Reise ins eigene Innenleben
"Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick" ist die seit gut 240 Jahren überfällige Übersetzung der "Sentimental Journey". Es sind anscheinend Reisenotizen von einem englischen Geistlichen, der 1762 nach Calais übersetzt. Nur, diesen Mr. Yorick interessiert so gar nichts, was man "gesehen haben muss".
Da ist sie endlich - die seit gut 240 Jahren überfällige Übersetzung der "Sentimental Journey", die der Gemeindepfarrer Laurence Sterne ab 1768 in mehreren Bändchen erscheinen lassen wollte. So wie sein erstes großes Werk, "The Life and Opinions of tristram Shandy, Gentleman".
Wie das? Hatte die empfindsame Reise nicht gerade deutsche Leser zu Anbetung animiert? Hatte sie nicht hier sofort eine ganze Literaturgattung der Empfindsamkeit provoziert? Doch! Sie haben ihn alle verehrt, die Meisterdenker und Dichterfürsten. Aber sie durften nur einen halben Gott verehren. Gleich die erste deutsche Übersetzung, von J. J. C. Bode 1768 geliefert, hatte dem armen Yorick alas! denselben Keuschheitsgürtel verpasst wie zuvor dem armen Shandy. Der war ihn nach gut 220 Jahren wieder los geworden, ebenfalls dank des vielfach preisgekrönten, brillanten Übersetzers Michael Walter.
Nun also die ganze "Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick". Anscheinend Reisenotizen, von einem englischen Geistlichen, der 1762 nach Calais übersetzt, vielleicht zur damals modischen grand tour. Nur, diesen Mr. Yorick interessiert so gar nichts, was man "gesehen haben muss"; er geht auf keine Bildungsreise wie der englische Jungadel. Yoricks Reise führt ins eigene Innenleben, das höchst verhedderte und von ihm selbst bis in feinste Details protokollierte und kommentierte.
Er ist, wie er auf Seite 82 enttarnt, "ständig verliebt" und hält die Zeit zwischen "der einen Verliebung und der nächsten" für die wahre Sünde: Dann sei er schändlich geizig - entflammt dagegen "bin ich die Großmut und Menschenfreundlichkeit in Person". Folglich gerät er ständig in erotische Verstrickungen, die allerdings plötzlich durch Empathie platonisch unterlaufen werden, oder er schlägt aus vermeintlich Platonischem erotische Funken - durch Wörter mit doppeltem Boden und situative Mehrdeutigkeit. Er treibt ein Spiel mit Erwartungen und deren Durchkreuzung.
Dass die deutschen Leser just um die Sterne/Yorick'sche Ironie betrogen wurde, ist eine Ironie der Geschichte. Zeitgenossen könnten immerhin die groteske Szenerie - ein Engländer fährt im Siebenjährigen Kriegs ausgerechnet nach Frankreich - noch verstanden haben. Der Rest fiel einem doppelten Vermummungsgebot zum Opfer. Sterne selbst hatte - nach dem frivolen Ruf des Shandy - allzu "Pornographisches" getarnt, die deutschen Übersetzer haben seinen Witz, seine Selbstironie, gerade in eroticis, vermummt.
So konnte das "empfindsame" Prinzip - Selbstbeobachtung als Medium der Weltaneignung - hierzulande bald zu schwärmerischer Sentimentalität veröden und betäubte die Sinne für das atemberaubend Moderne dieses Romans. Er hat eine fast freejazzig-freie Form, er operiert fast filmisch mit Zeitschnitten und Ortswechseln hin und her. Zeit wird mal slowmotionartig zerdehnt - 68 Seiten für nur gut eine Stunde Calais -, mal passieren Zufälle in Sekundenschnelle oder chrono-un-logisch. Oder plötzlich steigt Mr. Yorick kurzerhand aus der Handlung aus und stellt eine Figur vor, macht Kunst als künstlich erkennbar, spielt mit dem Medium.
Dass diese Reise in Frankreich stecken bleibt, ist der einzige "Etikettenschwindel", den Sterne nicht mit Wonne selbst inszeniert hat - er starb drei Wochen nach dem Erscheinen der ersten beiden Bändchen an Schwindsucht. Wer weiß, welche Täuschungsmanöver er uns noch aufgetischt hätte, hätte Yorick es auch nach Italien geschafft, pardon: gen Italien.
Besprochen von Pieke Biermann
Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick
Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter
Verlag Galiani Berlin 2010,
360 Seiten, geb., 24,95 Euro
Wie das? Hatte die empfindsame Reise nicht gerade deutsche Leser zu Anbetung animiert? Hatte sie nicht hier sofort eine ganze Literaturgattung der Empfindsamkeit provoziert? Doch! Sie haben ihn alle verehrt, die Meisterdenker und Dichterfürsten. Aber sie durften nur einen halben Gott verehren. Gleich die erste deutsche Übersetzung, von J. J. C. Bode 1768 geliefert, hatte dem armen Yorick alas! denselben Keuschheitsgürtel verpasst wie zuvor dem armen Shandy. Der war ihn nach gut 220 Jahren wieder los geworden, ebenfalls dank des vielfach preisgekrönten, brillanten Übersetzers Michael Walter.
Nun also die ganze "Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick". Anscheinend Reisenotizen, von einem englischen Geistlichen, der 1762 nach Calais übersetzt, vielleicht zur damals modischen grand tour. Nur, diesen Mr. Yorick interessiert so gar nichts, was man "gesehen haben muss"; er geht auf keine Bildungsreise wie der englische Jungadel. Yoricks Reise führt ins eigene Innenleben, das höchst verhedderte und von ihm selbst bis in feinste Details protokollierte und kommentierte.
Er ist, wie er auf Seite 82 enttarnt, "ständig verliebt" und hält die Zeit zwischen "der einen Verliebung und der nächsten" für die wahre Sünde: Dann sei er schändlich geizig - entflammt dagegen "bin ich die Großmut und Menschenfreundlichkeit in Person". Folglich gerät er ständig in erotische Verstrickungen, die allerdings plötzlich durch Empathie platonisch unterlaufen werden, oder er schlägt aus vermeintlich Platonischem erotische Funken - durch Wörter mit doppeltem Boden und situative Mehrdeutigkeit. Er treibt ein Spiel mit Erwartungen und deren Durchkreuzung.
Dass die deutschen Leser just um die Sterne/Yorick'sche Ironie betrogen wurde, ist eine Ironie der Geschichte. Zeitgenossen könnten immerhin die groteske Szenerie - ein Engländer fährt im Siebenjährigen Kriegs ausgerechnet nach Frankreich - noch verstanden haben. Der Rest fiel einem doppelten Vermummungsgebot zum Opfer. Sterne selbst hatte - nach dem frivolen Ruf des Shandy - allzu "Pornographisches" getarnt, die deutschen Übersetzer haben seinen Witz, seine Selbstironie, gerade in eroticis, vermummt.
So konnte das "empfindsame" Prinzip - Selbstbeobachtung als Medium der Weltaneignung - hierzulande bald zu schwärmerischer Sentimentalität veröden und betäubte die Sinne für das atemberaubend Moderne dieses Romans. Er hat eine fast freejazzig-freie Form, er operiert fast filmisch mit Zeitschnitten und Ortswechseln hin und her. Zeit wird mal slowmotionartig zerdehnt - 68 Seiten für nur gut eine Stunde Calais -, mal passieren Zufälle in Sekundenschnelle oder chrono-un-logisch. Oder plötzlich steigt Mr. Yorick kurzerhand aus der Handlung aus und stellt eine Figur vor, macht Kunst als künstlich erkennbar, spielt mit dem Medium.
Dass diese Reise in Frankreich stecken bleibt, ist der einzige "Etikettenschwindel", den Sterne nicht mit Wonne selbst inszeniert hat - er starb drei Wochen nach dem Erscheinen der ersten beiden Bändchen an Schwindsucht. Wer weiß, welche Täuschungsmanöver er uns noch aufgetischt hätte, hätte Yorick es auch nach Italien geschafft, pardon: gen Italien.
Besprochen von Pieke Biermann
Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick
Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter
Verlag Galiani Berlin 2010,
360 Seiten, geb., 24,95 Euro