"Reisebüro" in den Westen

16.07.2010
Keine Mutmaßungen, sondern akribische Recherche: Der Schriftsteller Uwe Johnson, der selbst kurz zuvor die DDR verlassen hatte, interviewte 1963 Fluchthelfer der sogenannten Girrmann-Gruppe - und rekonstruierte detailliert Vorbereitung und Verlauf der Aktionen. Jetzt sind die Gesprächsprotokolle bei Suhrkamp erschienen.
Uwe Johnson lehnte die Bezeichnung "Flüchtling" für sich ab. Er nannte den Weggang aus der DDR - kurz vor dem Erscheinen seines Debüts "Mutmaßungen über Jakob” 1959 - einen "Umzug". Den Ausdruck Flüchtling hielt er "nicht für anwendbar auf jemand, der nur ein paar Kontrollen oder eine Kontrolle überstanden hat und dann von einer S-Bahnstation zur anderen fährt". Flucht dagegen, so Johnson in einem Gespräch, ist eine Reise, "die mit allen möglichen Mitteln behindert wird, in der sehr viel Gefahr enthalten ist. Man wird verfolgt, es ist einem alles egal, außer: dass man ankommt".

Johnson wusste, wovon er sprach. Er kannte das Bangen und Zittern, denn nur durch die Hilfe von engsten Freunden und mit der Unterstützung von Fluchthelfern gelang seiner Freundin Elisabeth Schmidt im Februar 1962 die Flucht nach Westberlin. Mit einigen Mitgliedern dieser Fluchthelfergruppe führte er Anfang 1963 Gespräche in seiner Wohnung in der Niedstraße 44 in Berlin Friedenau, die er mit einem Tonbandgerät aufzeichnete.

Grundlage des nun im Suhrkamp Verlag erschienenen Bandes - er enthält außerdem Johnsons 1965 entstandene Erzählung "Eine Kneipe geht verloren" - bilden die beiden Gespräche, die Johnson mit Detlef Girrmann und Dieter Thieme führte. Von der Existenz des Tonbandes erfuhr der Herausgeber, Burkhart Veigel, 2001.

Johnson, der unglaublich pedantisch recherchierte, wollte Einzelheiten über die Vorbereitungen und den Fluchtverlauf von jenen erfahren, die über genaue Kenntnisse verfügten. Ursprüngliches Ziel der Gruppe war es, die an der Westberliner Freien Universität immatrikulierten Studenten aus der DDR, die nach dem Mauerbau keine Möglichkeit hatten, ihr Studium fortzusetzen, in den Westen zu holen.

Dabei verzichtete man auf profitable Geldeinnahmen, weshalb sich die Girrmann-Gruppe als eine Art "Reisebüro" verstand, während sie vom "Neuen Deutschland" als "Bande" bezeichnet wurde. Über die Vorgehensweise, die geheimen Wege, die die Fluchthelfer gehen mussten, und auch die Versuche der Stasi, die Gruppe zu unterwandern, wird man sehr genau und aus erster Hand informiert.

Doch so informativ die Gespräche auch sind, es kostet einige Mühe, sie zu lesen. Das liegt daran, dass man bei der Transkription aus Gründen der Authentizität die mündliche Gesprächssituation beibehalten hat. Was also haben die Johnson-Liebhaber von diesem Buch? Sie bekommen einen Eindruck, wie Johnson akribisch gearbeitet hat, um die Realität möglichst genau beschreiben zu können. Deshalb interessierte ihn selbst die Größe des Kartons, in dem die Mappen der potentiellen Flüchtlinge abgelegt wurden.

Manchmal enthalten seine Fragen bereits mögliche Antworten: "Da haben Sie doch so auch gesagt [...]." Und er scheint beglückt, wenn seine Vermutung mit einem "Ja, das stimmt" bestätigt wird. Eine gewisse Zufriedenheit merkt man Johnson in den Gesprächen an, wenn er von bestimmten Wörtern erfährt, die die Fluchthelfer gebrauchten, und die von poetischer Kraft sind. Wer wissen will, wie es in Uwe Johnsons Dichterwerkstatt zuging, der erhält durch dieses Buch einen Einblick und erfährt: Mutmaßungen waren seine Sache nicht.

Besprochen von Michael Opitz

Uwe Johnson: Ich wollte keine Frage ausgelassen haben. Gespräche mit Fluchthelfern
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
247 Seiten, 22,80 Euro