Reiter der atomaren Apokalypse

Von Jochen Stöckmann · 07.07.2008
Die paradoxe Idee einer Friedenssicherung durch massive gegenseitige atomare Bedrohung stammt keineswegs von Militärs, sondern von einem Zivilisten: dem 1922 als Sohn mittelloser jüdischer Einwanderer in Bayonne bei New York geborenen Mathematiker und Physiker Herman Kahn. Mit einer "doomsday machine", einer Weltuntergangsmaschine, die den Planeten computergesteuert in Trümmer sprengen sollte, sobald sich ein atomarer Angriff auf die USA abzeichnete, trieb Kahn die angeblich friedenssichernde Logik der gegenseitig angedrohten totalen Zerstörung auf die Spitze. Vor 25 Jahren, am 7. Juli 1983 ist Herman Kahn, der Begründer der "Futurologie" in New York gestorben.
Specknacken und riesige Hornbrille, den gewaltigen Bauch vorgeschoben, so steht Herman Kahn am Vortragspult. "Fat Man" lautet die Schlagzeile unter dem Zeitungsfoto. Damit spielt der "New Yorker" nicht nur auf die Leibesfülle an. "Fat man", dicker Mann, war der Spitzname für jene Atombombe, die 1945 auf Hiroshima fiel. Und Herman Kahn, ein Physiker, lernte im Thinktank, in der Denkfabrik der RAND Corporation, sehr früh, die Bombe zu lieben. Ein "Dr. Strangelove", ein "Dr. Seltsam", wie es 1964 im Titel von Stanley Kubricks Film heißt. Die bittere Satire auf die mörderischen Atomkriegsstrategien war gespickt mit Zitaten aus Kahns Buch "Über den thermonuklearen Krieg", der Professor verlangte Honorar für Kubricks Drehbuch. Auch Regisseur Sidney Lumet hatte sich bedient. In seinem Atomkriegsszenario "Fail Safe" provoziert Walter Matthau als Zukunftsforscher eine Partygesellschaft in Washington:

" Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass uns der nächste Krieg 60 Millionen Menschenleben kostet. - Na ja, was ist schon für ein Unterschied zwischen 60 und 100 Millionen? - 40 Millionen! "

Das "Undenkbare denken" war Kahns Devise, mit diesem Motto machte er RAND zum politisch einflussreichen Faktor. Die Denkfabrik in Santa Monica war 1947 von der Air Force gegründet worden. Kahn, 1922 in New Jersey geboren und als Zwanzigjähriger Fernmeldesoldat im Zweiten Weltkrieg, war von Anfang an dabei.

Als "Reiter der atomaren Apokalypse" geschmäht, personifizierte Kahn eine völlig neue Generation des "militärischen Intellektuellen". Ihre kalte Logik der Planspiele und Computerszenarien war fronterfahrenen Generälen fremd:

Bernd Greiner: " Der Kalte Krieg war das Terrain von Zivilisten. Und zwar deshalb von Zivilisten, weil die Mehrzahl der Spitzenmilitärs - insbesondere vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs - sehr risikoscheu geworden ist. "

Für Bernd Greiner, Militärhistoriker aus Hamburg, spielen Vordenker wie Herman Kahn eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Strategien der atomaren Abschreckung - die Ende der fünfziger Jahre auf moralische Bedenken ausgerechnet bei den Generälen stießen:

Aus dem Film "Fail Safe": " Wir halten nichts von Angriffen aus dem Hinterhalt, so, wie man es in Pearl Harbour mit uns gemacht hat. - Die Japaner waren damals durchaus im Recht. Von ihrem Standpunkt aus gesehen waren wir für sie der Todfeind. Ihr Fehler war nur, dass sie uns nicht am ersten Kriegstag vernichtet haben. "

Nicht nur "Fehler", sondern alle nur erdenklichen Reaktionen beider Seiten, versuchte Herman Kahn in sein Kalkül einzubeziehen. So spielte er in einer Tabelle einige Dutzend Varianten des atomaren Schlagabtauschs durch, darunter eine für den Fall, dass die US-Bevölkerung in tiefen Schächten unter der Erde das nukleare Inferno überleben würde. Die Entspannungspolitik machte solche Projekte in den Siebzigern überflüssig, ließ sie so wahnwitzig erscheinen, wie Kubrick es in seinem Film "Dr. Strangelove" dargestellt hatte. Herman Kahn hatte sich da bereits anderen Zukunftsfragen zugewandt, propagierte gegen die pessimistischen Vorhersagen des Club of Rome den unbegrenzten Fortschritt der Technik, gab auch sozialpolitische Empfehlungen ab. Dabei kam es, wie in den Thinktanks üblich, nicht darauf an, ob diese Prognosen jemals eintreffen würden. Entscheidend war die Reaktion der Politiker, die den als "Sachzwang" verkleideten Unkenrufen der Experten immer häufiger folgten:

" 25 Jahre lang haben die Deutschen Erfolg gehabt, und dieser Erfolg klappt jetzt nicht mehr. Sie brauchen mehr Flexibilität. Noch etwas, was wir für Deutschland empfehlen würden, wäre, dass etwa zwei Leute sich einen Arbeitsplatz teilen. Dann würde man aber den Stundenlohn nicht erhöhen, sondern senken. Und so würden also beide Seiten gewinnen, "

so Herman Kahn in einem letzten Radiointerview über seine Analyse "Die Zukunft Deutschlands. Niedergang oder neuer Aufstieg der Bundesrepublik." Das Buch kam im Frühjahr 1983 heraus, wenige Wochen bevor der Erfinder der "Futurologie" am 7. Juli 1983 in New York einem Schlaganfall erlag. Und am nächsten Tag von US-Präsident Ronald Reagan geehrt wurde mit der Bemerkung, dass Herman Kahn einer der wenigen Intellektuellen gewesen sei, der noch an das Gute im Menschen glaubte.