Reise in den menschlichen Organismus

Rezensiert von Kim Kindermann · 08.12.2005
Alles, was dieser Mann anfasst, gelingt: Er ist erfolgreicher Mediziner, Inhaber eines Lehrstuhls für Radiologie und Mikro-Therapie, er leitet sein eigenes Institut. Seine Bücher "Mein Rückenbuch" und "Mensch bleiben" waren Verkaufsschlager. Jetzt hat Dietrich Grönemeyer sein erstes Kinderbuch geschrieben: "Der kleine Medicus" entführt den Leser in das Universum des menschlichen Organismus.
Fantasievoll und leidenschaftlich entführt Dietrich Grönemeyer seine kleinen - wie aber auch die großen Leser - in die Geheimnisse des menschlichen Organismus. Er erklärt anschaulich und einprägsam, wie was genau funktioniert und lässt keine Frage aus. Angefangen bei der Anatomie über die verschiedenen Körperabläufe hin zu den unterschiedlichsten Behandlungsmethoden wird alles erklärt.

Spannend ist das, weil Grönemeyer kein Kinderlexikon geschrieben hat, sondern eine aufregende Abenteuergeschichte erzählt, deren Ereignisse Fragen aufwerfen, die unbedingt beantwortet werden müssen:

Was ist eigentlich ein Arzt? Was ist ein Bänderriss? Und tut es weh, wenn ich eine Kernspinntomographie machen lassen muss? Fragen über Fragen hat der zwölfjährige Nano, als er seinen am Fuß verletzten Freund Frido zu Professor X in die Klinik begleitet. Gut so, dass Professor X zu der seltenen Gattung Arzt zählt, die sich Zeit nimmt und die Fragen des Kindes gerne ausführlich und auch anschaulich beantwortet.

Da bleibt kein Wissenswunsch offen. Denn wie aus Zauberhand erscheint plötzlich Fridos verletzter Fuß als Hologramm schwebend vor den staunenden Kinderaugen und enträtselt das faszinierende Innenleben eines Fußes. Eines Fußes, der bei Frido nur verstaucht ist und nach zehn Tagen Ruhe und kalten Wickeln wieder voll funktionsfähig sein wird, wie Professor X seinen Gästen erklärt, bevor er sie nach Hause entlässt. Ende gut, alles gut, könnte man meinen.

Aber da wurde die Rechnung ohne Nano gemacht. Nach all dem steht für ihn unausweichlich fest, er wird Arzt und Professor X muss ihm alles beibringen, was er dazu braucht. Kurz entschlossen macht sich der zu klein gewachsene, sportliche Junge mit den blonden Wuschelhaaren - wie Dietrich Grönemeyer seinen Helden Nano beschreibt - wenige Tage später wieder auf den Weg zu seinem neuen Meister und gerät in ein fantastisches Abenteuer.

Denn sobald Nano in der Klinik angekommen ist, lernt er nicht nur die coole Assistentin Mirco Minitec kennen, sondern auch deren futuristische und geniale Erfindung: den Mikro-Multi-Quaser-Turbobeamer. Eine Verkleinerungsmaschine, mit der Mirco Minitec Gegenstände, ihren Hasen Rappel und - natürlich völlig unbeabsichtigt und zunächst unbemerkt - auch Nano miniaturisieren kann.

Auf die Größe eines nur im Mikroskop wahrnehmbaren Winzlings geschrumpft, befindet sich Nano plötzlich in einem Mini-U-Boot sitzend auf der abenteuerlichen Reise durch Mikro Minitecs Körper. Er saust durch riesige Schluchten, gerät in gebirgsähnliche Gegenden und taucht ein in dämmrige Höhlen und Katakomben. Dabei wird er kräftig durchgeschüttelt und geknetet, begegnet merkwürdigen Kreaturen, die mal grimmig -, mal friedlich dreinschauend selbst an kleine Miniroboter erinnern.

Staunend liest man sich so an Nanos Seite reisend langsam aber sicher ein in diese geheimnisvoll wirkende Welt des Wunders Mensch, lernt viel Neues über das Innere des Körpers, taucht ein in seine komplex ablaufenden Prozesse und erfährt etwa, dass die so genannten Magenfalten, die, riesigen Lippen ähnlich, jeden Eindringling absaugen und ringförmig zusammengepresst in Richtung Magenausgang schieben. Und ähnlich wie Nano kann man viele, dieser von außen unsichtbaren Organe auch erstmals sehen: Denn der Radiologie-Professor Grönemeyer zeigt in seinem Buch auch unglaubliche Bilder, etwa das einer Niere, die eher an eine wunderschöne Koralle erinnert als an ein menschliches Organ, oder die traumhafte Vergrößerung eines Nervs, der mit seinen dicken Verästellungen viel von einer surrealistischen Knetfigur hat.

Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, ohne zu ermahnen und ohne Angst zu machen gelingt es Dietrich Grönemeyer, die Sensibilität für den eigenen Körper zu wecken, seine Schönheit und seinen Wert zu erkennen. Er, der erklärte Anhänger einer ganzheitlichen Medizin, die den Menschen im Zusammenhang von Körper, Seele und Umwelt betrachtet, macht deutlich: Unser Körper und seine Abläufe sind einzigartig.

Doch nur wenn wir selbst gut mit uns umgehen, uns richtig ernähren, Sport treiben und bei Krankheiten nicht vorschnell zu knallharten Medikamenten greifen, kann diese Wundermaschine Mensch auch gut funktionieren. Kein Wunder also, dass der Autor in kleinen farbigen Merkkästchen erklärt, was etwa Ayurveda bedeutet, wie eine Hypnose funktioniert oder was eine gute Massage ausmacht.

Dazu kommen noch die vielen Tipps über traditionelle Hausmittel. So lernt man, wie ein Bauchweh-ex-Tee zubereitet wird oder wie man ein dampfendes Heublumensäckchen richtig packt. Dabei argumentiert Dietrich Grönemeyer nicht abgehoben, sondern sehr erdverbunden. Immer wieder macht er deutlich: nur ein harmonisches, sich ergänzendes Nebeneinander von Schulmedizin, Hightech, Naturheilkunde und traditioneller Medizin kann erreichen, dass der Mensch sich wohl fühlt. Und dieses Plädoyer bettet er geschickt in seine wunderbare Geschichte über Nano und seine Abenteuerreise in Körperwelten ein.

Herausgekommen ist so ein gelungenes und spannendes Kinderbuch, das mit seinen zahlreichen peppigen Illustrationen von Peter Volpert auch einfach Lust zum blättern macht. Das begeistert sogar schon die ganz Kleinen, aber mit dem Lesen müssen sie warten, denn vieles ist trotz aller Mühe, die sich Dietrich Grönemeyer mit seinen Erklärungen gibt, nicht immer leicht verständlich. Macht aber nichts, bis die Kleinen das nötige Lesealter von mindestens zwölf Jahren erreicht haben, lesen eben die Eltern das Buch. Und das mit großem Genuss.

Dietrich Grönemeyer: Der kleine Medicus
Rowohlt Verlag
360 Seiten, mit zahlreichen Illustrationen von Peter Volpert, 22,90 Euro