Reinhard Kaiser-Mühlecker: „Wilderer“

Rückfall in die Barbarei

05:26 Minuten
Das Buchcover von Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wilderer" zeigt eine blaue Straße, die sich durch eine hügelige Landschaft windet.
© S. Fischer

Reinhard Kaiser-Mühlecker

WildererS. Fischer, Frankfurt am Main 2022

349 Seiten

24,00 Euro

Von Ursula März · 16.06.2022
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Auf den ersten Blick scheint alles idyllisch: Jungbauer Jakob arbeitet Hand in Hand mit seiner Frau. Doch die Natur ist nur mühsam gezähmt bei Mensch und Tier. Bald bricht sich die Gewalt ihren Weg frei.
Der erstaunlichste Trend der deutschen Gegenwartsliteratur dürfte die Konjunktur des Dorfromans sein. Zwischen Kuhstall und Kneipe entfaltet er einen durchaus dramatischen gesellschaftlichen Mikrokosmos. Aber er betrachtet das Dorf von außen, in seinem Kontrastverhältnis zur Großstadt.
Nicht zufällig ist die Perspektive der neuen Dorfromane meist die von Stadtflüchtlingen oder von Heimkehrern, ob in Juli Zehs „Unterleuten“ oder Dörte Hansens „Mittagsstunde“, um nur die zwei erfolgreichsten Beispiele zu nennen.

Perspektive eines Jungbauern

„Wilderer“, der neue Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, ist eine Ausnahme. Er erzählt konsequent von innen. Er kennt nur eine Welt, die des verschlossenen und etwas ungelenken Jungbauern Jakob, der in Oberösterreich um das Überleben des geerbten Hofes kämpft.
Diese Welt aber kennt der Roman empirisch so genau, wie sie wahrscheinlich nur ein Schriftsteller kennt, der in sie hineingeboren wurde, was auf den 40-jährigen Österreicher Kaiser-Mühlecker zutrifft. Er führt bis heute die Landwirtschaft seiner Vorfahren.

Von der Kunst in den Kuhstall

Man spürt in jeder Beschreibung von Dingen und Handlungen, in jeder inneren Rede aus Jakobs Kopf die gerade physische Vertrautheit des Erzählers mit seinem Sujet; mit der auszehrenden Arbeitsmühle, mit der Ermattung von Wünschen, Sehnsüchten und Fantasien eines anderen Lebens, die Jakob schon als Zwanzigjähriger aufgegeben hat, weil ein Bauer seinen Hof nicht einfach kündigen kann wie ein Angestellter seinen Job.

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Dann aber, ganz unerwartet, widerfährt ihm Glück in Gestalt von Katja. Die mit ihrem Künstlerinnendasein hadernde Malerin entdeckt ihre Liebe zum tatkräftigen Bäuerinnendasein und zu Jakob. Sie werden ein Paar, arbeiten und wirtschaften Hand in Hand, machen aus dem Hof ein biologisches Erfolgsprojekt, sie werden Eltern.

Nur mühsam gezähmte Natur

Sie sind die Protagonisten einer Geschichte, gegen deren Gelingen eigentlich nichts spricht – zumindest nicht auf der Oberfläche der Handlung. Und eines der Meisterstücke des Romans ist die Unterwanderung der Handlung mit einer gegenläufigen Stimmung, dem Unheimlichen und diffus Bedrohlichen.
Jakobs gelegentlicher Jähzorn, der allzu tiefe Hass auf seine Schwester, das nie weichende Misstrauen gegenüber Katja, das ewige Schweigen: Für sich genommen sind es Aspekte eines etwas sperrigen Charakters. In der Summe aber die leisen Vorzeichen einer Tragödie. Was sie zum Vorschein bringt, ist Jakobs gewalttätige, über Jahre hin mühsam gezähmte Natur.

Kein gewöhnlicher Dorfroman

Beide Hunde, die er sich nacheinander anschafft, beginnen zu wildern. Sie spiegeln den Rückfall in die Barbarei, zu der die menschliche Spezies jederzeit fähig ist.
Bei einem weniger exzellenten Autor könnte diese Symbolik ins Banale rutschen. Reinhard Kaiser-Mühlecker aber ist ein Roman gelungen, der den Realismus eines zeitgenössischen Bauernhofes in die Richtung existenzialistischer Literatur lenkt.
Mit den Dorfromanen, die es zu Dutzenden auf dem Buchmarkt gibt, hat „Wilderer“ weniger zu tun als mit Albert Camus „Der Fremde“. Vom ersten bis zum letzten Satz bannend zu lesen.  
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