Reise in die Stille

Von Axel Schröder |
Den Ausflug ins Sperrgebiet rund um Tschernobyl können Touristen heute für 150 Euro Eintritt buchen. Von ausgestorbenen Städten und Menschen, die wieder zurückgekehrt sind.
Die Straße wird holpriger, je weiter wir Kiew hinter uns lassen, je näher wir in Richtung Norden fahren. Irgendwann fehlen die weißen Mittel- und Seitenlinien auf dem hellgrauen Asphalt. 20 Journalisten von Zeitungen, Radio und Fernsehen sind unterwegs, begleitet von Tobias Münchmeyer und Heinz Smital von Greenpeace. Die Fahrt führt durch graue, kleine Dörfer, vorbei an verwitterten Ortsschildern mit kyrillischen Buchstaben:

Smital: „Wir werden in einer halben Stunde etwa die 30-Kilometer-Sperrzone erreichen. Dort sind dann erstmal die Personalkontrollen. Da muss man angemeldet sein, da werden die Passnummern verglichen. Und dann fahren wir hinein nach Tschernobyl: Sarkophag, Prypjat und auch Dörfer, wo Leute zurückgekehrt sind, obwohl es eigentlich Sperrgebiet ist.“.

Heinz Smital sitzt ganz vorn im Bus. Lindgrüne Windjacke, auf dem Rücken in dicken weißen Lettern der Name der Umweltschutzorganisation. Der gebürtige Wiener hat Kernphysik studiert. Heinz Smital greift sich das Mikrofon, erklärt die Sicherheitsregeln beim Betreten der Sperrzone:

„Wenn wir dann in kontaminiertes Gebiet kommen, bitte ich Sie, sich an die Empfehlungen zu erinnern. Das heißt, sich vorzustellen, dass das alles kontaminiert sein könnte. Daher: Keine Sachen einstecken, keine Sachen anfassen, möglichst nichts abstellen. Wir teilen noch kleine Tüten aus. Da sind Handschuhe drin und eine Staubmaske. In den Innenräumen in Prypjat empfehlen wir, die Staubmaske aufzusetzen. Der Staub, der dort ist, könnte belastet sein und aus Vorsichtsmaßnahmen ist es dann günstig, so eine Staubmaske zu tragen.“

Die Straße ist wenig befahren, nur ab und zu holpert ein Armeefahrzeug vorbei. Ein Bus mit Bewohnern der kleinen Stadt Tschernobyl oder Arbeitern aus dem Kraftwerk. In der Stadt Tschernobyl leben heute 4.000 Menschen. Zehn Kilometer entfernt, im AKW, das seit elf Jahren stillsteht, kümmern sich noch immer 3.500 Menschen darum, die einst sechs Kraftwerksblöcke und die Abklingbecken voller Brennelemente unter Kontrolle zu halten. Stück für Stück müssen sie die Industrieruine abreißen, ein Mammutprojekt, das noch Jahrzehnte dauern wird.

Ganz schnell muss es im April 1986 gehen: Damals werden vor allem Soldaten direkt am geborstenen Block IV eingesetzt, mit improvisierter Schutzkleidung schaufeln diese sogenannten „Liquidatoren“ Sand und Chemikalien in den Reaktor, errichten innerhalb von sechs Monaten den Sarkophag, eine Schutzhülle aus Zigtausend Tonnen Stahl und Beton:

Smital: „Organisatorisch wurden ja im ganzen Land 800.000 Liquidatoren zusammengezogen, die an diesem Reaktor und an der Beseitigung dieser Katastrophe gearbeitet haben. Aber die Spuren sind heute natürlich auch noch da: Wenn man sich die Kontaminationskarten anschaut, wie hat es 1986 ausgeschaut, wie schaut es heute aus, dann hat sich da nicht so viel getan. Es ist etwas zurückgegangen die Strahlung. Und so sind auch noch die Sperrzonen und die verlassene Stadt erstaunlich konstant!“

Der Bus wird langsamer, parkt vor der weiß-rot gestreiften Schranke. 20 Kilometer vor dem Kraftwerk beginnt die Sperrzone, hier prüft die Miliz alle Papiere, vergleicht die Passnummern mit denen auf ihren Listen. Eine potemkinsche Grenzstation. Denn der stacheldrahtbewährte Grenzzaun endet rechts und links des Postens schon nach 500 Metern. Dahinter kann ein jeder ganz ohne Kontrolle ins Sperrgebiet wandern. Neuerdings kommen immer mehr Katastrophentouristen. Sie zahlen 150 Euro Eintritt, Journalisten zahlen 45 Euro.
Bei jeder Tour in die Sperrzone ist ein Fremdenführer dabei, Tobias Münchmeyer von Greenpeace stellt den 24-jährigen Mann im Tarnanzug vor:

„Das ist Nikolai. Das ist unser Fremdenführer über den ganzen Tag. Er hat gerade gesagt, wir sind eingeladen, ganz kurz mit ihm in den zweiten Stock mitzugehen. Dort müssen wir auch eine Erklärung unterschreiben, wo drinsteht, dass wir das auf eigenes Risiko machen diese Tour. Und er wird zwei, drei Sachen erklären. Wir gehen jetzt alle mal hier rein.“

Eine halbe Stunde später sind wir dort, wo eigentlich niemand leben soll. Die Fahrt führt weiter ins Sperrgebiet, über Straßen, auf die von den Rändern her langsam das Moos kriecht, mit Schlaglöchern, denen unser Fahrer mit wilden Schlenkern ausweichen muss. Die verschlungenen Wege führen ins kleine Dorf Kupowate. Bevor wir zum Reaktor und in die verlassene Stadt Prypjat weiterfahren, besuchen wir eine Rückkehrerin in ihrer kleinen Blockhütte.

Tobias Münchmeyer begrüßt die 78jährige auf Russisch. Der Greenpeace-Aktivist spricht die Sprache fließend, hat Slawistik studiert und seine Frau in Kiew kennengelernt. Hanna Savarodnya, Kopftuch und blassrotes Kleid aus dickem Stoff, reicht ihm die Hand. Schiefe, von der Gicht gezeichnete Finger, denen man die jahrelange Arbeit auf einer Kolchose ansieht. Sie winkt die Journalisten in die Wohnküche, stellt kurz ihre Schwester vor. Die versteckt ihre gehbehinderten Beine unter einer Decke, liegt auf einem Matratzenlager an der Wand. Hanna Savarodnya steht bereit für die vielen Fragen ihrer Besucher.

„Ja, gut. Fragen. Gibt es Fragen?“
- „Also, 1986 sind sie evakuiert worden. Aber 1987 schon wieder zurückgekehrt.“

Die Frau nimmt sich Zeit. Vor ihr, im Halbrund, steht ein Dutzend Journalisten. Sie machen Fotos, schreiben die Blöcke voll, große Filmkameras schwenken durch den niedrigen Raum. Die ukrainische Bäuerin steht ganz professionell im Mittelpunkt, gestikuliert, gibt routiniert Auskunft:

„Die Frage war: „Haben Sie keine Angst hier zu leben?“
-„Nein“, sagt sie, „wieso sollte ich denn Angst haben? Hier leben 22 Menschen! Sechs Kilometer von hier gibt es eine Forstwirtschaft, die bringen Holz zum Heizen, stellen auch den Trecker zur Verfügung, um hier Landwirtschaft zu betreiben.“

Aber sie selbst geht nicht mehr aufs Feld. Erst vor zwei Jahren hat sie ihre Kühe verkauft, geblieben sind ihr die Hühner und zwei Schweine. Immer wieder, erzählt Hanna Savarodnya, sind Messtrupps hier gewesen und haben versichert: Die Milch ist in Ordnung, es besteht keine Gefahr. Zwiebeln, Rotebeete und Kartoffeln baut sie im Garten an und freut sich, dass alle 14 Tage frische Lebensmittel in die Einöde geliefert werden.

Hanna erzählt von ihrer Evakuierung: Am 28. April, zwei Tage nach der Reaktorkatastrophe, steigen alle Dorfbewohner in die bereitstehenden Busse. Zusammen mit ihrem Mann und dem Sohn werden sie rund 100 Kilometer von Kupowate entfernt, am Stadtrand von Kiew, bei einer Gastfamilie untergebracht. Sehr, sehr nette Menschen, erinnert sie sich. Aber nach einem Jahr war klar. Sie wollen zurück. Ins neu geschaffene Sperrgebiet:

„Also, die Heimat kann man sich eben nicht aussuchen. Die ist eben nicht ersetzlich, genau wie eigene Mutter nicht ersetzlich ist!“

Zum Abschied überreicht der Greenpeace-Aktivist einen kleinen Präsentkorb und eine Illustrierte mit dem neusten Klatsch. Dann führt Hanna Savarodnya durch den Garten, zeigt den selbst abgezapften Birkensaft in großen Glasbottichen, aus dem sie Limonade macht. Daneben, der Ahorn, liefert ihr Sirup.

Ein paar Meter entfernt kniet Heinz Smital, hält das Zählrohr seines Kontaminations-Messgeräts nach unten, in Richtung Boden, misst die Strahlung und bekommt ein überraschendes Ergebnis:

„Also, hier ist wirklich eine sehr geringe Kontamination. Es ist im Bereich der natürlichen Hintergrundstrahlung. Also, hier könnte man rein von der äußeren Strahlung her gesehen tatsächlich auch leben.“

Allerdings sind junge Familien mit Kindern immer noch die Ausnahme im Sperrgebiet, denn so unbelastet wie der Garten von Hanna Savarodnya sind noch lange nicht alle Flächen im 30-Kilometer-Radius rund um die Meiler.

Die Fahrt geht weiter. Zur nächsten Station, zum Unglücksreaktor in zehn Kilometer Entfernung. Neben mir sitzt Christopher Schrader von der Süddeutschen Zeitung aus der Wissenschaftsredaktion. Schrader fotografiert aus dem Fenster, macht sich Notizen. Die niedrigen Radioaktivitätswerte in Hanna Savarodnyas Garten hält auch er für eine Ausnahme, auch wenn die Radioaktivität natürlich langsam abnimmt:

„Irgendwann schon. Aber das dauert ein paar Jahrhunderte! Es gibt ja auch im Reaktor selber Uran und Plutonium. Und das dauert richtig, richtig lange. Die paar Jahrhunderte – das bezieht sich auf Cäsium. Und das ist ja auch schon weitaus länger als ein Menschenleben. Für uns, persönlich, ist es eine Ewigkeit.“

Schrader schaut aus dem Fenster. Ein Trupp Arbeiter streicht die verwitterten Leitplanken frisch an, mit dicker, abwechselnd schwarzer und weißer Farbe. Ein Hinweis auf die Gedenkfeier zum Jahrestag der Katastrophe, auf den dann anstehenden Besuch des Präsidenten.

Münchmeyer: „Also hier kommt jetzt der Schlagbaum für die 10-Kilometer-Zone. Das müsste sehr schnell gehen, zwei, drei Minuten. Wir können alle natürlich sitzen bleiben im Bus. Ich glaube, nach ein, zwei Kilometern gibt es dann den freien Blick auf das Atomkraftwerk.“

Beim Kontrollposten geht tatsächlich alles ganz schnell. Tobias Münchmeyer streift sich als erster seine Staubmaske über, die meisten Journalisten tun das gleiche, steigen aus und machen sich auf den kurzen Fußweg zur Besucherplattform. Etwas entfernt knien drei Arbeiterinnen auf dem Asphalt. Mit weißen Kopftüchern, ohne Staubmaske tünchen sie die Bordsteinkanten für den Gedenktag. 300 Meter entfernt, hinter mächtigen videoüberwachten Absperrgittern erhebt sich der Sarkophag, die Schutzhülle über dem explodierten Reaktor. Rund 80 Meter hoch, die Außenhaut aus riesigen Blechen, übersät mit roten Rostflecken, gestützt von tonnenschweren Stahlträgern. Tobias Münchmeyer kneift die Augen zusammen, blickt auf den maroden Schutzmantel:

„Der Sarkophag erinnert mich immer an eine riesige Echse oder ein riesiges Monster, will ich fast sagen. Mit einem ganz schuppigen Panzer, mit großen Roststellen ist das versehen. Über und über. Als wenn das Pocken oder Krankheiten wären, Krankheitsspuren. Das ist ein sehr drastischer Anblick, den man hier hat vor dem Sarkophag.“

Noch drastischer sind die Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Jahr 1986. Viele Fotos, wenige Filme zeigen die Liquidatoren bei der Arbeit. Mit improvisierten Bleischürzen, kleine Bleifetzen auf den Helmen, mit schwarzen Atemmasken und einem Visier aus Glas. Diese Soldaten bekommen Strahlendosen ab, an denen viele innerhalb weniger Wochen sterben. Sie gehen in den Einsatz mit dem Versprechen, danach lebenslang vom Militärdienst befreit zu sein, mit dem Versprechen, dass für ihre Familien gesorgt wird, wenn sie den Kampf gegen die Strahlung verlieren. 100.000 von ihnen, so schätzen Experten, haben den Einsatz nicht überlebt. Heute steht ein Denkmal für sie vor dem Sarkophag.

Münchmeyer: „Ich glaube, es macht einen betroffen und macht einem bewusst, was die Endlichkeit menschlichen Wissens und Könnens betrifft. Es macht auch demütig. Weil man das Gefühl bekommt, hier, mit dieser Technologie – nicht nur in Tschernobyl, sondern weltweit – ist der Menschen eben einen Schritt zu weit gegangen.“

Vor ihm ragt das Denkmal für die Liquidatoren auf. Ein steinernes, zwei Meter hohes Händepaar aus hellem Stein trägt den Sarkophag, beschützt ihn fast behutsam. Darüber schlägt ein gezackter Blitz aus einer stilisierten Alarmsirene. Hier führt Smital den Test durch, hält das Zählrohr seines Geräts in Richtung Reaktor:

„Ich messe hier die Strahlung. Und die kommt direkt aus dem Reaktor, der aber einige Hundert Meter entfernt steht. Wenn ich mich hier hinter ein Denkmal stelle, dann merkt man, dass die Strahlung deutlich abnimmt und deutlich zunimmt, wenn ich wieder aus diesem Schatten heraustrete. Das heißt, die Strahlung, die wir haben, ist wirklich die Strahlung von dem Reaktor und nicht von dem Boden, auf dem wir hier stehen.“

Sechs bis zehn Mikrosievert pro Stunde wirken hier auf den Körper, erklärt Smital. 25 Jahre nach dem Gau ist die Strahlung immer noch so hoch, dass ein Erwachsener hier höchstens vier Tage lang stehen dürfte. Dann wäre die zulässige Jahresdosis erreicht.

Auf 20 Minuten ist der Aufenthalt vor dem Reaktor begrenzt. Wegen der Strahlung und wegen des Zeitdrucks. Zwei Stunden bleiben noch, dann müssen wir – so sind die Vorschriften – wieder raus aus dem Sperrgebiet. Von nun an will unser Busfahrer hupen, wenn wir die verabredeten Ausflugszeiten überschreiten.

Münchmeyer: „Wir fahren jetzt also nach Prypjat. Das sind jetzt noch 500 Meter oder ein Kilometer. Und hier – das hört auch mein Kollege Heinz Smital jetzt deutlich – das hier also ganz, ganz hohe Strahlung ist. Einen ganzen Zacken höher, ich weiß nicht ... um das Zwei- oder Dreifache höher als vorhin vor dem Sarkophag. Und wenn wir hier über die Brücke kommen, sehen wir nach Prypjat runter, auf die Stadt.“

Zwischen dem Reaktor und der einstigen, am Reißbrett entstandenen Vorzeigestadt liegen knapp vier Kilometer. Langsam rollt der Bus den seichten Hügel hinunter. Bis zum 27. April 1986 leben 50.000 Menschen in den unzähligen langgestreckten vier-, fünf- und sechsstöckigen Wohnblöcke. Vor allem Arbeiter im Kernkraftwerk und ihre Familien. Heute stehen die Blöcke grau und verwittert zwischen hohen, noch kahlen Pappeln und Birken, alle Fenster sind herausmontiert. Am Ortseingang versperrt wieder ein Schlagbaum den Weg, der Milizionär wechselt ein paar Worte mit Nikolai und öffnet die Schranke. Die Einfahrt in die verlassene Stadt kommentiert Tobias Münchmeyer:

„Auf der rechten Seite das Restaurant. Dahinter der Kulturpalast, ein großes Theater. – Ja. – Das ist jetzt Downtown Prypjat.“

Heinz Smitals Kontaminationsmessgerät ist mittlerweile im Dauereinsatz, knackert beständig und leise und macht die Strahlung hörbar, erfahrbar.

Münchmeyer: „Hier rechts ist die Post und die Bank. – Also: Wenn wir nicht nur zwei Sachen, sondern drei Sachen sehen wollen, dann müssen wir jetzt sehr diszipliniert sein und sagen, wir sind hier in 25 Minuten wieder am Bus. 20 nach drei, ja? Und wir gehen jetzt zu dem zentralen Platz, wo die Karussells aufgebaut sind.“

Auf dem Festplatz ist Ende April 1986 schon alles vorbereitet für den 1. Mai-Feiertag. Auto-Scooter, Kettenkarussell und ein Riesenrad sind aufgebaut, mit grellorangen Gondeln.

Das grelle Orange hat sich gehalten, alle Gondeln hängen noch an ihrem Platz. Nur das Dutzende Meter hohe Stahlgerüst steht rostbraun da und im kleinen Kassenhäuschen fehlen die Scheiben. Birken wachsen aus dem aufgeplatzten Asphalt.

Münchmeyer: „Es wurde evakuiert nach etwa 35 Stunden. Das heißt, am Nachmittag des folgenden Tages, also: 27. April 1986. Es wurde sehr schnell evakuiert. Es war alles sehr professionell vorbereitet mit vielen, vielen Autobussen. Sodass nach zwei, drei Stunden diese lebendige Stadt tot war. Zurück blieben einige Hundert Arbeiter des Atomkraftwerks. Die wurden erst nach dreieinhalb Tagen evakuiert. Ich habe gesprochen mit einem Arbeiter im Atomkraftwerk, der in der Zeit hier gearbeitet hat. Der mir berichtete, dass das ein schrecklicher Eindruck war, dass sie von der Arbeit zurückkamen am 27. abends und die Stadt komplett leer war. Er ist auf die Post gegangen, um ein Telegramm aufzugeben an seine Frau und das gesamte Postamt war verlassen, auf dem Tisch lagen Hunderte von Telegrammen, die einfach da zurückgeblieben sind, weil auch der letzte Postbeamte evakuiert worden ist. Unvorstellbar, was das für ein Schock gewesen sein muss.“

Hinter Münchmeyer steht eine alte Holzbank. Die Latten zerbrochen, auch hier wächst ein junger Baum durch die Sitzfläche. An der fleckig-grauen Wand dahinter spielt ein junges Mädchen mit riesigen Seifenblasen, lässt sie im Wind verwehen. Das Graffiti-Kunstwerk hat eine Gruppe von ukrainischen und deutschen Sprayern erschaffen. Vor fünf Jahren reisen sie als harmlose Touristen nach Prypjat ein, setzen sich unbemerkt ab und hinterlassen ihre Werke: Gesichter von Kindern, tanzende und kauernde Menschen, riesige farbige Blumen. Die Truppe verschwindet über die grüne Grenze, wird nie gefasst.

Nächste Station: das leere Hotel Polissia, zehnstöckig, an einem weiten Platz gelegen. Bevor es hineingeht, arrangiert Tobias Münchmeyer das nächste Medienevent: Mit dem Mobiltelefon ruft er seinen Greenpeace-Kollegen in Fukushima an. Der untersucht gerade die Verseuchung rings um den japanischen Unglücksreaktor:

„In der Stadt Fukushima haben wir Messungen durchgeführt und da haben wir relativ hohe Werte festgestellt, zwischen anderthalb und knapp vier Mikrosievert. – Das ist ja so viel, wie wir vorhin vor dem Sarkophag gemessen haben ... von hier aus Grüße nach Tschernobyl. Passt auf Euch auf, denn das ist ja auch nicht ungefährlich, wo ihr Euch bewegt ... Tschüß!“

Nach dieser Einlage wird das Hotel erkundet, das größte am Platz. Zehn Stockwerke geht es hoch, über zersplittertes Glas, über Schutt und Staub. Der Blick aus dem obersten Stock fällt auf den hoch aufragenden Schlot vom Reaktorblock IV. Von hier aus ist in der Nacht auf den 27. April 1986 das gleißende Feuer der brennenden Graphitblöcke zu sehen. Kaum jemand in Prypjat erahnt an diesem warmen Frühlingstag schon das Ausmaß der Katastrophe. 25 Jahre später steht die Journalistin Christine Brand oben im Hotel. Für die Neue Zürcher Zeitung ist sie hier, sammelt Eindrücke:

„Wir haben ja die Weisung, nirgends anzukommen, nichts anzufassen, zu berühren. Und da schaudert man dann schon. Und dann denkt man: Das ist alles verstrahltes Gebiet?“

Zu allem Überfluss, erzählt die Schweizerin, fällt ihr eben von der undichten Zimmerdecke ein dicker Wassertropfen mitten ins rotblonde Haar. Der Kopf sagt: Es wird nicht so schlimm sein, das ist frisches Regenwasser. Der Bauch sagt: Wer weiß, was drin ist.

Unten auf dem Platz macht der Busfahrer Druck. In einer Viertelstunde müssen wir raus aus Prypjat, in einer Stunde die Sperrzone verlassen.

Fünf Minuten bleiben für das Schwimmbad, für das leere Becken und die umgestürzten Kleiderständer.

Dann geht es zurück, vorbei am Reaktor und am sogenannten Roten Wald. Der ist bekannt für seine extrem hohe Strahlung. Smitals Messgeräte schlagen Alarm:

„Hier ist ein besonders belasteter Punkt. Hier ist besonders viel Strahlung. Die heute noch nachweisbar ist!“

Sehr zügig passiert der Bus die Stelle, an der hochradioaktives Material einfach im Erdreich verbuddelt wurde. 800 dieser improvisierten Müllkippen gibt es in der Umgebung von Block IV.

Gerade noch pünktlich rollt der Bus aus der Sperrzone, fährt nach Süden, zurück nach Kiew. Christopher Schrader schaut lange still aus dem Fenster, Kamera und Notizblock sind verstaut. Er hat Feierabend:

„Ja, sicher verändert das was. Es ist erschreckend und leider so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich hab die Dimensionen nicht gekannt und die Landschaft nicht und so die Geräusche von den Strahlenmessgeräten zu hören, das ist schon noch mal ein anderer Eindruck als man ihn aus geschriebenen Berichten bekommen konnte. Und das Knirschen unter den Füßen, wenn man in den Gebäuden herumläuft, der Anblick dieser Birke in dem Dachgeschoss von dem Hotel, die sich da in dem aufgeplatzten Bodenplatten angesiedelt hat.“

Schrader schaut wieder hinaus. Bleibt schweigsam. Übervoll mit neuen Eindrücken, mit Bildern und Geräuschen geht es zurück. Im Gedächtnis: die fast fröhliche alte Hanna Savarodnya und mürrische Grenzer, Warnhinweise vor dem Unsichtbaren und tickende Messgeräte. Tote, graue Häuser aus einer verlassenen Stadt. Vier Nächte lang träume ich von Prypjat. Von stillen grauen Plätzen und Häusern, ohne Leben.
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