Religion und Utopie

"Das verheißene Heil geht in Erfüllung"

Figurengruppe an der Hauptfassade der Katholischen Kirche St. Fidelis in Stuttgart: Die Attribute dieser vier Engel sind Buch, Tamburin, Laute und Lyra.
Figurengruppe an der Hauptfassade der Katholischen Kirche St. Fidelis in Stuttgart: Die Attribute dieser vier Engel sind Buch, Tamburin, Laute und Lyra. © dpa / picture alliance / Benjamin Beytekin
Hans G. Kippenberg im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 18.12.2016
Die Weltreligionen bieten verschieden ausgearbeitete Utopien, versprechen aber alle eine Belohnung für den Bund Gottes mit dem eigenen Volk. Grundlegende Defekte der Gesellschaft, wie die Gemeinschaft sie jetzt erfahre, seien dann nicht mehr vorhanden, sagt der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg.
Kirsten Dietrich: Auch auf der Insel Utopia mit ihrer perfekten Gesellschaft, wie sie Thomas Morus in seinem epochemachenden Werk beschreibt, glauben die Menschen etwas. Allerdings ist die Religion der Utopier perfekt, wie alles auf Utopia – und deswegen eine rationale, am größtmöglichen Nutzen orientierte Vernunftreligion. Das gerade Gegenteil von dem allerdings, wie sich Religion in ihren verschiedenen Ausprägungen über die Jahrhunderte präsentiert. Perfektion im Diesseits oder perfektes Leben bei Gott – Religion und Utopie scheinen zwar nahe beisammen zu liegen, ihr Verhältnis ist aber durchaus kompliziert.
Ich habe vor der Sendung mit Hans G. Kippenberg gesprochen, einem der renommiertesten Religionswissenschaftler Deutschlands. Der schwierige Vergleich zwischen religiösen Themen war eines seiner Forschungsthemen, religiös motivierte Gewalt ein anderes. Ich wollte von Hans Gerhard Kippenberg wissen, wie das zusammengeht: Religion und Utopie.
Hans G. Kippenberg: Die Frage nach dem Zusammenpassen ist eine, eine andere Frage ist die nach den Ursprüngen beider. Religion ist ja eine sehr alte Erscheinung der Menschheitsgeschichte und bekommt insbesondere ihre Struktur in Vorderasien. Utopie ist etwas, was erst zur Zeit der Griechen auftaucht, und zwar als der Historiker Herodot vorderasiatische Völker beschreibt und nun nicht mehr davon ausgeht, dass die griechischen Institutionen überlegen sind, sondern erkennt: Es gibt Völker, die haben eine abweichende Institution, abweichende Kultur, legen weniger Wert auf Profitdenken wie die griechische Gesellschaft, die sehr stark auf Vermehrung von Reichtum angelegt ist, und die im Geschlechterverhältnis ganz anders verfahren, nämlich die Frauen haben größere Autorität als die Männer. Das ist die Utopie. Er beschreibt fremde Völker jeweils unter dem Gesichtspunkt des Bezugs auf das Eigene, und die Unterschiede, die er erkennt, bedeuten für ihn nicht eine Überlegenheit der griechischen Kultur, sondern etwas, was andere Völker den Griechen voraus haben.
Dietrich: Das heißt, da treffen zwei ganz unterschiedlich strukturierte Konzepte aufeinander, wenn ich frage, was sind denn religiöse Utopien?
Kippenberg: Ja, erst einmal muss man sich klar machen, Religion wird in dem Moment, wo sie nicht mehr einfach nur bestehende Verhältnisse akzeptiert, sondern zum Ausdruck bringt, dass diese Verhältnisse nicht dem Bund mit Gott entsprechen – das ist das israelitische Modell –, in dem Augenblick entwickeln die Religionen Konzepte für eine eigene Heilsgeschichte. Man lebt zwar unter Bedingungen, die samt und sonders nicht denen des erwählten Volkes entsprechen, ihm gemäß sind. Aber die Hoffnung, dass am Ende der Zeit das Heil erscheint, wird nicht davon tangiert, wird im Gegenteil immer mehr ausgearbeitet und immer klarer formuliert und auch in dem Sinne, dass das Heil am Ende der Zeit schon heutzutage nicht nur in dem Glauben, in der Hoffnung präsent ist, sondern auch in bestimmten Verhaltensweisen, die die Gläubigen untereinander oder auch ihr Verhältnis zur Wirtschaft betreffen. So berühren sich beide, aber sie sind doch eigentlich vom Ursprung her vollkommen verschieden.

Das Paradies ist kein Ort für Sex

Dietrich: Ist denn dann das Paradies, auf das sich ja sowohl die christliche wie auch die jüdische Religion beziehen, und auch die islamische Religion, ist dieses Paradies so etwas wie ein utopischer Ort?
Kippenberg: Ja, ist ganz klar örtlich gedacht, aber auch da sind ganz bestimmte Differenzen wichtig. Im Judentum und auch im Christentum ist eigentlich das Paradies nicht mehr der Ort, an dem Sexualität praktiziert wird. Das ist anders im Islam. Die Geschlechtlichkeit ist im Islam etwas, was einen höheren Wert an sich hat, und daher kommen sehr unterschiedliche Auffassungen von den Bewohnern des Paradieses und ihrem Verhältnis zueinander eben zum Ausdruck.
Dietrich: Die Vorstellung vom Paradies kann ja dann zum Guten wie zum Bösen motivieren eigentlich, also das Stichwort sind zum Beispiel islamistische Selbstmordattentäter, die mit sehr konkreten Paradiesvorstellungen in ihre Handlungen getrieben werden oder zu ihren Handlungen motiviert werden. Ist da der utopische Charakter des Paradieses nicht eigentlich verraten oder pervertiert worden?
Kippenberg: In Bezug auf die Selbstmordattentäter muss man sich klar machen: Sehr viel wird an Auffassungen ihnen zugeschrieben – vielleicht teilen sie die Auffassung auch –, die aber nicht das Umfeld, in dem diese Selbstmordattentate ausgedacht werden und verstanden werden, als eine notwendige Handlung identisch sind. Die Selbstmordattentäter kämpfen gegen die Feinde einer islamischen Ordnung. Sie wollen die islamische Ordnung, das islamische Territorium gegenüber den Feinden erhalten und bewehren. Daher kommt dann auch die Strategie zustande, dass sie eben auch bereit sind, ihr Leben dafür zu geben. Zugleich gibt es in diesen Paradiesvorstellungen des Islam halt einfach jenes Moment der Geschlechtlichkeit, der Sexualität. Man verliert nicht seine eigene Identität als Mann oder Frau, sondern sie bleibt erhalten, und die Sehnsüchte, die Hoffnungen, die Erwartungen, die man mit solcher Sexualität verbindet, die finden dann auch in solchen Vorstellungen ihren Ausdruck, dass da sogenannte Paradiesjungfrauen auf einen warten und einen selig und glücklich machen.

Im Schoße Abrahams

Dietrich: Das heißt, es gibt dynamische und weniger dynamische Utopien.
Kippenberg: Ja, das ist richtig. Es gibt vor allen Dingen verschieden ausgearbeitete Utopien. Im Judentum und Christentum sind in dem Sinne, wenn der Himmel örtlich gedacht wird und die Vorväter sich in ihm befinden, Abraham zum Beispiel, dann ist es durchaus eine Vorstellung, die im Judentum entwickelt worden ist, dass man im Schoße Abrahams sich wiederfindet. Also man sollte nicht zu viel Wert legen auf die Ausarbeitung. Aber immer ist es so, das Heil, das einem verheißen ist, dass der Bund Gottes mit dem eigenen Volk zugesichert hat, dieses Heil geht in Erfüllung. Wie dann im Einzelnen die Vorstellungen aussehen, da unterscheiden sich die Völker.
Dietrich: Wie konkret dürfen religiöse Utopien denn werden? Besteht, gerade wenn Religion mit im Spiel ist, nicht die Gefahr, dass man dann schnell in einem Gottesstaat landet, der vielleicht dann noch rigider ist als zum Beispiel die sehr kontrollierte Gesellschaft, die ja auch Thomas Morus in seiner "Utopia" entwirft?
Kippenberg: Dort, wo Gemeinschaften, auch christliche, jüdische oder islamische dazu übergehen, sich von der bestehenden Welt zu distanzieren und eigene Ordnungen, eigene Normen ausbilden für das Leben in einer Zeit, die eigentlich auch schon die Endzeit ist, dort sind immer auch Potenziale der Repression da. Das geht nie ohne Repression. Das heißt, das ist keine Freiheit, die dann erworben wird, sondern ist ein Zustand, der dem entspricht, was man eben als die richtige Ordnung versteht, und die richtige Ordnung wird eben auch mit Gewalt oder mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen, eben durchgesetzt.
Der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg
Hans G. Kippenberg© Foto: privat
Dietrich: Sie haben vorhin als ein bisschen so ein Gegenbild zur Entwicklung von Utopie die Religionen des Ostens genannt, Buddhismus und Hinduismus mit ihrem ja ganz unterschiedlichen Zeitverständnis auch. Gibt es denn da auch utopische Konzepte oder kennen diese Religionen das gar nicht?
Kippenberg: Diese Religionen gehen ja beide davon aus, dass die Erlösung durch Weltentsagung zustande kommt. Und das ist im Wesentlichen negativ gedacht. Die Befreiung ist eine Weltentsagung. Du lebst heute schon als Asket, als Mönch in Indien, weil du weißt, du gehörst schon in das Reich der Erlösten hinein. Aber eine andere Art als die der Weltentsagung ist dann nicht wirklich ausgemalt worden, wie das in den Religionen von Juden und Christentum und Islam der Fall ist.
Dietrich: Das heißt, eine Utopie muss ein bisschen was Handfestes haben, ganz egal, wie unwahrscheinlich ihre Verwirklichung scheint?
Kippenberg: Ja. Vor allen Dingen, die Utopie muss sich auf etwas beziehen, was nicht nur den Einzelnen betrifft, das wäre im Buddhismus ja der Fall, oder Hinduismus, sondern sich auf eine Gemeinschaft bezieht. Utopie ist in dem Sinne irgendwo auch immer eine Erfahrung, eine Beschreibung von Gemeinschaft, der ganz wesentliche widrige Züge abgehen. Also nicht Profitgier, nicht Unterdrückung der Frauen, nicht ungleiche Verteilung des Reichtums oder heutzutage keine Kontrolle durch einen Staat, sondern es wird für die Gemeinschaft eine Situation beschrieben, in der so grundlegende Defekte der Gesellschaft, wie die Gemeinschaft sie jetzt erfährt, nicht vorhanden sind.

Die abweichende Ordnung

Dietrich: Das heißt, Utopie ist Hoffnung für die Gemeinschaft, religiöse Hoffnung für die Gemeinschaft auch?
Kippenberg: Utopie ist sehr deutlich bezogen auf Gemeinschaft. Man kann diese Utopie, wie sie Herodot entwickelt hat in der Beschreibung fremder Kulturen, fremder Völker in der Neuzeit noch wiederfinden, und zwar bei [Lewis Henry] Morgan. Morgan war jemand, der amerikanische Völker, noch bevor die Kolonisierung stattgefunden hat und beschrieben hat und erkannt hat, dass sie in ihren Institutionen von den europäischen und den westlichen Institutionen abweichen. Sie kennen Gemeinschaftseigentum, und nicht nur privates Eigentum. Es gibt Gemeinschaftseigentum. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist ganz anders als in der europäischen Ordnung, nicht patriarchal. Es ist matriarchal. Also er beschreibt für die Gemeinschaft und diese gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie sich befindet, eine abweichende Ordnung. Und das ist dann übrigens eingegangen in den Marxismus, das ist aufgenommen von Marx, ist aufgenommen von Engels, und immer ist auch in diesen sozialistischen Utopien ein Element enthalten, das aus dieser Ethnografie kommt. Es ist das alles schon mal dagewesen. Nur es ist im Lauf der Geschichte verloren worden, und wir müssen es wiedergewinnen.
Dietrich: Religion und Utopie. Über dieses spannungsreiche Verhältnis habe ich mit dem Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg gesprochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst – Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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