Renaissance des Gedruckten

Der schnelle Trost der Bücher

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Eine Illustration zeigt ein Paar beim lesen auf dem Sofa vor einem Bücherregal.
Neben dem erzwungenen Verzicht auf Flugreisen bringt Corona einen zumindest kurzfristigen Nutzen mit sich: wiederentdeckte Lesefreude. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Eine Betrachtung von Michael Schikowski · 09.04.2021
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In persönlichen Krisen – genauso wie in globalen – greifen wir auf alles zurück, was uns Halt verspricht. Selbst dicke Bücher werden nun plötzlich durchgelesen. Der Bücher-Boom wird aber nicht von Dauer sein, meint der Publizist Michael Schikowski.
Mein Bruder hat auf einem unserer gemeinsamen Spaziergänge erzählt, er habe die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen gelesen. "Na, reingesehen oder reingelesen hat er", dachte ich zuerst. Aber nein – er hat sie komplett gelesen. Alle drei Bände!
Wo wir früher reingelesen haben, da lesen wir nun durch und reden lange drüber. Geht etwa vom Lesen eine Heilserwartung aus? Nein, kein Heil nur Halt. Die Unterscheidung von "Fließmedien" und "Haltemedien" mag helfen, das zu erläutern: Fließmedien sind all diejenigen, die verflackern und verrauschen, die vergehen, und deren Vergehen wir uns lustvoll anschließen, da Streuung uns zerstreut.

Lesefreude als Kollateralnutzen

Haltemedien sind schlicht das Gegenteil. Ein Buch. Es liegt da. Sogar blättern muss man selbst. In persönlichen Krisen – genauso wie in globalen – greifen wir auf alles zurück, was uns Halt verspricht, auf bewährte Verhaltensweisen, auf eingeschliffene Muster und etablierte Strukturen. Kurzum: Bücher.
Das werden die Buchhändler uns – und wir den Büchern – eine längere Zeit nicht vergessen. Und über eine weitaus längere Frist, als sie ohne Corona zu erwarten wäre, werden wir es mit Lese- und Buchkauffreude danken. Neben dem erzwungenen Verzicht auf mancherlei, wie Flugreisen, wäre das ein weiterer Kollateralnutzen, den Corona mit sich gebracht hat.
Bevor aber nun der Himmel unserer Bildungsbestrebungen voller Geigen hängt, weil er voller Bücher steht, kann man leider doch fühlen, dass diese wohlig warme Oberströmung eine tiefe und eiskalte Unterströmung in die Gegenrichtung verdeckt. Frieren wir nicht schon längst an den Füßen? Wird Kultur nicht schon seit Jahrzehnten kontinuierlich abgebaut?

Ist der Kulturmarkt an seiner Expansion gescheitert?

Dass Nachfrage nicht nur den Preis bestimmt, sondern über den Preis hinaus auch das Angebot, seine Inhalte und Genres, ist bekannt. Die Kunstwerke der Hochkultur – Sachen von Bach bis Bartok und von Dostojewski bis Ditlevsen – verdanken ihren Erfolg der seit den 1950er-Jahren ansteigenden Nachfrage. "Tja", heißt es nun, die Nachfrage lasse gerade sehr nach! Richtig geprüft wird das natürlich nicht, der bloße Eindruck reicht.
Man könnte diesen Mechanismus ein "Scheitern am eigenen Erfolg" nennen. Das gleichzeitig massenhafte Auftreten von Medien und allgemeiner Kulturnachfrage – Kino ab den 1920ern, Theater in den 1960ern, Museen und Ausstellungen ab den 1970ern und Buchhandlungen mit enorm gewachsenen Flächen ab den 1980ern – hat eben auch Konjunkturritter angelockt, die merkten, dass sich mit Hochkultur und Hochgefühl nicht nur einiges verdienen ließ, sondern dass für sie zugleich ein erheblicher Statusgewinn abfällt.

Kultur ist heute ein persönliches Karriererisiko

Nun aber erscheint Kultur längst als allgemeiner Moderneverlierer und daher als persönliches Karriererisiko. Der kulturelle Bestand, der ja immer nur zunahm, wird zum faktischen Problem. Erhalten als etablierte Berufung wandelt er sich zum Aushalten als beschämende Belastung.
Doch nun sind gerade Buchhandlungen in Kleinstädten und den Außenvierteln der großen Städte die ebenso überraschenden wie überraschten Gewinner der Coronakrise.
Waren sie zuvor nicht von den dominant auftretenden Branchenriesen der Buchbranche zum Auslaufmodell erklärt worden? Also genau von jenen Leuten, die den freien Markt zur Marktstilllegung benutzen und nun – leicht hysterisch – nach dem Staat zur Rettung ihrer öden Einkaufsstraßen und plastikartigen Einkaufsmalls rufen?
Wie in einem globalen Großversuch, den sich ein Dialektiker wie Dostojewski ausgedacht haben könnte, können wir derzeit die Renaissance des Ich erleben – erfahrbar in der Abwesenheit des Wir! Zur goldenen Zeit der Romane und Zeitungen wurde sehr viel gelesen. Gab es damals einfach bessere Bücher? Waren das kulturell beflissenere Menschen?
Nein, draußen war einfach nix los. Wie jetzt.

Michael Schikowski ist als freier Verlagsvertreter tätig, publiziert zu Büchern und Buchkultur. Zuletzt gründete er den Mülheimer Literaturclub in Köln. Auf www.immer-schoen-sachlich.de – ursprünglich ein Sachbuch-Blog –, veröffentlich er regelmäßig Ansichten zur Literatur.

Publizist und Verlagsmanager Michael Schikowski 
© Privat
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