Religiöse Werte im Alltag

Transzendenz statt Effizienz

11:59 Minuten
Renata Schmidtkunz sitzt in einem Cafe und lächelt in die Kamera.
Renata Schmidtkunz, Journalistin und evangelische Theologin © Lukas Beck
Renata Schmidtkunz im Gespräch mit Christopher Ricke · 17.03.2019
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Immer schneller, immer alternativloser, immer egoistischer. Schaut wirklich jeder nur noch auf sich selbst? Die Theologin und Publizistin Renata Schmidtkunz setzt auf mehr Transzendenz. Sie wirbt dafür, das Denken nach oben zu öffnen, zu Gott.
Christopher Ricke: Die Fastenzeit ist eine gute Zeit, um sich einmal mit Transzendenz zu beschäftigen. Fasten, darin stimmen ja auch viele wissenschaftliche Studien überein, kann nach ein paar Tagen Gefühle von innerer Harmonie oder Transzendenz wecken und verstärken. Gerade bei der Transzendenz, also beim Überschreiten der menschlichen Grenzen von Erfahrung und Bewusstsein, sieht es aber in der Gegenwart eher schlecht aus. Weite Teile unserer Gesellschaft haben für so etwas überhaupt keine Zeit mehr, wollen nicht - oder vielleicht können sie auch nicht.
Gegen diesen Trend schreibt die Religionspublizistin Renata Schmidtkunz an. Ihr Buch heißt "Himmlisch frei – warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen". Frau Schmidtkunz, Transzendenz zu erfahren ist ja per se eher schwierig. Es geht ja um etwas jenseits möglicher Erfahrung. Wie lösen Sie das denn?
Renata Schmidtkunz: Transzendenz, so wie ich sie verstehe, ist in erster Linie die Fähigkeit des Menschen, ein bestimmtes Denken zu praktizieren, nämlich das Denken über die empirisch wahrnehmbaren Grenzen hinaus. Was sind jetzt empirisch wahrnehmbare Grenzen? Das ist die Erdhaftigkeit, die wir haben: Wir bewegen uns in einem dreidimensionalen Raum, und Transzendenz ist diese Fähigkeit, zu sagen, ich kann nach oben denken, ich kann einen Himmel denken, ich kann Gott denken.

Was uns menschlich macht, kommt aus der Transzendenz

Das ist eigentlich die Grundlage dafür, überhaupt etwas, was über das bloße Sein hinausgeht, denken zu können - also zum Beispiel Utopien. Ich stelle das in einen Kontext mit politischen Vorgaben wie diesem scheußlichen Effizienzdenken: Alles lohnt sich nurmehr, wenn es effizient ist. Und ich denke: Alles das, was uns zu Menschen macht, ist etwas, was aus diesem Denken in die Transzendenz hinein kommt: Freundschaft, Liebe, Hoffnung, Zugewandtheit, Mitmenschlichkeit, Empathie. Und das, in der Tat, wie Sie es in der Anmoderation richtig gesagt haben, findet kaum mehr Platz in unserem Alltag, der eben sehr zielgerichtet, effizienzgesteuert ist. Und dagegen wollte ich dieses Plädoyer schreiben.
Ricke: Wie grenzen Sie denn Transzendenz von Spiritualität ab?
Schmidtkunz: Spiritualität ist eine Haltung zum Leben: ein Mensch, der sagt, ich beschäftige mich, ich übe, ich habe eine Praxis, ich meditiere oder ich bete, oder ich gehe in die Ruhe, in die Stille. Und Transzendenz ist insofern etwas anderes, als es eben gebunden ist an unsere Denkfähigkeit. Das sind einfach zwei verschiedene Kategorien. Transzendenz ist der Raum, in den wir denken, ist diese Fähigkeit, das Höhere zu denken, und Spiritualität ist eine Handlung und eine Haltung.

Nicht alles ist machbar und verfügbar

Ricke: Uns ist möglicherweise etwas verloren gegangen in den letzten Jahrzehnten, denn die Erkenntnis, dass es mehr gibt als das irdische Sein, die hatte man ja auch mal in der Politik Also ich denke zum Beispiel ans deutsche Grundgesetz, da gibt es einen Gottesbezug. Ich glaube aber auch, wenn wir heute über das Grundgesetz verhandeln würden, könnte man den nicht mehr so leicht hineinschreiben. Was ist denn da in den letzten 70 Jahren verloren gegangen?
Schmidtkunz: Ja, da ist ein guter Punkt, den Sie ansprechen, diese rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft, die ja auch zu bestimmten Übereinkünften führen oder geführt haben, zum Beispiel zur Unantastbarkeit der Menschenrechte. Ich glaube, was verloren gegangen ist, ist eine gewisse Fähigkeit, Distanz einzulegen zwischen sich und - wie Sloterdijk das nennt und ich das auch in meinem Buch zitiere - dieser absoluten Welt, also alles nur das, was jetzt hier ist. Distanz ist verloren gegangen, die Wahrnehmung dafür, dass wir auch nur ein Lebewesen unter vielen anderen auf diesem Planeten sind.
Ich glaube, dass uns auch der Respekt vor dem Unverfügbaren verloren gegangen ist. Wir leben in einer Zeit, wo alles jederzeit machbar, verfügbar ist: meins, jetzt in dem Moment will ich es haben, will ich es kriegen. In dieser Zeit leben wir, und das macht es auch schwierig, Distanz einzunehmen gegenüber diesem Planeten.
Wenn ich denke, dass mir alles jederzeit zur Verfügung steht, gehe ich über andere Menschen hinweg, gehe ich auch über deren Rechte hinweg und gehe ich auch über die Natur hinweg. Und ich glaube, daher kommt dieses langsame Aufweichen von Dingen, die eigentlich ursprünglich in der Menschheitsgeschichte als heilig betrachtet wurden - das Asylrecht zum Beispiel, ein heiliges Recht.

Geschätzte Dinge haben ihren Glanz verloren

Ricke: Wo wir stehen durch dieses Effizienzdenken, das sehen wir jeden Tag: Klimakatastrophe, Profitstreben, Wohlstand auf Kosten anderer, jeder ist sich selbst der Nächste. Ja, wenn ich nur das mache, was mir gerade taugt, weil ich ja ganz allein auf der Welt bin, dann kann ich ja die Moral auch gleich bleiben lassen und ein bisschen bei Dostojewski nachgucken: Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt.
Schmidtkunz: Ja, genau. Ich habe auch Hannah Arendt zitiert, die sagt: Wenn wir allen Dingen einen Wert geben, also sie bemessen in einer Währung, dann verlieren sie ihren Wert. Und ich beobachte das ungefähr seit 15 Jahren, dass bestimmte Dinge, die früher einen Glanz hatten - wissen Sie, diesen Glanz der Unverfügbarkeit, diesen Glanz, dass man sich das, erwünschen, erträumen, vielleicht auch erarbeiten, erbitten muss - ich beobachte, dass dieser Glanz von den Dingen verloren gegangen ist und dass sozusagen alles Materielle stumpf wurde.
Ich habe lange als Religionsjournalistin gearbeitet, aber ich habe jetzt eine Sendereihe auf Radio Österreich 1, eine Gesprächsreihe. Ich komme mit sehr vielen Menschen ins Gespräch, und da merke ich, dass es auch anderen Menschen so geht, dass sie diesen Glanz des Wunderbaren, des Unerreichbaren, des Zu-Erhoffenden, dass ihnen dieser Glanz verloren gegangen ist und sie sich auch danach sehnen.

Neuer Sinn für alte Bilder

Und wenn Sie mich fragen, wie gehört das jetzt mit Religion zusammen, dann sage ich: Die Religionen waren bisher die historischen Gefäße, in denen dieses Denken stattgefunden hat. Und die historischen Gefäße, das ist für mich ganz wichtig, sind auch bestimmten Veränderungen unterworfen. Ich glaube, dass heute viele Menschen mit den Bildern, die in den Religionen gezeigt, verwendet, angesprochen werden, nicht mehr viel anfangen können, sie verstehen das nicht mehr, weil unsere Zeit eine andere geworden ist, weil unsere Denkmöglichkeiten anders geworden sind, weil wir uns als Menschheit entwickelt haben.
Und es war mir ein Bedürfnis, auch zum Ausdruck zu bringen: Es gibt aber Denkmodelle, die könnt ihr noch mal regenerieren. Da gibt es etwas zu entdecken, zum Beispiel zu sagen: Wie kann ich diese Distanz zur dreidimensionalen Welt bekommen? Eben dadurch, dass ich sie einlege mit dem Gedanken, da ist etwas, was unverfügbar ist, da kann ich nicht hin als Mensch, da habe ich keinen Zugriff drauf. Und da nimmt man vielleicht Distanz zur Welt ein, die es braucht, um sie nicht zu zerstören.
Ricke: Können die Religionen denn überhaupt noch etwas tun im 21. Jahrhundert? Schauen wir uns um, die katholische Kirche erlebt gerade eine Kernschmelze, Missbrauchsvorwürfe ganz massiv auch in der evangelischen Kirche. Im Namen Allahs: Krieg und Terror. Die Buddhisten in Myanmar metzeln die Muslims. Viel Vertrauen in die menschengemachte Religion kann man da doch gar nicht mehr haben?
Schmidtkunz: Da haben Sie völlig recht, das stimmt, das geht auch vielen Menschen so. Wenn wir zum Beispiel von der "Rückkehr der Religion" sprechen, das ist ein Diskurs, der nicht nur im deutschen Sprachraum seit Anfang der 2000er-Jahre wieder da ist - Stichwort Habermas, der sich auch eingeschaltet hat damals - diese Rückkehr der Religionen wird ständig proklamiert. Ich frage mich immer nur: Ja, welche Religion wollt ihr denn zurückhaben, oder von welcher Rückkehr welcher Religionen sprechen wir denn eigentlich?

Mystik als Antwort auf Macht

Das, was wir heute unter Religion verstehen, wird oft sehr negativ konnotiert, wie Sie es schon gesagt haben. Und ich würde dafür plädieren, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, denn immer hat es in allen Kirchen und in allen Religionen verschiedene Menschen gegeben, verschiedene Ansichten. Wenn ich es jetzt plakativ mache, hat es immer Menschen gegeben, die durch Religion herrschen wollten und diese postulierte Unendlichkeit, in der Religion überhaupt erst Sinn macht, zu einer Endlichkeit gezwungen haben.
Und es hat immer auch schon Menschen gegeben, die in einer Religion nach Erkenntnis gestrebt haben, wir nennen das Mystik. In fast jeder Religion der Welt gibt es einen mystischen Strang. Also, das heißt, es ist nicht unsere Fähigkeit des Denkens, die wir wegschmeißen sollten, sondern wir sollten das wegschmeißen, wo Religion benutzt wird, um das Leben von Menschen nicht zu verbessern, sondern zu verschlechtern. Und Krieg ist nun mal eine Verschlechterung gegenüber Frieden zum Beispiel, Ausbeutung ist eine Verschlechterung im Vergleich zum Wohle aller.
Also, das heißt: Ich sehe Religion nicht negativ, und ich beschriebe das auch in meinem Buch. Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen und habe evangelische Theologie studiert, und ich habe Religion nie als etwas Negatives wahrgenommen, sondern immer als etwas Befreiendes.

Die Welt braucht Utopien

Ricke: Aber trotzdem sind Sie irgendwann einmal aus der Kirche ausgetreten.
Schmidtkunz: Und wieder eingetreten, sieben Jahre später, auf den Tag genau, und zwar, weil ich das Bedürfnis hatte, dieser Gemeinschaft wieder anzugehören, in der ich groß geworden bin und die mir bestimmte Werte vermittelt hat, zum Beispiel einen starken Wert von Solidarität, von Respekt, von Menschenrechten. Die zynische Art, mit Menschen und Menschenleben umzugehen, die in den letzten zehn Jahren zugenommen hat, ist mir so auf die Nerven gegangen.
Nehmen Sie das Beispiel der Geflüchteten, oder den Umgang mit alten Menschen, nehmen Sie die völlige Ignoranz unseren jungen Menschen gegenüber, denen wir mit diesem Satz begegnen: "Es gibt keine Alternativen zu diesem politischen Verhalten". Und worin besteht dieses poltische Verhalten? Streichung des Sozialstaates, Aufspaltung des Gemeinwohls, Abbrechen von Solidarität mit Schwachen, Kranken, Armen, Jungen, Alten - also eigentlich mit allen Menschen.
Es ist mir wichtig gewesen, einer Gemeinschaft anzugehören, die sagt: Jeder Mensch hat das Recht, Würde und Rechte zu haben, einfach nur, weil er ein Mensch ist.
Ricke: Ist die Umsetzung dieses Ziels nicht schon eine Utopie?
Schmidtkunz: Natürlich. Ohne Utopien hätten wir überhaupt nie die Kultur, in der wir heute leben, zumindest in Westeuropa, aber auch in allen anderen Ländern der Welt. Ohne Utopie zu denken, ohne über das, was jetzt gerade ist, hinauszudenken, gäbe es überhaupt keine Kultur. Wir hätten uns als Menschheit überhaupt nicht entwickelt. Ich habe auch ein paar Beispiele in meinem Buch gebracht, ich sage mal eins, das aus nicht so ferner Vergangenheit stammt: die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King, ein baptistischer Pfarrer, "I have a dream" - ich habe einen Traum, dass diese Gesellschaft eines Tages anders wird.
Dass wir diesen Traum denken können, das ist eben die große Fähigkeit des Menschen. Und in einer Welt, wo es immer nur heißt, was kostet das, können wir das bezahlen, wer bezahlt das, und wir gleichzeitig wissen, dass eine ganz kleine Gruppe von Menschen ganz, ganz viel besitzt, und wir uns mit dieser Frage quälen, wer soll denn das bezahlen? - ich glaube, in so einer Welt wäre es gut, nicht zu eskapieren, also in irgendwelche Träumereien zu flüchten und vor der Gegenwart zu fliehen, sondern zu sagen: Es gibt Vorbilder. Und wir müssen jetzt aufstehen und kämpfen, das glaube ich schon.
Ricke: Vielen Dank, Frau Schmidtkunz!
Schmidtkunz: Danke, Herr Ricke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Renata Schmidtkunz: Himmlisch frei. Warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen.
Edition a, Wien 2019
192 Seiten, 22 Euro

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