Reisender zwischen den künstlerischen Formen

Von Siegfried Forster |
Am 14. September feiert Michel Butor seinen 80. Geburtstag. Butor gehört zu den letzten noch lebenden Giganten der französischen Literaturgeschichte und zu den Protagonisten des "Nouveau Roman", die traditionelle Erzählformen und Romanstrukturen überwinden wollte. Eine Ausstellung in Paris würdigt jetzt Butors ständige Suche nach neuen literarischen Formen.
Michel Butor ist mit seinen fast 80 Jahren einer der letzten noch lebenden Giganten der französischen Literaturgeschichte. Der kurioserweise seit langem in den Schulbüchern steht, aber im Vergleich zu Houellebecq und Co als heute nahezu unbekannt gelten darf, beklagt Kuratorin Marie-Odile Germain:

"Michel Butor ist für viele Franzosen, aber auch für viele Europäer, der Schriftsteller des 'Nouveau Roman’ geblieben. Der Autor von 'La Modification', für den er den begehrten Renaudot-Literaturpreis bekommen hat - das war 1957! Für einige Leser gehört er also nur noch der Literatur-Geschichte an. Doch sein Gesamtwerk ist immens: er hat 1.400 Texte veröffentlicht, manchmal sind das nur ganz kleine Bücher oder Künstlerbücher, aber auch Romane und Gedichte. Wir wollen nicht alles zeigen, sondern beleuchten, was ihn am Schreiben hält."

Bis heute wird Michel Butor oftmals noch auf sein revolutionäres Werk "La Modification" reduziert, das kurioserweise wörtlich "Veränderung" bedeutet, ihn aber förmlich auf die Rolle des "Nouveau Roman"-Protagonisten, des Sprach- und Literatur-Zerstörers festnageln sollte. Bis heute versteht er die Vorwürfe nicht, die ihm seine akribische Beschreibung "Paris-Rom oder Die Modifikation" eingebracht hat:

"Ja, das hat eine Art Skandal hervorgerufen. Was mich erstaunt hat. Denn ich bin eine sehr ruhige Person und ich strenge mich an - insbesondere aufgrund meines Nachnamens. Früher war die Bezeichnung 'butor' eine Beleidigung: Grobian - das hat mich gezwungen, so höflich wie nur möglich zu sein... ich habe diesen Roman also überhaupt nicht deswegen geschrieben, um die Leute zu ärgern, das war in keinster Weise eine Provokation. Sondern es ging mir darum, Rechenschaft abzulegen von den Erfahrungen meiner USA-Reise ..."

Paris, Rom, England, Ägypten, Japan, Amerika, Australien: Seine zahlreichen Reisen halten Butor bis heute am Leben und Schreiben. Studien- und Lehraufenthalte, Entdeckungsfahrten in alle Kontinente, nach denen bei ihm die Literatur immer in buchstäblich besonderer Form aufblühte. Dafür sorgt seine unaufhörliche Suche nach künstlerischem Dialog: Er verfasst nicht nur Texte und Bücher, sondern Literatur als Gesamtkunstwerk, in Zusammenarbeit mit Bildhauern, Malern, Photographen, Musikern:

"Das beinhaltet eine besondere Beziehung zu den Künstlern. Das bedingt, dass der jeweilige Künstler ihnen ein außergewöhnliches Vertrauen entgegenbringt. Denn wenn sie auf seinem Gemälde an der falschen Stelle schreiben, dann können sie alles zerstören. Er selbst muss ihnen also die Türen zu seinem Werk öffnen."

Mit Joël Leick fertigte er 2003 ein monumentales Künstlerbuch auf den Treppen von Montmartre an. Malerei und Schrift - Seite an Seite, besser gesagt: ineinander verschlungen auf einer Länge von zehn Metern - drei Meter zu lang für den größten Schaukasten der Französischen Nationalbibliothek und damit typisch für Butor, schmunzelt Marie-Odile Germain:

"Der Titel lautet: 'Zwei Seefahrer auf Montmartre'. Das Werk handelt also von Paris und der Schifffahrt, die bei Butor oft vorkommt. Und auf dieses Künstlerbuch hat Butor einen kalligraphischen Text aufgemalt. ... Die Malerei kam dadurch zustande, dass der Maler Farbe auf die zehn Meter langen Buchseiten geschüttet hat, die dann durch die steile Treppe von Montmartre nach unten gelaufen ist. Ein Happening. Das Ergebnis ist sehr schön: sehr fließend, mit blauen und schwarzen Farben, viel weißem Hintergrund und einigen Farbflecken. ... mit viel Bescheidenheit, Neugier, Vergnügen haben sie letztlich etwas sehr Schönes erzielt, was zum Modernsten der Kunst gehört."

Bei einem Schriftsteller wie Michel Butor, der Freundschaft unterhält mit Pierre Alechinsky und Pierre Boulez, weiß man nie, auf welche Reise man sich bei ihm einlässt. Bereits 1969 sorgte er zusammen mit Henri Pousseur mit seiner interaktiven Oper "Votre Faust" in der Piccola Scala für einen Skandal, unter anderem, weil er das Publikum über den Ausgang der Oper entscheiden ließ. Damals wie heute ist Butors Art, Grenzen zu überschreiten, die Grenzen zwischen den Künsten aufzuheben.

Reisen sind bei ihm nicht nur Reisen zwischen Kontinenten, sondern immer auch eine Reise zwischen den künstlerischen Formen, Reisen zwischen unterschiedlichen Buch-Objekten, die Bilder enthalten, auseinandergeklappt oder zusammen gerollt werden können. Nach dieser Ausstellung wird von Butors monumentalem Oeuvre mehr als nur die Spitze des Eisberges in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen. Butor, der mit seinen 80 Jahren junge Schriftsteller wie Roman Graf begeistert:

"Es gibt junge Romanschriftsteller, die Butor lesen. Marie Darrieussecq beispielsweise liebt ihn sehr. Die Autorin von 'Truisme' ('Schweinerei'). Abgesehen davon ist Butor auch ein großer Literatur-Professor, der in aller Welt unterrichtet hat. Er hat große Erfahrung im Umgang mit Texten, mit Experimenten in Bezug auf die literarische Form. Ein Schriftsteller wie Frédéric-Yves Jeannet unterhält mit Butor eine fast familiäre Beziehung. Es gibt einen Briefwechsel zwischen ihnen mit dem Titel: ‘Von der Distanz’. Das ist insofern interessant, denn es gibt bei Butor immer Distanz, Grenzen, Passagen, Reisen."