Reli oder Ethik?

Von Astrid Mayerle · 25.04.2009
Seit Wochen kommen im Berliner Schulstreit um die Frage "Reli oder Ethik?" fast ausschließlich Interessengruppen, Politiker und Bildungsexperten zu Wort. Aber welche Position vertreten eigentlich die Betroffenen selbst? - Ein Besuch im Münchner Luitpold-Gymnasium.
Fünfte Stunde am Luitpold-Gymnasium München: 22 Schüler sitzen in der Kollegstufenklasse, genauer in der K12. Normalerweise sind sie jetzt getrennt, denn sieben Schüler besuchen den Ethikunterricht, sechs katholische Religion, fünf evangelische und vier israelitischen Religionsunterricht. Heute geht es darum, verschiedene Modelle der Wertevermittlung in der Schule zu diskutieren. Die 17- und 18-jährigen Zwölftklässler sind bereits ziemlich gut vorinformiert. Am Ende der Stunde ist eine Abstimmung geplant - ähnlich dem Volksentscheid, der am 26. April in Berlin stattfindet. Karlheinz Gruber, katholischer Religionslehrer, erklärt vorab noch einmal kurz die unterschiedlichen Modelle, die zur Diskussion und später zur Wahl stehen:

"Bayern kennt Ihr."

In Bayern können die Schüler wählen, müssen aber, um den Ethikunterricht zu besuchen, sich vom konfessionell gebundenen Unterricht abmelden.

"Brandenburg: Lebenskunde – Ethik - Religion."

Alle Fächer sind in einem einzigen vereint. Das heißt, die Schüler werden nicht getrennt, sitzen im selben Klassenzimmer und nehmen am selben Unterricht teil.

"Das Berliner Modell - Ethik."

Alle Schüler sind hier verpflichtet, den Ethikunterricht zu besuchen. Wer möchte, kann freiwillig in den Nachmittagsstunden Religion als zusätzliches Wahlfach belegen.

"Und dann das "Pro Reli"-Modell: Wählen.
Prinzipiell wählen.
Wir haben sozusagen eine gewisse Präferenz auf dem konfessionellen Religionsunterricht und das 'Pro Reli'-Modell sieht vor, dass keinerlei Präferenz ist, sondern eine generelle Wahl."

"Pro Reli" ist übrigens mit einer Gegeninitiative konfrontiert: "Pro Ethik". Ginge es nach "Pro Ethik" so sollte das alte Modell in Berlin beibehalten werden – also alle sitzen im Ethikunterricht, Religion gibt es nur auf freiwilliger Basis zusätzlich am Nachmittag. Zum Einstieg in die Diskussion bekommt die Klasse noch einmal die wesentlichen Unterschiede der beiden Organisationen "Pro Reli" und "Pro" Ethik an die Hand.

"Die Argumente von Pro Reli:
"Nur beim Wahlpflichtfach Ethik / Religion hat jeder Schüler und jede Schülerin eine wirkliche Wahlfreiheit. Nur wenn der Religionsunterricht dem Ethikunterricht freigestellt ist, können sie sich entsprechend ihrer weltanschaulichen Grundüberzeugung wirklich frei für das Eine oder das Andere entscheiden. Ein staatliches Fach Zwangsethik zeigt einen Mangel an Toleranz gegenüber anderen."
Das war noch mal die Argumentation von?

Pro Reli! Pro Reli!

Jetzt die Argumente von Pro Ethik:
"Nur in einem gemeinsamen Unterricht werden Toleranz und Respekt gefördert und erfahren. Nur in einem gemeinsamen Unterricht erhalten alle Schülerinnen und Schüler eine grundlegende Bildung zu Fragen der Ethik und Menschenrechte."

Das ist der Hintergrund unserer Diskussion. Ich würde damit anfangen, wie ihr euch persönlich entschieden habt."

Alexander: "Ich wollte einen möglichst neutralen Zugang zu dem Wertekatalog Deutschlands und überhaupt zu den Werten und unterschiedlichen Wissenschaften und nicht einen von einer Religion beeinflussten."

Philipp Lass: "Ich habe eine jüdische Grundschule und einen jüdischen Religionsunterricht besucht und für mich war es immer selbstverständlich, wenn ich aufs Gymnasium gehe, auch den jüdischen Religionsunterricht zu wählen. Ich bin glücklich, dass ich ihn gewählt habe, denn es ist wichtig, über die jüdische Identität mehr zu erfahren, über die eigenen Geschichte und Hintergründe. Ich fand immer gut, was ich vom Ethikunterricht gehört habe, dass man sich auch mit anderen Religionen befasst. Das habe ich vermisst, aber in den letzten Jahren ist es mehr vorgekommen, dass wir uns auch mit anderen Religionen befasst haben. Ich denke, dass das alle meine Bedürfnisse abdeckt."

Linda: "Ich war immer im evangelischen Religionsunterricht. Wenn man das vergleicht, ist mir aufgefallen - auch weil ich mit meiner Freundin darüber diskutiert habe - dass sie in der Philosophie ein breiteres Band haben. Sie gehen auf verschiedenen Theorien ein und ich wollte letztes Jahr in den Ethikunterricht wechseln, aber mir ist jetzt aufgefallen, dass wir in der evangelischen Religion auch auf viele Philosophen eingehen. Das hat sich geändert. Und wir vergleichen diese Positionen mit Stellen aus dem Alten und Neuen Testament."

Karlheinz Gruber zeigt, dass man in Bayern gar nicht so selbstverständlich von einer Wahl ausgehen kann, denn erstmal werden ja alle in den Religionsunterricht einsortiert und wer sich dagegen entscheidet, muss gewissermaßen austreten.

"Von denen, die einfach in ihrer Religionsgemeinschaft geblieben sind, wer hat da eine positive Entscheidung getroffen? Die Ethiker haben alle eine Entscheidung getroffen und gesagt, ich verlasse was, weil des ja in Bayenr so sei muas. Die anderen sind einfach geblieben. Melden Sie sich doch mal. Die anderen sind weniger klar entschieden, wie im Nathan steht, warum soll ich meine Väter lügen strafen?"

Sieben Wortmeldungen.

Stella: "Ich bin im katholischen Religionsunterricht und das finde ich auch gut so. Ich würde es nicht gut finden, wenn für mich nur Ethik angeboten würde und ich nachmittags zusätzlich Religionsunterricht nehmen müsste. Vor allem finde ich das Argument, im Ethikunterricht kriegt man ne neutrale Wertevermittlung, nicht überzeugend. Die Philosophien und diese Sachen, nimmt man auch in Deutsch durch oder in Sozialkunde und in anderen Fächern.""

Ich würde gerne die Frage diskutieren, für welches Modell ihr plädiert:

"Das Brandenburger Modell ist das beste, man sollte eine Allgemeinbildung über Religion haben."
"Ich finde das bayerische System am besten. In der Zeit der Globalisierung sollte man seine eigene Kultur wahren und schätzen lernen."
"Ich wäre eigentlich für das Pro Reli Modell, man kann sich das aussuchen, die ideale Variante, wobei für mich die Frage wäre, wie es mit dem Lehrplan aussieht. Welche Inhalte der Unterricht bietet, dass das nicht nur behauptet wird."

Jetzt wird abgestimmt, zur Wahl stehen die vier Modelle: Bayern, Berlin, Pro Reli und Brandenburg.

Während die Fragebögen durch die Reihen gehen, stellt Simon noch einmal eine ganz grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich Wertevermittlung?

"Dass du im Staat weißt, wo dein Platz ist, aber auch entscheiden kannst, wo du mitmachen möchtest, das ist Wertevermittlung, dass du bewusste Entscheidungen treffen kannst, was für dich richtig und falsch ist, und auch für andere."

Nach dem Unterricht: Stimmenauszählung.

"Eins, drei, drei, drei, eins, eins, drei, drei, drei, vier ..."

Das interessante ist, dass ein Modell überhaupt nicht vorkommt, nämlich: "Ich stimme dafür, dass Ethik als Pflichtfach für alle und Religion als freiwilliges Wahlfach angeboten werden sollten." Das aktuelle Berliner Modell kommt gar nicht vor bei der Stimmauszählung der bayerischen Schüler.

"Ich bin selber überrascht, ich muss Ihnen sagen, ein paar Stimmen für dieses Modell – vor allem von der Ethikseite - hätte ich erwartet. Die Schüler sagten, im Ethikunterricht gibt es schon einen deutlich akzentuierten Gegensatz zur Kirche, drum hätte ich schon von manchem Ethikschüler erwartet, dass er sagt, nein ich möchte doch mein Fach als das für alle wichtige Fach pointiert an die Spitze stellen. Man sieht aber andererseits, dass man Toleranz offensichtlich dadurch lernt, dass man wählen darf und selbst seine eigene Position repräsentiert sieht, ernst genommen sieht, aber die andere Position auch würdigen kann. Das ist damit ganz interessant bewiesen mit der Wahl hier in dieser kleinen, sicher nicht repräsentativen Gruppe."

Das favorisierte Modell ist das Model drei, nämlich: "Ich stimme dafür, dass alle Fächer – Ethik und Religion – als gleichwertige Pflichtfächer angeboten werden sollten." Das ist das Modell von Pro Reli. Was sagt das über Ihre Schüler?

"Ich finde es interessant, dass das bayerische Modell, was den zweiten Rang hat, zwar akzeptiert wird, aber unsere Schüler das auch kritisch sehen und sagen, diese leichte Vorrangstellung, die müsste gar nicht sein, weil es bei einer ehrlich gemeinten Toleranz diese gleichwertige Wahlmöglichkeit geben könnte und ich sehe darin auch die Möglichkeit einer Weiterentwicklung unseres Systems. Man hat an vielen gesehen, die nur aus Tradition in ihrem Religionsunterricht bleiben, dass ein wenig ein Weckgeräusch, eine Aufforderung zu einer bewussteren Entscheidung gar nicht schädlich wär und von religiöser Seite gar keine Angst vor dieser Entscheidung bestehen müsste."

"Ganz wenige haben sich erstaunlicherweise für das Brandenburger Modell entschieden – nur drei Stimmen. Erstaunt mich, weil ich denke, dass das modernste Modell ist. Da sitzen alle zusammen, da können auch alle unterschiedlichen Ansichten aufeinanderprallen, diskutiert werden. Egal ob dieses Modell verfassungskonform ist oder nicht, mir schient es für eine durchmischte, globale Gesellschaft das beste Modell zu sein."

"Da möchte ich Ihnen gerne widersprechen, weil genau aus denselben Gründen - die globale, durchmischte, kulturell offene, aber zugleich auch verunsicherte Gesellschaft - das Modell, das klare Positionen vorgibt, für mich das richtige ist - bei möglichst großer Freiheit der Wahl und Entscheidung. Was ich nicht brauche, ist eine völlige Orientierungslosigkeit, sondern ich brauche eine klare Orientierung, für die ich mich entscheiden darf, aber nicht entscheiden muss.
Aber diese Orientierung kann ich nur finden, wenn ich mit der anderen Meinung, wenn ich mit dem anderen Wertegefüge konfrontiert werde.
Ich glaub der Alexander hat den Weg gewiesen, das ist eine Frage des Lehrplans und eine Frage der Zusammenarbeit an den Schulen. Wie Sie vorhin gesehen haben, sprach die eine Schülerin von der islamischen Freundin, die bei uns im Religions- und auch im Ethikunterricht referiert über ihre Religion. Unsere jüdischen Schüler referieren im katholischen Religionsunterricht natürlich über ihre Religion. Die ökomenische Zusammenarbeit zwischen evangelisch und katholisch ist bei uns schon so eng, dass es manchmal ununterscheidbar wird, aus Obrigkeitssicht fahrlässig ununterscheidbar. Da hab ich gar keine Sorge, dass die Toleranz und der Blick auf den Anderen, wenn ich von einer bestimmten Perspektive ausgehe, zu kurz kommen."

"Aber man muss auch sehen, in dem Moment wo es eine Entscheidungsfreiheit gibt, schafft man immer Mehrheiten und Minderheiten.
Jetzt müssen wir zwei Sachen unterscheiden, das gibt es eh, die Mehrheiten und Minderheiten. Wie sensibel die Schüler sind, sieht man, dass die in der Mehrheit nicht das bayerische Modell gewählt haben, sondern sagen, ich finde das Pro Reli Modell besser, weil es die Minderheit stärkt, wobei Sie ja an den Zahlen gesehen haben, dass die Zahlen für Mehr- und Minderheiten in München nicht mehr gelten, wir haben ja die Mehrheit in Ethik. Ob ich da jemanden als Minderheit und Mehrheit stemple, das ist eine Frage des Umgangs, der Integration, des Integrationswillens und weniger eine Frage der Struktur des Unterrichts."

14 Uhr, für viele Schüler beginnt der Nachmittagsunterricht. Marcus Schroll, Lehrer für israelitischen Religionsunterricht sitzt im Aufenthaltsraum. Israelitischer Religionsunterricht ist wie übrigens wie Reli und Ethik auch, am Luitpold-Gymnasium ordentliches Lehrfach, also Vorrückungsfach. Allerdings mit anderen Themen und Gewichtungen.

"Das beste Beispiel ist ein Themenbereich, der gerade in der Oberstufe in der besprochen wird: Genforschung, therapeutisches Klonen, Stammzellenforschung. Wir besprechen diesen Punkt natürlich sehr kontrovers. Wie steht unsere jüdische Tradition dazu? Die Vorstellung des Menschen im Judentum ist ja, dass der Mensch als Partner Gottes teilhat an der Schöpfung, die ja noch unvollendet ist, zu vervollkommnen. Im Judentum nennen wir das tikkun olam. Dieses Projekt der Vervollkommnung finden wir in seiner gesamten Breite auf dem Gebiet der Stammzellenforschung, des therapeutischen Klonens. Dem steht das Judentum sehr positiv gegenüber und wir diskutieren, warum es im Judentum erlaubt ist und im Katholizismus und im Protestantismus anders ist und mit großer Skepsis gesehen wird."

Klassisches Beispiel: Solche Themen könnten besonders gut besprochen werden, würden alle Schüler in einer Klasse sitzen, würde Katholiken, Protestanten, Juden, Atheisten und die Konfessionslosen ihre Erfahrungen und Meinungen austauschen.

Keiner der Lehrer ist offensichtlich von dieser Idee, also vom Modell Brandenburg besonders begeistert, auch nicht der Ethiklehrer, Günter Lötz-Grütz. Er ist dagegen,

"dass beispielsweise in einem solchen gemeinsamen Fach Gläubige egal welcher Religion sitzen und über Dinge nachdenken, die sie zum Zweifeln bringen. Ich will auch keine Schüler in einer Gruppe, die Ethik-Religion heißt, die etwas erwarten, das ihren Glauben stärkt. Das heißt auch, dass ich es bedauere, wenn Moslems oder andere Religionszughörige in Bayern keine Chance haben, ihrer Religion in der Schule zu folgen, weil die in den Ethikunterricht müssen. Das hat sich immer als ein Problem rausgestellt. Die interessiert nicht die Philosophie, die das Zweifeln lehrt, sondern sie wollen einen Glaubensunterricht in ihrem Fach haben und müssen in Bayern in Ethik gehen. Das ist ein Problem. Weil ich diese Erfahrung habe, bin ich ganz entschieden dagegen, alle mit einem gemeinsamen Unterrichtsfach zu beglücken."

Die befragten Lehrer des Luitpold-Gymnasiums München sind sich mit den Schülern einig: Es soll beides angeboten werden und zwar wahlweise: Reli oder Ethik. Denn, so das Argument der Lehrer: Die Erwartungen an die Fächer sind grundverschieden.

Am Ende noch einmal die Frage aufs Ganze, was kann Wertevermittlung an der Schule überhaupt leisten, kann sie etwa dazu beitragen Horrorszenarien wie Amokläufe an Schulen zu verhindern? Was ist die Aufgabe?

"Ich glaub, dass eine Erziehung darauf basiert, einen Menschen stark zu machen. Und wenn er stark ist, wird die Wahrscheinlichkeit kleiner, dass er in Extremsituationen so reagieren muss, dass er äußerlich seine Stärke so präsentieren muss. Je mehr ich eine Vorstellung hab, von dem eigenen Leben, was ich will, soll könnte, desto weniger werde ich in eine Verzweiflungssituation geraten, die mir völlig ausweglos erscheint."

Übrigens: Die zweite Frage auf dem Abstimmzettel lautete, soll die Schule überhaupt Fächer anbieten, die sich mit Wertevermittlung beschäftigen oder nicht.
Klare Antwort: 21 von 22 Schüler waren dafür, nur ein einziger oder eine einzige dagegen.