Religionswissenschaft und Geschlechterforschung

Gegen die männliche Deutungshoheit

12:08 Minuten
Regenbogen Fahnen im Vordergrund. Dahnter ist verschwommen der Kölner Dom zu sehen.
Kirche und progressives Denken. Passt das zusammen? © imago images / CHROMORANGE
Ulrike Auga im Gespräch mit Thorsten Jabs · 08.03.2020
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Die Geschlechterforschung untersucht, wie sich Vorstellungen von „Geschlecht“ herausbilden – und welche Machtwirkungen das hat. Diese kritische Perspektive auf Geschlecht gehört auch in die Religionswissenschaft, sagt die Theologin Ulrike Auga.
Thorsten Jabs: Der internationale Frauentag ist Anfang des 20. Jahrhunderts als ein Ausdruck des Kampfes für die Gleichberechtigung entstanden. Dieser Kampf ist noch lange nicht vorbei, denn auch im 21. Jahrhundert werden Männer oft besser bezahlt und sitzen in Politik und Wirtschaft auf den wichtigsten Posten. In Religionsgemeinschaften ist das noch extremer, denn oft dürfen Frauen bestimmte Ämter gar nicht ausüben, zum Beispiel in der katholischen Kirche. Dabei geht es heutzutage nicht mehr nur um die biologische Unterscheidung zwischen Frau und Mann. Darüber spreche ich mit Ulrike Auga, Professorin für evangelische Theologie, Geschlechterstudien und Religionswissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Tag, Frau Auga!
Ulrike Auga: Guten Tag!

Deutungshoheit in Religionen ist männlich

Jabs: Frau Auga, ist die Macht und damit die Deutungshoheit in Religionen – allen voran die großen Religionen Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus – vor allem männlich?
Auga: Da muss ich erst einmal zustimmen, mit einem kräftigen Ja. Die Schriften, der Kanon, die Tradition, die Auslegung sind männlich. Aber natürlich ist es so, dass immer schon Frauen auch eine Rolle in den Religionen spielten, aber ihre Anwesenheit wurde in den Überlieferungen verschleiert und wird daher erst nach und nach aufgedeckt. Deshalb sprechen wir davon, dass wir die Schriften gegen den Strich lesen, wie das zum Beispiel Elisabeth Schüssler Fiorenza angeregt hat.
Jabs: Was heißt das, gegen den Strich lesen?
Auga: Dass, wie es zum Beispiel in der Bibel in gerechter Sprache getan wird, nachgesehen wird, wo kommen Frauen vor, wo sind sie nicht mitgenannt oder wo sind, wenn sozusagen nur ein männliches Wort dort steht, eigentlich Frauen auch mitgemeint. Also wenn dort Apostel übersetzt wurde, sind da nicht eigentlich auch Apostelinnen und Apostel gemeint.

Geschlecht und Religion zusammen betrachten

Jabs: In den Gender Studies, also Geschlechterstudien, geht es ja nicht mehr nur um die strikte geschlechtliche Zweiteilung Frau und Mann. Was bedeutet das für die Religionswissenschaft?
Auga: Die Kategorie Geschlecht in den Geschlechterstudien geht nicht mehr nur von einer Einteilung in Frau und Mann aus, sondern sagt, Geschlecht ist eine diskursive Kategorie. Das heißt, Geschlecht wird performativ hergestellt, wie das zum Beispiel Judith Butler erklärt hat. Es gibt nicht nur kein kulturell vorgeordnetes Geschlecht, sondern es gibt auch kein vorgeordnetes biologisches Geschlecht. Der Biologie Heinz-Jürgen Voß hat zum Beispiel gezeigt, dass es eine Vielzahl von biologischen Geschlechtern gibt.
Wenn das dann so ist, hat das auch Auswirkungen auf alle anderen Wissenschaften oder sollte es haben – und spielt auch eine Rolle in der Religionswissenschaft. Deswegen zum Beispiel bin ich schon seit vielen Jahren Mitglied in der International Association for the Study of Religion and Gender, wo also verschiedene Disziplinen zusammenkommen, sei es aus der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Geschichte und anderen, die sagen, Geschlecht und Religion wirken beide so stark auf die Wissensproduktion ein und müssen also miteinander betrachtet werden. Jetzt ganz aktuell ist auch die deutsche Gesellschaft für Religionswissenschaft dabei, eine neue Forschungsgruppe für Geschlechterstudien innerhalb der Religionsforschung zu etablieren.

"Wissen ist immer Machtwissen"

Jabs: Sie verbinden in Ihrem Buch "Epistemology of Religion and Gender" – auf Deutsch: "Eine Erkenntnistheorie von Religion und Geschlecht" – Geschlechterstudien und Religionswissenschaft. Sie beschreiben beides als Kategorien von Wissen. Gibt es denn Religionen, die dieses Wissen auch anwenden oder lehnen die meisten das eigentlich kategorisch ab?
Auga: In der dekonstruktivistischen Forschung verstehen wir Geschlecht als eine Kategorie der Analyse, aber noch viel mehr auch als eine Kategorie der Wissensproduktion. Es wird also untersucht, wie ein Wissen von Geschlecht hergestellt wird und damit Macht ausgeübt wird. Wissen ist immer ein Machtwissen, es gibt kein machtneutrales Wissen. Wissen über Geschlecht wird diskursiv hergestellt. Und was ich jetzt zeige, ist, dass auch das Wissen über Religion diskursiv hergestellt wird. Das heißt, die Wirkmächtigkeit sowohl von Geschlecht als auch von Religion ist größer als die einer sozialen Kategorie. In der Vergangenheit haben wir immer die sozialen Kategorien betrachtet, und jetzt wollen wir tatsächlich schauen, wie entsteht Machtwissen im Zusammenhang der Diskurse.
Eine Frau mittleren Alters, im schwarzen Blazer, mit Perlenkette und blondem Haarknoten, schaut versonnen an der Kamera vorbei.
Die Theologin und Geschlechterforscherin Ulrike Auga.© Privatarchiv Ulrike E. Auga
Ich kann vielleicht ein Beispiel nennen: Sehr wichtig war das Buch der Wissenschaftlerin Tomoko Masuzawa, die erklärte, wie der Begriff der Religion in Abgrenzung zur Säkularität aufkommt. Sie spricht von "imagined religions" und bezieht sich damit auch auf die dekonstruktivistische Nationenforschung. Diese zeigt auf, wie ‚Nation‘ eigentlich erst als ein Begriff in der Debatte erfunden wurde, wie diesem eine naturalisierte Wesenheit verliehen wurde und das dann zum Einschluss oder Ausschluss diente. Das zeigt Masuzawa in Bezug auf den Begriff Religion.

Geschlechterbewusster Aktivismus

Jabs: Hat das denn auch Einfluss auf gelebte Religion? Ist das nur Wissenschaft oder benutzen die Menschen dieses Wissen dann auch, dass es nicht mehr nur um Mann und Frau geht, sondern um Geschlecht allgemein?
Auga: Es gibt in den verschiedenen Religionsgemeinschaften ja immer dominante Diskurse, die sehr patriarchal sind, aber auch widerständige Diskurse, und innerhalb von diesen Widerständen gibt es dann immer aktivistische Gruppen. Das waren früher häufig Frauengruppen, dann haben sie sich aber geöffnet hin zu einer Diversität von Geschlecht. Insofern kann man sagen, es gibt eine geschlechterbewusste Theologie, aber auch einen geschlechterbewussten Aktivismus. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch weltweit.
Jabs: Gibt es da dann wiederum eine Gegenbewegung, also eine fundamentalistische Bewegung, die das alles ablehnt und sagt, nein, wir wollen das alles lieber in Frau-und-Mann-Kategorien lassen?
Auga: Ja, wir erkennen das überall auf der Welt, dass es fundamentalistische Strömungen gibt in der gleichen Zeit, in der es emanzipatorische Strömungen gibt. Es hat sich also so entwickelt, dass wir in allen Religionen derzeit ein Aufkommen von fundamentalistischen Strömungen haben, aber gleichzeitig gibt es auch neue Aktivismen und neue Allianzen von Aktivistinnen und Aktivisten.

Queeres Kirchenverständnis

Jabs: Fühlen sich denn Aktivistinnen und Aktivisten in manchen Religionen auch ernstgenommen, wahrgenommen oder einbezogen in die Religionsgemeinschaft?
Auga: Es gibt verschiedene widerständige Gruppen. Als Beispiel für avancierte geschlechterbewusste oder auch queere Theorien kann man zum Beispiel die Metropolitan Community Church nennen. Das ist eine queere Kirche, die schon vor vielen Jahren wegen der Ausgrenzung in den USA entstanden ist. Sie existiert inzwischen auch weltweit und kümmert sich insbesondere um queere Familien und ihre Freundinnen. Man kann auch sehen, dass es durch den Aktivismus überhaupt auch eine Veränderung in der Sichtweise gegeben hat.
Ich möchte noch ein weiteres Beispiel nennen: Zum Beispiel hat die muslimische Anthropologin Saba Mahmood schon im Jahr 2005 eine Graswurzel-Frömmigkeitsbewegung in Kairo untersucht. Und in ihrem Buch "Politics of Piety", also "Politiken der Frömmigkeit", konnte sie zeigen, dass Religion auch ganz anders verstanden werden kann, als es in westlicher Sicht geschieht, nämlich im Zusammenhang mit der Suche nach Handlungsmacht und menschlichem Blühen. Also Mahmood hat dazu beigetragen, dass es eine veränderte Perspektive gibt. Jetzt werden Subjektformation, Handlungsmacht und menschliches Blühen als ein wichtiger Ansatz gesehen, der auch in religiösen Bewegungen vorkommen kann. Hier hat man sozusagen aus dem Aktivismus, aus der Frömmigkeitsbewegung gelernt und hat das dann zurückgetragen in eine andere Theoretisierung der Schnittstelle von Geschlecht und Religion.

Konservative vs. emanzipatorische Strömungen

Jabs: Wie sieht das zum Beispiel im Christentum aus oder im Judentum oder im Islam? Da wird so eine Denkrichtung doch meistens eher abgelehnt, oder?
Auga: In allen Religionen gibt es dominante, konservative Diskurse oder Strömungen, und gleichzeitig gibt es auch immer emanzipatorische Strömungen. Das gilt für das Christentum, für das Judentum, aber auch für den Islam. Deswegen arbeiten wir heute zusammen mit Feministinnen und geschlechterbewussten Kreisen aus dem Islam, aus dem Judentum und aus anderen religiösen Kontexten und versuchen, in diesen prekären Zeiten, in denen es solche fundamentalistischen Rückschläge gibt, Allianzen für die Sicherung einer solidarischen Gesellschaft zu schließen.

Geschlechterhierarchie im Dienst des Nationalismus

Jabs: Fundamentalistische Strömungen gibt es ja auch in der aktuellen Politik zu beobachten, vor allem in der rechtspopulistischen Politik. Warum sehen diese Gruppen Geschlechterforschung als Bedrohung?
Auga: Diese rechten Gruppen und rechten religiösen Gruppen argumentieren so, als gäbe es nur eine Binarität von Geschlecht – wovon wir ja genau gesagt haben, dass das biologisch und auch humanwissenschaftlich nicht haltbar ist. Sie meinen, dass die vermeintlich gottgewollte heterosexuelle Ordnung durch die Geschlechterforschung gestört werde. Eine naturalisiert vorgestellte und hierarchische symbolische Geschlechterordnung steht im Zentrum solcher nationalistischen Vorstellungen und die individuelle Reproduktion wird in Verbindung mit der Reproduktion des möglichst – in Anführungsstrichen – "reinen Volkskörpers" gesehen. Daher werden Einschluss und Ausschluss stark überwacht.
Also noch mal: Geschlecht wird naturalisiert, ausschließlich männlich oder weiblich verstanden, und das binäre Verständnis dient dann der Herstellung und Begründung der Hierarchie "männlich über weiblich". Deswegen haben wir also in konservativen Gruppen, in der AfD, bei den "Christen in der AfD", höchst konservative Familienvorstellungen, die hier mit nationalistischen Ideen verbunden werden.

Breite Allianzen gegen Fundamentalismus

Jabs: Glauben Sie, dass sich das in den nächsten zehn, zwanzig Jahren auch durch Geschlechterforschung verändern wird, oder glauben Sie, dass die fundamentalistischen Kräfte in Religionen oder in solchen politischen Gruppen doch so stark und auch so starr bleiben, dass sich da eher wenig ändern wird?
Auga: Wir schließen jetzt sehr breite Allianzen, um uns zur Wehr zu setzen gegen rechte Rückschläge, und wir tun das auch weltweit – auch zwischen Menschen, die glaubensbasiert sind, und Menschen, die atheistisch sind. Ich glaube, das ist jetzt das, was wir tatsächlich neu tun müssen. Wir müssen uns darauf besinnen, was wir machen wollen, wie wir eine solidarische Gesellschaft herstellen wollen. Der Frauentag ist ja ein Ort, der dazu aufruft, fair die Welt zu verändern. Ich denke, ein gemeinsames Ziel mit der neuen ökologischen Bewegung ist, dass – wie zum Beispiel der Film "2040" gezeigt hat, der im letzten Jahr bei der Berlinale lief – wir eine gerechtere Welt nur herstellen können, aber auch die Welt nur retten können, wenn das Geschlechterproblem gelöst wird.

Ulrike E. Auga: "An Epistemology of Religion and Gender"
Routledge-Verlag, April 2020
360 Seiten

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