Religionsfreiheit im Schulalltag

Leonie Mader im Gespräch mit Dieter Kassel · 12.09.2013
Im Schulalltag der 18-jährigen Gymnasiastin Leonie Mader aus Berlin-Friedrichshain kommt es selten vor, dass Mitschülerinnen an gewissen Sportarten oder Events nicht teilnehmen. Das Fasten oder Kopftücher seien häufiger Thema, aber auch wenn es Diskussionen gebe, landeten solche Fälle eigentlich nicht vor Gericht.
Dieter Kassel: Es ging um ein 13-jähriges Mädchen, das aus Marokko stammt und in Frankfurt am Main zur Schule geht. Die Religion verbiete diesem Mädchen am Schwimmunterricht teilzunehmen, weil der Anblick von männlichen Mitschülern in der Badehose nicht zumutbar sei. Das meinte ihr Vater, und weil die Schule in Frankfurt das anders gesehen hat, zog dieser Vater vor Gericht. Zunächst in Hessen, wo er in mehreren Instanzen verloren hat, und dann zog er vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dieses Gericht urteilte gestern, der gemeinsame Schwimmunterricht ist dem Mädchen zuzumuten. Das Tragen eines Burkini - also eines Schwimmanzugs, der nur Augen, Mund und Füße freilässt - sei ein ausreichender Kompromiss.

Und wie immer nach solchen Urteilen wird viel diskutiert. Juristen, Pädagogen, Islamwissenschaftler äußern sich. Wir haben in unserem Programm auch schon mit einer Lehrerin gesprochen, einer Hauptschullehrerin, wie sie das sieht. Aber es gibt ja schon noch eine weitere Personengruppe, die von diesem Problem, so es denn ein so großes wirklich ist, eigentlich betroffen sein müsste im Alltag, und das sind die Schüler. Deshalb ist bei mir im Studio jetzt Leonie Mader. Sie ist Schülerin eines Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain und sitzt außerdem auch im Landesschülerausschuss. Was halten Sie von diesem Gerichtsurteil?

Mader: Ich finde, es ist durchaus berechtigt, denn ich denke, in Deutschland hat man sich dazu entschlossen vor langer Zeit, Religion und Schule zu trennen. Und das gehört natürlich auch zu einem Schwimmunterricht. Schwimmunterricht gehört zu dem, was erlernt werden soll in Deutschland, und das gilt für jeden Schüler, egal, welchen Glauben er ausübt.

Kassel: Halten Sie es denn auch für richtig, dann zu sagen, na ja, der Kompromiss ist der Burkini?

Mader: Ich denke schon, auf eine gewisse Art und Weise. Wenn sich das Mädchen in ihrer Religion nicht frei genug fühlt, mit einem Bikini oder einem Badeanzug zu gehen und mit dem Burkini sich wohler fühlt, dann soll sie das machen, das ist in Ordnung. Aber natürlich ist es dann aus meiner Sicht kritisch, zu sagen, dass dann auch alle anderen Jungs sich was anziehen sollen oder gar nicht mitmachen dürfen wegen dem nackten Oberkörper. Denn das ist einfach schwierig zu sagen, denn, wenn man sich mal auf einer Straße umschaut, ich hab mal auf der Fahrt hierher gezählt, wie viele nackte Männer oder halbnackte Männer man auf Fotos sieht – es sind enorm viele. Also es ist doch auch irgendwie ein wenig realitätsfern, finde ich, zu sagen, dass dieses Mädchen, das in Deutschland aufgewachsen ist, in Frankfurt am Main, noch nie einen nackten Oberkörper gesehen hat.

Kassel: Zumal, Sie haben das jetzt auf Plakaten gesehen. Wenn es wärmer wird, kann man es auch wieder in echt sehen, im Stadtpark.

Mader: Genau. Ich war ja schon häufiger zum Beispiel auch in Ägypten, und dort sehe ich auch immer Männer in Badehose. Ich glaube, das ist einfach eine Auslegungssache ihres Glaubens, dass sie sagt, sie will keine Männer mit nacktem Oberkörper sehen. Das schreibt ihr Glaube nicht aus. Das ist was, was sie oder ihr Vater eher gesagt, so auslegt. Und das ist dann ihre Auslegungssache, aber Religion und Schule sind getrennt, und deshalb, wenn die da hingeht, muss sie Deutsch- und Sportunterricht machen.

"Um etwas zu tolerieren, muss ich es nicht verstehen"
Kassel: Es ist auch so, dass laut offiziellen Zahlen der Deutschen Islamkonferenz nur ungefähr sieben Prozent aller muslimischen Schüler überhaupt an irgendwas nicht teilnehmen wollen in der Schule, sei es nun der Schwimm- oder Sportunterricht oder auch Klassenfahrten und Ähnliches. Wie ist das denn in Ihrer eigenen Erfahrung an Ihrer Schule oder anderen, die Sie über den Schülerausschuss kennen? Diese Probleme, von denen wir immer nur hören, wenn sie vor Gericht landen, sind die denn wirklich so alltäglich?

Mader: Also ich denke, diese sieben Prozent sagen das wirklich gut aus, was wir in der Realität haben. Also wir haben natürlich Personen – zum Beispiel Fasten oder so was – das haben wir häufig auch unter Schülern. Aber solche Beschwerden, dass an gewissen Sportarten nicht teilgenommen werden will, das ist eigentlich wirklich nicht der Alltag. Also, es gibt diese Fälle, aber da gibt es dann auch häufig Lösungen, die überhaupt gar nicht vor Gericht landen. Also zum Beispiel manchmal an Wandertagen geht man Schwimmen, und auch da sagt dann vielleicht jemand, der damit ein Problem hat, das gefällt ihm nicht, aber dann geht der auch nicht mit. Das ist so eine einfache Lösung. Diese Gerichtsurteile sind wirklich extremer, die nicht zum Alltag gehören in einer Berliner Schule.

Kassel: Aber wie blickt man denn, wenn man, so wie Sie, ja keinen Migrationshintergrund hat, auf diesen Alltag? Also sagt man, ich merke das kaum noch, findet man es manchmal merkwürdig oder denken Sie überhaupt bewusst darüber nach?

Mader: Also, ich an meiner Schule, wir haben einen relativ hohen Migrationsanteil, oder wie auch immer politisch korrekt man das nennen will. Ich hab eigentlich nicht wirklich ein Problem damit gehabt, nie, aber man muss auch grundsätzlich sagen, um etwas zu tolerieren, muss ich es nicht verstehen. Und ich denke, das trifft für viele Berliner Schüler zu. Also es ist einfach inzwischen Teil der Berliner Schulen geworden, natürlich in manchen Bezirken mehr, in manchen weniger. Aber das ist einfach, das gehört zum Schulalltag dazu. Und auch die Unterschiede durch Religion. Und da muss man ja auch sagen, es gibt ja auch zum Beispiel strenggläubige Christen, die haben dann vielleicht keinen Migrationshintergrund, haben aber trotzdem durch ihre Religion bestimmte Ansichten, die sich von ihren Mitschülern unterscheiden.

Kassel: Wird darüber denn geredet? Also, gibt es Gespräche – jetzt nicht über einfache, vielleicht allgemein bekannte Sachen wie "Du isst kein Schweinefleisch, weil du Muslimin bist" – über weitergehende Dinge, gibt es da unter den Schülerinnen und Schülern eine Diskussion?

Mader: Ja, definitiv. Also zum Beispiel, wenn jemand fastet, dann ist das bei uns immer so Hauptthema, wenn man die Personen sieht. Oder wenn sich eine Person besonders kleidet. Also bei Kopftüchern ist es natürlich inzwischen so, das sieht man inzwischen häufig, aber sonst ist es schon so, dass drüber gesprochen wird. Wenn man jetzt noch mal aufs Mobbing zurückgeht, was ja häufig in dem Zusammenhang genommen wird – es gibt bestimmt Mobbing dazu, aber es gibt auch bestimmt sehr, sehr viele geglückte Fälle, wo das kein Problem ist. Und wo es einfach dazugehört, diese Diversität, die wir an den Berliner Schulen haben, ist auch in den Köpfen der Schüler langsam eingekehrt.

Kassel: Aber beim Kopftuch, das ist ja ein interessantes Thema. Da hab ich das Gefühl, jedes Bundesland macht es ja anders, manchmal jede Schule oder in Berlin wieder jeder Bezirk. Aber da habe ich das Gefühl bei Lehrern ist Kopftuch ein Riesenproblem und bei Schülerinnen nicht. Finde ich nicht immer ganz logisch, wenn Sie selber sagen, Religion und Schule sind ja zwei verschiedene Dinge, sollten dann nicht eigentlich auch die Schülerinnen kein Kopftuch tragen?

Mader: Na, das ist ja eine Auslebung ihres Glaubens. Also wenn ich ein Kopftuch trage, weil das in meinem Glauben so üblich ist, dann ist das einfach ein Ausleben meines Glaubens, wenn ich dann auch mit Kopftuch zur Schule komme. Es macht keinen Unterschied, ob ich mit Kopftuch eine Klassenarbeit schreibe oder ohne Kopftuch. Wenn sich der Lehrer dadurch gestört fühlt, dann ist das natürlich ein Konflikt, der auftritt, aber der lässt sich auch irgendwie anders lösen. Also, es gibt da ja die verkorksten Meinungen zu, ob man darf oder ob man nicht darf. Und ich denke, das ist aber auch wirklich individuelle Auslegungssache. Also ein Kopftuch ist einfach wirklich was inzwischen, was normal in den Bezirken ist, wo es vorherrscht. Da gibt es immer noch Konflikte, aber die werden auch gelöst.

Kompromiss fordert Rücksichtnahme auf beiden Seiten
Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur mit Leonie Mader. Sie ist im Landesschülerausschuss Berlin und geht in Berlin, in Friedrichshain, auf eine Schule mit, das haben Sie schon gesagt, einem relativ hohen – ja, jetzt sind wir wieder bei der politisch korrekten Formulierung – Anteil von Schülerinnen und Schülern mit einem Migrationshintergrund, bisschen lang. Es gibt ja immer wieder eine Debatte darüber, wenn entschieden wird, wie weit darf da Rücksichtnahme gehen auf religiöse Gefühle. Das war ja auch bei diesem Gerichtsurteil so, wo das Gericht ja auch sagt, Burkini ja, aber gar nicht hingehen oder verlangen, dass der ganze Unterricht umgestellt wird, nein. Das ist ja im Grunde genommen ein Kompromiss. Und es stellt sich immer die Frage, ab wann ist so ein Kompromiss aber auch etwas, was eine Parallelgesellschaft schaffen kann. Haben Sie das Gefühl, dass, wenn an Ihrer Schule oder einer anderen Berliner Schule die Unterschiede zu stark zugelassen werden, dass dann Parallelgesellschaften entstehen?

Mader: Nein, das glaube ich nicht. Also, ich würde erst mal auf den ersten Aspekt eingehen mit diesem Religion und Schule getrennt. Also, es ist zum Beispiel ja so, dass zum Ausleben des Glaubens, also wenn man bestimmte Messen hat, an denen normalerweise kein schulfrei ist, dann darf man in Berlin sich an diesem Tag schulfrei nehmen, also man muss einen entsprechenden Antrag stellen, und dann bekommt man den auch. Das heißt, die Schule hindert die Leute nicht daran, ihren Glauben auszuleben, aber sie sagt, wir haben einen gewissen Lehrstoff, der ist nun mal so, ohne Rücksicht auf religiöse Belange, und den muss jeder Schüler absolvieren, der bei uns in Deutschland - oder in Berlin in dem Fall - auf eine Schule geht. Zum Beispiel ist das ja auch bei Evolutionstheorie so, in Teilen der USA ist es verboten, im Biologieunterricht diese Evolutionstheorie zu unterrichten.

Kassel: Ich glaube, wieder in jedem Bundesstaat anders. Und in manchen muss man beides, Evolution und Kreationismus.

Mader: Genau! Das ist halt wieder unterschiedlich. Und in Deutschland ist das halt nicht so. Da ist es egal, welchen Glauben man hat, man muss den Evolutionstheorie-Unterricht haben. So, und das ist einfach dieser Unterrichtsinhalt, der muss von jedem absolviert werden. Das Ausleben des Glaubens ist auch für jeden möglich so. Und der zweite Aspekt, ob eine Parallelgesellschaft entsteht – ich denke, dass sich Menschen verschiedener Religionen so schon voneinander unterscheiden. Ob da jetzt in der Schule noch der größere Unterschied entsteht, glaube ich nicht. Ich glaube zum Beispiel, da spielt die Sprache einen sehr viel höheren Wert, weil, wenn ich mich mit jemandem einfach in meiner Sprache, die ich besser beherrsche als eine andere Sprache, unterhalten kann, dann schafft das ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich glaube nicht, dass es eine Parallelgesellschaft dadurch herführt, nur dass man den Glauben unterschiedlich auslebt. Religionen sind unterschiedlich und ihre Anhänger eventuell auch.

Kassel: Aber wenn wir uns jetzt mal, ich weiß nicht, ob sie das persönlich schon im Schwimmunterricht erlebt haben, aber so einen Burkini vorstellen – kriege ich wahrscheinlich jetzt böse Briefe, aber ich spreche es mal aus: Ich kenne das nur von Fotos bisher, aber es sieht schon ein wenig albern aus, finde ich. Es sieht aus wie ein Riesentaucheranzug. Der Vater selber hat zum Beispiel bei diesem Gerichtsurteil gesagt, sie wird dann diskriminiert, weil die Leute lachen über ihren Burkini. Das finde ich ja fast schon realistisch. Findet man das nicht als andere Schülerin merkwürdig, wenn jemand zum Beispiel so beim Schwimmunterricht rumläuft?

Mader: Ja, definitiv. Aber warum? Weil wir es einfach nicht kennen. Das ist ja so. Also man kennt es nicht und deshalb findet man es komisch. Das ist definitiv so. Natürlich, wenn jemand eine andere Kleidung an hat, dann ist das automatisch anders, und es findet vielleicht auch eine separierende Wirkung statt. Aber damit muss ich dann leben. Wenn ich sage, okay, ich möchte einen Burkini tragen, dann ist es einfach nicht in Ordnung, wenn man – also dann wäre es realitätsfern aus meiner Sicht, zu sagen, alle müssen einen Burkini tragen, damit ich nicht ausgegrenzt werde. Aber mir ist diese Freiheit gegeben, und wenn ich sie möchte, dann kann ich sie nutzen.

Kassel: Haben Sie keine Angst davor, was manche ja haben, Stichwort Islamisierung der Gesellschaft, dass dann irgendwann auch Sie einen Burkini tragen müssen, weil das irgendwie niemand mehr zuzumuten ist, dass Sie einen normalen Badeanzug haben?

Mader: Ach, ich glaube nicht, dass das was ist, wovor ich Angst haben muss, so einen Burkini mal zu tragen. Ich glaube, das würde ich mal ganz gern ausprobieren sogar. Aber nee, da habe ich eigentlich keine Angst vor. Weil ich habe das Gefühl, dass wir es doch noch schaffen in den Berliner Schulen, dass jeder seinen Glauben ausleben kann, aber es keine verpflichtenden religiösen Normen für alle gibt.

Kassel: Hat man dann, bei so einem Gerichtsurteil, auch bei dem Ganzen, was davor besprochen wurde, es war ja nicht die erste Instanz, wenn man tatsächlich zur Schule geht und das so erlebt, wie Sie es uns beschrieben haben, eher das Gefühl, so ein Urteil hat mit uns gar nichts zu tun oder sagt man doch, man erschreckt sich, dass es das gibt?

Mader: Ich würde sagen, das ist so ein Extremfall. Da würde ich sagen, hätte ich nie was mit zu tun. Ich denke, die Situation gibt es in Schulen nun mal, auch dass gerade muslimische Mädchen sagen, sie wollen eher nicht am Sportunterricht teilnehmen. Aber das sind einfach Einzelfälle, und das wird halt jetzt so hochgepusht. Aber man muss sich einfach mal immer vorstellen, dass ist ein Mädchen in Frankfurt am Main gewesen. Allein in Berlin gibt es 400.000 Schüler und Schülerinnen. Das heißt, es ist wirklich ein Einzelfall, der überhaupt gar nicht zum Alltag gehört.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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