Warum "Unberührbare" zum Buddhismus konvertieren
Immer wieder finden freiwillige Massenübertritte statt: Im hinduistisch dominierten Indien wechseln Mitglieder der benachteiligten Dalit zum Buddhismus. Der gilt als Ausweg aus Unfreiheit und Ablehnung, die ihnen die hinduistische Gesellschaft täglich aufbürdet.
Indien, Mumbai, in einer Werkstatt im Stadtteil Andheri-East. Welche Statue unter den Hammerschlägen von Servan Kumar gerade entsteht, lässt sich noch nicht erahnen. Unter einem großen Wellblechdach stehen bereits zahlreiche fertige Statuen und Büsten, modelliert aus Ton, Plastikfaser oder Metall. Sieben bis 15 Handwerker formen hier täglich die Helden der indischen Geschichte. Am häufigsten sind der Feldherr Shivaji und der Sozialreformer Bhimrao Ramji Ambedkar vertreten. Servan Kumar klopft mit seinen Fingerknöcheln auf eine der Figuren
Ein Sozialreformer als großes Vorbild
Das ist Ambedkar aus Metall, sagt er. Die Statue des Sozialreformers ist überlebensgroß und zeigt einen Mann, der unter dem linken Arm ein Buch trägt, während sein ausgestreckter rechter Arm und Zeigefinger nach vorne weisen. Die Denkmäler zu Ehren des Sozialreformers, der oft respektvoll Babasaheb genannt wird, sind auf vielen Plätzen und Straßenkreuzungen indischer Städte weithin sichtbar – und werden gerne mit Blumen geschmückt.
Babasaheb Ambedkar gilt in Indien als ein großes Vorbild. Als erster Justizminister des unabhängigen Indiens arbeitete er 1947 die Verfassung der neugeborenen Nation mit aus. Vor allem aber teilte er mit 160 Millionen anderen Indern ein Schicksal. Er gehörte einer Kaste an, die von der indischen Gesellschaft als "unrein" herabgewürdigt und ausgegrenzt wird: den Dalit. Der Jurist und Ökonom entwickelte sich zu ihrem politischen Führer und wird bis heute für sein Wirken verehrt.
Joseph T. Mundananikal unterrichtet Soziologie an der Universität von Mumbai. Er erklärt, warum die Publikationen und das Wirken Babasaheb Ambedkars eine so große Wirkung hatten:
"Er war der Erste, der das Kastenproblem aus einer völlig anderen Perspektive betrachtete. Babasaheb analysierte das Kastensystem erstmals aus der Perspektive von jemandem, der selbst zum niedrigsten Stand gehört, der ganz unten steht. Seine Bedeutung besteht darin, dass er das Problem benannt und angepackt hat, während alle anderen nur kosmetische Korrekturen vorgenommen haben."
Mit starken Argumenten gegen die Priesterklasse
In seiner Schrift "Die Abschaffung des Kastensystems" aus dem Jahr 1936 stellte Babasaheb fest: Jeder Hindu, der seine Religion praktiziere, übe auch Unberührbarkeit aus, weil sie unweigerlich zum Hinduismus gehöre. Nur wer die Autorität der religiösen Schriften, der Veden und die Macht der Brahmanen, der Priesterklasse, zerschlage, könne das Kastensystem abschaffen. Auf welche Art und Weise Babasaheb diesen Kampf führte, erklärt der Soziologe Mundananikal:
"Babasaheb ist wichtig, weil er gewaltlos war. Er hat nie eine Menschenmenge aufgehetzt. Er hatte starke Worte, sehr starke Argumente und hat sich immer die Argumente der anderen Seite angehört. Er hat verhandelt und war allen Meinungen gegenüber offen. Er äußerte seine Meinung unverblümt und sehr klar. Aus diesem Grund war er ein Demokrat."
Babasaheb Ambedkar widmete sich schon früh den Belangen der Unterprivilegierten, die von der hinduistischen Gesellschaft "Unberührbare" genannt wurden. Allerdings verwandte er den Begriff "Dalit", was soviel wie die "Gebrochenen" bedeutet, weil dieser eine Eigenbezeichnung ist und gleichzeitig eine kämpferische sowie politische Komponente enthält.
Als Ambedkar im Jahr 1947 – damals galt er bereits als politischer und geistiger Führer der Dalit – die indische Verfassung mit konzipierte, gelang es ihm, darin einige Punkte im Sinne der Dalit zu verankern, etwa die Abschaffung der "Unberührbarkeit". Gleichzeitig musste er allerdings erkennen, dass die hinduistische Elite niemals eine soziale, wirtschaftliche und politische Gleichstellung der Dalit zulassen würde. Also fasste er den radikalen Entschluss, diese Religion hinter sich zu lassen.
Befreiender Übertritt zum Buddhismus
Auf dem Weg zum Ambedkar-Denkmal Chaitya Bhoomi im Stadtteil Dadar fällt bereits von weitem das hohe und mit zahlreichen Figuren verzierte Tor auf. Im Buddhismus bedeutet Chaitya soviel wie Schrein oder Gebetshalle und Bhoomi bedeutet Land. Chaitya Bhoomi ist ein Ort, der von Anhängern Babasaheb Ambedkars besucht wird. Der 28-jährige Tejas Bhavar sitzt mit seinen Eltern auf einer Bank und erklärt, warum seine Familie immer wieder hierherkommt:
"Ich schätze mich sehr glücklich und fühle mich mit diesem Ort tief verbunden. Wir haben hier gelernt, dass uns die Hindus früher wie Tiere behandelt haben. Inzwischen geht es uns viel besser."
Das Mikrofon hat einige Besucher angelockt, sie hören neugierig zu. Eine etwa 30-jährige Frau in Jeans möchte etwas zu dem Thema sagen:
"Er hat den Armen und Unterprivilegierten dabei geholfen, aufzuwachen und etwas Großes in ihrem Leben zu machen, ihr Ziel zu erreichen, sich zu bilden und Erfolg in ihrem Leben zu haben."
Im Jahr 1936 erwähnte der Sozialreformer das erste Mal die Möglichkeit einer Abkehr vom Hinduismus. Intensiv beschäftigte er sich mit Buddhismus, Christentum und Islam – ausschlaggebend war für ihn dabei das Befreiungspotential der jeweiligen Religion. Im Oktober
1956 setzte er dann ein Zeichen, das bis heute wirkt: In der zentralindischen Stadt Nagpur fand eine große Zeremonie statt und Babasaheb trat mit weiteren 500.000 Dalit zum Buddhismus über. Nur wenige Monate nach seinem Übertritt, im Dezember 1956, starb Babasaheb an Diabetes. Hier, in Chaitya Bhoomi, liegt seine Asche.
Ein Denkmal unter einer weißen Kuppel
Das Denkmal ist quadratisch angelegt und trägt eine Kuppel – alles in weiß. Der Boden ist aus Marmor. Eine kreisrunde Mauer, eineinhalb Meter hoch, grenzt den Bereich ab, in dem die Büste von Babasaheb und die Statue von Gautama Buddha stehen. Die Besucher verharren vor dem Schrein, stehend, kniend, manche werfen sich nieder, aber immer sind sie still.
Der Mönch Badanta Dhamarakshit sitzt auf einem Absatz gleich neben dem Eingang zum Schrein. Er trägt eine orangefarbene Robe und spricht vom achtfachen Pfad des Buddhismus:
"Um sich von seinen Sorgen zu befreien, muss man den acht Prinzipien folgen. Nur derjenige, der den achtfachen Pfad kennt, wird nichts Schlechtes tun. Nur Menschen, die Schlechtes tun, haben Sorgen, diejenigen, die Gutes tun, haben keine."
Als Ambedkar zum Buddhismus übertrat, machte er allerdings klar, dass er weder dem Mahayana noch dem Theravada-Buddhismus folgen würde. Durch seine Reflektionen und umfangreichen Schriften, beispielsweise durch sein Werk "The Buddha and his Dhamma", gründete er eine neue Form des Buddhismus, mit einem eigenen Namen: den Navayana oder Neo-Buddhismus.
Sozial engagierter Neo-Buddhismus
Der Soziologe Mundananikal erklärt, was das Besondere daran ist:
"Die meisten Menschen denken, dass im Buddhismus eine starke Dosis Weltabgewandtheit enthalten ist. Sie denken dabei an den Dalai Lama oder an Mönche. Das ist das gängige Verständnis vom Buddhismus. Sozial engagierter Buddhismus präsentiert eine andere Art des Buddhismus, und zwar eine bestimmte religiöse und soziale Ethik, die uns in der Gesellschaft aktiv werden lässt."
Eine Bibliothek im Stadtteil Ramabai Nagar Ghatkopar. Raja Dhale trägt eine Kurta und sitzt zwischen eindrucksvollen Bücherwänden. Der heute 78-Jährige ist ein Gründungsmitglied der "Dalit Panther", einer sozialen Organisation, die sich 1972 mit dem Ziel gründete, gegen Kastendiskriminierung zu kämpfen. Der weißhaarige Mann lächelt verschmitzt:
"Wir haben gegen die höheren Kasten gekämpft, die arrogant waren und Gräueltaten an uns verübten. Wir haben unsere Gemeinschaft versammelt, um ihr Bewusstsein zu sensibilisieren."
Solidarische Lebensweise ohne Gott
Dhale liest viel, studiert, fährt über die Dörfer des Bundesstaats Maharastra und klärt dort im Sinne Babasahebs auf. Ihre aktivste Zeit hatten die Dalit Panther in den 70er- und 80er-Jahren:
"Die Dalit wollten freie Menschen werden, frei von allen Fesseln. Alle Religionen waren uns Dalit gegenüber betrügerisch. Im Namen Gottes haben sie so viele schlimme Dinge mit uns gemacht. Deshalb wollen wir keine Religion mehr."
Der Aktivist versteht den Buddhismus wie Ambedkar nicht primär als Religion, sondern als solidarische Lebensweise, ohne einen Gott. Raja Dhale hat bei seinen Studien rund 12.000 Bücher zusammengetragen. Er möchte das Wissen, das sein Leben verändert hat, an andere weitergeben und hat diese Bibliothek hier aufgebaut. Babasaheb Ambedkar, sagt er, habe ihn zu einem Menschen gemacht. Und:
"Es ist ein großer Kampf. Wir leiden seit die Menschheit den Hinduismus erfand. Und jetzt haben wir gewonnen."
Weniger optimistisch liest sich das Datenblatt der WGHR, einer indischen Menschenrechtsorganisation, aus dem Jahr 2017. Das Papier spricht von 188.991 Verbrechen gegen Dalit, die als Rechtsfälle bei Gericht vorliegen. Und die Verbrechen nehmen von Jahr zu Jahr zu. Auch was Bildung und Beschäftigung betrifft, schneiden Dalit noch immer schlecht ab. 51,2 Prozent von ihnen arbeiten als Gelegenheitsarbeiter, obwohl die Regierung Quoten für Dalit eingerichtet hat. Der Soziologe Mundananikal erklärt:
"Der soziale Status der Dalit ist eine komplexe Angelegenheit. Denn auch, wenn du konvertierst, heißt das noch lange nicht, dass dir andere einen besseren Status zubilligen. Aber der Übertritt gibt dir ein anderes Gefühl deiner selbst. Eleanor Zelliot, die erste Forscherin, die sich mit der Bewegung des Neobuddhismus auseinandergesetzt hat, sprach von einem Gefühl von Vertrauen, das die Dalit vorher nicht hatten."
Schätzungen zufolge leben in Indien 10 Millionen Buddhisten, davon gehören rund zwei Millionen Menschen der Bewegung Ambedkars an. Tendenz steigend: Im September 2017 etwa konvertierten im Bundesstaat Gujarat 300 Dalit zum Buddhismus. Und die indische Politikerin Mayawati, der Bahujan Samaj Partei, die sich für die Interessen der Dalit einsetzt, warnte im Dezember 2017 davor, dass sie mit ihren Anhängern zum Buddhismus übertreten werde, sollte die Regierungspartei BJP und deren Kaderorganisation RSS nicht endlich die ständigen Diskriminierungen einstellen.
Polit-Karriere nach Ambedkars Beispiel
Udit Raj sitzt in seinem Haus in Neu-Delhi auf einem großen Sofa, in dem er fast zu versinken scheint. Sein Telefon steht selten still. Der 57-Jährige sitzt für die hindunationalistische Regierungspartei BJP im Parlament und ist Vorsitzender der All India Confederation of SC/ST, einer Organisation, die sich für die Dalit und die indigene Bevölkerung Indiens einsetzt. Den Widerspruch, dass er als Dalit einer Partei beigetreten ist, die die Ideologie der brahmanischen Kaste propagiert, erklärt er so:
"Ich wollte bis ins Parlament aufsteigen, Dr. Ambedkar hat uns das vorgemacht. Dr. Ambedkar stand dem Kongress sein Leben lang kritisch gegenüber. Sein Hauptanliegen, ein separates Wahlrecht für Dalit, wurde 1932 abgelehnt. Trotzdem hat er sich dem Kongress angeschlossen, ist Minister geworden und arbeitete die indische Verfassung mit aus. Warum er sich mit Hilfe des Kongresses ins Parlament wählen ließ? Weil er seine Anliegen einbringen wollte. Für Unberührbare, für Frauen, für die Armen. Ich bin denselben Weg gegangen."
Auch am 4. November 2001 trat Udit Raj in die Fußspuren von Babasaheb Ambedkar. Auf dem Ramlila Ground in Delhi konvertierte er mit mehreren Tausend seiner Anhänger zum Buddhismus. Denn:
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen größeren Terroristen als Gott geben kann."
Harte Worte, die der Politiker da ausspricht, die aber angesichts der erlebten Gewalt gegen seine Gemeinschaft nachvollziehbar sind. Udit Raj steht auf, verlässt sein Wohnhaus und geht zu seinem nahegelegenen Büro. Sobald er sich bewegt, umringt ihn ein Tross von Menschen.
Neben seinem Büro befindet sich ein kleiner Versammlungsraum. Dort sitzen rund 25 Frauen auf Plastikstühlen. Auf dem Kopf tragen sie Hüte, auf die das Emblem der All India Confederation gedruckt ist. Udit Raj erkundigt sich, wer gekommen ist und wie es den Anwesenden geht. Dann beginnt er, Organisatorisches für seine Partei zu besprechen.
Zwischendurch erklärt er den Sinn des Treffens:
"Sie kommen hauptsächlich aus verfolgten Gemeinschaften. Sie gehören den Dalit, der indigenen Bevölkerung und den unteren Kasten an. Wir festigen hier unsere Ideologie: Gleichheit, Freiheit und Wahlmöglichkeit."
Udit Raj hört den anwesenden Frauen zu. Er ist aufmerksam und zugewandt. Mit einer Mischung aus sozial gelebten Buddhismus und politischem Engagement führt er die Ideen von Babasaheb Ambedkar fort – denn auch über 60 Jahre nach dessen Tod bleiben viele Gruppen in der indischen Gesellschaft stark benachteiligt.