Rekrut, Spätentwickler, Wörtersammler

Die Armee als Einrichtung der äußersten Verrohung und Brutalisierung ihrer Mitglieder: László Garaczi schickt einen introvertierten und erfolglosen Protagonisten zum Wehrdienst in Ungarns Militär. Dort herrscht der institutionalisierte Wahnsinn – für den Leser eine beeindruckende Zumutung.
Das Militär hat in der Literatur keinen Fürsprecher, erst recht nicht, wenn das Los der Wehrpflichtigen zur Sprache kommt. Die Waffenträger müssen noch froh sein, wenn Heinrich Böll in „Ende einer Dienstfahrt“ oder Sven Regener in „Neue Vahr Süd“ es bei satirisch-absurden Szenen belassen. Denn ansonsten wird die Armee als Einrichtung der äußersten Verrohung und Brutalisierung ihrer Mitglieder charakterisiert – in Uwe Tellkamps „Turm“ nicht anders als in den „Bekenntnissen eines Lemuren“ des 1956 in Budapest geborenen László Garaczi.

Sein Protagonist Csont ist ein Spätentwickler, introvertiert, unsicher, einsam und erfolglos bei den Frauen. Gern wäre er Hippie, dann fielen das Revoltieren und das Mädchen-Aufreißen entschieden leichter. Einstweilen glückt nur das Sammeln von Wörtern, die er auf Zettel schreibt und in einer „Flügelmappe, Ungarische Norm 5617“ birgt.

Als Sammelgebiet ist das „Revolutionäre Regiment der Dritten Verteidigungslinie“ für den jungen Rekruten durchaus ergiebig, doch für alles andere ist keine Zeit. Nach kurzer Schinderei in der Kaserne besteigt er mit Kameraden einen LKW. Die Rekruten glauben voller Angst, es gehe in den Krieg. Zwar sollen sie auf dem flachen Winterland nur Rüben ernten, Schlachten aber stehen ihnen durchaus bevor: Einer von ihnen kastriert einen Hund mit dem Messer, mit dem er danach Wurst absäbelt. Ein anderer schlägt einen Kameraden krankenhausreif, eine Bauernhütte wird im Suff abgefackelt, Jeeps verunglücken.

Csont wird seinem Spitznamen „Knochen“ immer ähnlicher. Er magert ab und verliert mit dem Fleisch das Menschenähnliche. Zwei unheimliche, für andere unsichtbare Gestalten beginnen, ihn zu begleiten: ein nackter Alter und ein Lemur, ein Affe. Der Alte könnte Csonts Zukunft sein, und im Lemuren, so liest er beim Weihnachtsurlaub im Lexikon der Eltern, sahen die antiken Römer die Seelen der Verstorbenen. Csont überkommt, was auf einem seiner Wörterzettel steht: „schlammgraues Entsetzen“. Er versucht der Armee zu entkommen, was nach einer grausamen Selbstverstümmelung auch gelingt.

Csonts Überwältigung durch die Armeerealität fängt László Garaczi im dritten Teil seiner Lemuren-Trilogie, deren erste Bände auf Deutsch im Band „Die wunderbare Busfahrt“ vereint sind, in einer dichten Folge von Ereignissen ein. Schlupflöcher wie Reflexionen, Gefühle, Lektüren oder auch nur Gespräche fehlen. Csonts einziger Zufluchtsort sind die gesammelten Wörter. Ringsum herrscht institutionalisierter Wahnsinn, den Garaczi in einer grandiosen Szene einfängt: Die Rekruten müssen herabgefallene Blätter wieder an die Bäume heften. Unbefriedigend ist nur der Aufbau des Buches als Triptychon: Während Csont in der Mitte ein kalt registrierender Erzähler auf den Fersen ist, erzählt die Hauptperson zu Beginn der Armeezeit und nach ihrem Ende selbst. Diese glückende Rückkehr zum Subjektsein, dazu zur begehrten Frau nimmt dem beklemmenden Mittelteil leider die Schärfe. Insgesamt aber sind die „Bekenntnisse eines Lemuren“ eine beeindruckende Zumutung.

Besprochen von Jörg Plath

László Garaczi: Bekenntnisse eines Lemuren
Roman
Aus dem Ungarischen von György Buda
Literaturverlag Droschl, Wien 2011
191 Seiten, 19 Euro