellschaft auf eine wesentlich einfachere und bessere und offenere Art als dort, wo diese Ghettos bestehen bleiben.
Denn diese Ghettos führen eigentlich in ganz vielen Fällen dazu, dass eben auch keine Chancengleichheit gegeben ist, dass keine Aufstiegsmöglichkeiten gegeben sind – einerseits, weil diejenigen, die ankommen, zu sehr in den Zusammenhängen ihrer Herkunftsregion hängenbleiben, auf der anderen Seite dass die anderen, die Mehrheitsgesellschaft sich auch überhaupt nicht um diese Leute kümmert. Das Endresultat sieht dann – etwas drastisch gesagt – häufig aus wie eine französische Vorstadt, nämlich Hoffnungslosigkeit, Abhängigkeit von Sozialhilfe, keine Perspektiven.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt als einen positiven Heimatbegriff, der nicht ausgrenzt, der auch nicht zu Ghettobildung führt?
Walter Leimgruber: Ja, das würde ich dezidiert bejahen. Heimat ist nicht etwas, das quasi mich überwältigt. Heimat ist etwas, das ich herstelle. Heimat kann es nur geben, wenn ich mich aktiv an diesem Prozess beteilige. Es sind die Menschen, die bestimmen, was die Bedingungen sind, unter denen sie als kleine Gruppe in Familiengröße, als regionale Gruppe, aber auch als sehr große Gruppe, wie sie leben wollen, wie sie ihren Alltag gestalten wollen.
Das heißt, Heimat ist das, was wir daraus machen. In dem Sinne sehe ich Heimat als etwas Positives. Es ist unsere Aufgabe, eine Umgebung zu gestalten, in der sich möglichst viele Menschen, im Idealfall alle Menschen wohl fühlen, in der möglichst viele Menschen sich wiedererkennen, das Gefühl haben, akzeptiert zu sein, das Gefühl haben, in ihrer Identität, wenn man das so nennen will, nicht bedroht zu sein.
Und es gelingt ja auch in vielerlei Hinsicht. Viele von uns leben in Umgebungen, von denen sie nicht das Gefühl haben, dass sie sie ausschließlich bedroht oder ausschließt oder ihre Identität zerstört. In dem Sinne würde ich meinen, Heimat ist ein Aneignungsprozess. Wir sollten es aktiv nutzen, um die Welt so zu gestalten, wie wir sie eben gerne hätten.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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