Religiöse Angst vor der Moderne

10.04.2013
An Büchern zur Krise der katholischen Kirche herrscht kein Mangel. Das Essay des Theologen Hermann Häring überragt die bisherigen Streitschriften allerdings um Längen: Es parallelisiert innerkirchliche Flügelkämpfe mit gesamtgesellschaftlichen Trends.
Beim zurückgetretenen Papst kurz mal nachtreten? Benedikt-Bashing, jetzt noch billiger? Mit Argwohn habe ich dieses Buch aufgeschlagen. Und wurde positiv überrascht: Hermann Häring, emeritierter Theologieprofessor, definiert Fundamentalismus als eine keineswegs religionsspezifische, sondern auch säkulare politische Angst- und Abwehrreaktion auf die Moderne. Erkennbar an Verklärung der Vergangenheit, Positivismus der Lehrsätze, Gehorsamsforderung nach innen, Gesprächsverweigerung nach außen, Sendungsbewusstsein einer Elite, Belagerungsmentalität und einer zornigen Leidenschaft, die zu mentaler oder physischer Gewalt führen kann.

Was bei Hindus nationalistische, bei Muslimen wirtschaftspolitische und bei orthodoxen Juden kulturelle Ideale und Ziele sein können, ist bei Christen meist genuin religiös motiviert: Europäischen Katholiken des 19. Jahrhunderts ging es um die Unfehlbarkeit des Lehramtes und seiner Dogmen, US-Protestanten des 20. Jahrhunderts ging es um die Unfehlbarkeit der Bibel. Ob von oben verordnet oder von unten gewachsen - der Fundamentalismus diskreditiert die sich wandelnde Realität als wahrheits- und menschenfeindlich.

Der Autor hält die "christliche Botschaft für wichtiger denn je"
"Man will Gott und dessen Wahrheit die Ehre geben und erreicht das Gegenteil aller guten Absicht, denn der Gepriesene wird zum rechthaberischen und gewalttätigen Gott." Hermann Häring outet sich als "katholischer Christ, der die christliche Botschaft für wichtiger denn je hält" - und deshalb nehme ich ihm seine Bestürzung ab über die "Hermeneutik des Misstrauens", die Papst Benedikt XVI. gegen Demokratie und Menschenrechte, gegen Gewissensfreiheit und eine "Diktatur des Relativismus" installierte. Erst das Knebeln innerkirchlicher Kritiker wie Teilhard de Chardin, Hans Küng, Hubertus Halbfas oder Eugen Drewermann habe "Stammtisch-Atheisten" wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens ermöglicht, gegen "die brüchigen Windmühlen eines Gottes- und Menschenbildes aus dem 17. Jahrhundert" zu reiten, beklagt Häring.

Kann das den Konfessionslosen nicht völlig wurscht sein? Nein, meint der Autor, denn das bürgerlich-konservative Lager in seiner Identitätskrise bekommt hier die religiöse Gestalt und Überhöhung. Die Pflicht zum Werte-Bewahren einerseits und Zukunft-Gestalten andererseits haben ja auch Nichtchristen. Sie unterliegen also derselben "Ansteckungsgefahr". Damit diese Infektion den Körper nicht killt, sondern das Immunsystem kräftigt, empfiehlt Häring:

"Fundamentalismus lässt sich nicht durch Widerstand überwinden, sondern dadurch, dass er von innen her aufgelöst wird. Es ist die Pflicht aller Kirchenmitglieder, der Kirchenleitung das Vertrauen zu entziehen und eine offene Gegenwirklichkeit zu schaffen. (…) Sinn- und Orientierungsfragen der Menschen sind ja nicht verschwunden. Wir leiden an der Säkularisierung doch nur deshalb, weil wir ihre religiöse Tendenz nicht verstanden haben: dass das Heil im Sinne der christlichen Tradition auf die Verwirklichung säkularer Werte angelegt ist - Menschenrechte, Ehrfurcht vor dem Leben, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit. Nicht meiner weißen Weste sollte meine Leidenschaft gelten, sondern einer in sich versöhnten Menschheit!"

Sätze, die meine anfänglichen Vorbehalte ausräumten. Ein Buch mit erhöhtem Erkenntnisgewinn auch und gerade für Menschen außerhalb der Kirchen.

Besprochen von Andreas Malessa

Hermann Häring: Versuchung Fundamentalismus. Glaube und Vernunft in einer säkularen Gesellschaft.
Gütersloher Verlagshaus, München 2013
176 Seiten, 17,99 Euro