Reiner Lipka: Sendungen über Hartz-IV-Missbrauch vermitteln ein falsches Bild
Der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit in Gelsenkirchen, Reiner Lipka, hat sich dagegen ausgesprochen, Mitarbeiter im Außendienst von Fernsehteams begleiten zu lassen. Mit Blick auf den Start der neuen SAT1-Dokureihe "Gnadenlos gerecht - Sozialfahnder ermitteln" sagte Lipka, seine Einrichtung lehne entsprechende Anfragen ab. Hier solle ein gewisser Voyeurismus befriedigt werden. Außerdem entstehe ein falsches Bild: "Die weitaus meisten Menschen, 98 Prozent, beziehen zu Recht ihre Leistungen".
Dieter Kassel: Im Fernsehsender Sat.1 kann man ab heute Abend jede Woche zwei Sozialfahnder bei der Arbeit in Offenbach in Hessen beobachten. So spannende Fälle wie denen von Rolf John, der vor fünf Jahren als "Florida-Rolf" bekannt wurde, weil er von deutscher Sozialhilfe in Miami lebte, so spannende Fälle wird es da vermutlich nicht geben. Aber spannend genug muss das Ganze sein, zumindest aus Sicht der Fernsehmacher, denn Sat.1 zeigt das immerhin zur besten Sendezeit, um 21 Uhr 15.
Wir wollen aus diesem Anlass über die Arbeit solcher Ermittler in anderen Agenturen und über die weiteren Aufgaben von dem reden, was man, je nachdem, wo es gerade ist, entweder Jobcenter nennt, Arbeitsgemeinschaft oder inzwischen auch anders. Wir wollen sprechen mit Reiner Lipka. Er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit, so heißt das Ganze nämlich in Gelsenkirchen. Schönen guten Tag, Herr Lipka!
Reiner Lipka: Guten Tag.
Kassel: Hatten Sie auch schon Angebote von Fernsehsendern, die Ihre Mitarbeiter bei der Arbeit beobachten wollten?
Lipka: Ja, wir haben immer wieder Anfragen von privaten Fernsehsendern, die gerne unsere Außendienstmitarbeiter begleiten möchten. Wir lehnen aber diese Ansinnen ab.
Kassel: Warum?
Lipka: Wir glauben nicht, dass die Informationsgewinne so groß sind, dass es sich lohnt, da mitzugehen. Im Gegenteil, wir haben große Bedenken. Die Bedenken gehen dahin, dass wir glauben, dass auch hier so ein gewisser Voyeurismus befriedigt werden soll, und es hat auch was zu tun mit Menschenwürde. Es gibt immer wieder Situationen, dass dann auch Menschen angetroffen werden, die möglicherweise unrasiert und in Unterhosen dann gefilmt werden, und das möchten wir nicht. Zum anderen meinen wir aber auch, Herr Kassel, dass durch solche Sendungen möglicherweise ein falsches Bild vermittelt wird. Es entsteht der Eindruck, als wenn die weitaus meisten Hartz-IV-Empfänger Leistungsmissbrauch betreiben und betrügen wollen, das ist einfach nicht der Fall.
Kassel: Wie groß ist denn überhaupt die Aufgabe im Vergleich zu auch den vielen anderen Dingen, die Sie tun müssen, die Aufgabe dieser Kontrolle? Wie viel Menschen machen das bei Ihnen und wie viel Fälle gibt es da so im Durchschnitt?
Lipka: Also für die Größenordnung, ich habe 450 Mitarbeiter insgesamt in Gelsenkirchen, wir haben immer noch sehr viele Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und unser Team Recherche besteht aus 20 Kollegen. Das sind 14 Mitarbeiter, die im Innendienst arbeiten, die also Überzahlungen feststellen, und 6 Mitarbeiter, die im Außendienst arbeiten.
Kassel: Nun hieß es aus Offenbach, Hessen-Offenbach muss man sagen, hat ungefähr 130.000 Einwohner, Gelsenkirchen ist gut doppelt so groß. Das heißt, wenn man jetzt eine ganz unseriöse Rechnung anstellt, es heißt nämlich, in Offenbach wurden im letzten Jahr 750.000 Euro gespart durch solche Ermittlungen, dann müssten in Gelsenkirchen rechnerisch ungefähr 1,6 Millionen gespart worden sein?
Lipka: Ja, wir haben tatsächlich 2,5 Millionen gespart. Die meisten Fälle sind Rückforderungen und Einnahmen, die einfach verbucht werden wegen Überschneidungen. Ich sage mal als Beispiel: Wir zahlen einen Monat zu lange und stellen nachträglich fest, dass jemand bereits eine Arbeit aufgenommen hat oder eine Rente bezieht. Das sind dann gar nicht mal durch den Leistungsbezieher verursachte Überzahlungen. Sie werden festgestellt, sie sind buchhalterische Fehler. Und die weitaus meisten Rückforderungen und Einnahmen resultieren daraus.
Kassel: Was ich mich auch frage bei einer Fernsehsendung wie der, die heute Abend nun beginnt - es wird eine Serie sein, mehrere Wochen laufen: Wie sehr ist das auch Aufruf zum Denunziantentum? Bei den Fällen, die Sie entdecken in Gelsenkirchen, wie oft ist das ein rein, ich nenne es mal so, innerbetrieblicher Vorgang und wie oft gibt es da Hinweise von außen?
Lipka: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass etwa zwei bis drei Prozent aller Leistungsfälle, aller Anträge, die wir haben, nicht plausibel sind, wo wir dann sagen, da kann was nicht stimmen, da müssen wir mal genauer hinschauen. Die weitaus meisten Menschen, 98 Prozent, beziehen zu Recht ihre Leistungen, und deswegen sagen wir, grundsätzlich schenken wir auch den Angaben der Bürger Glauben. Nur dann, wenn etwas nicht plausibel ist, haben wir den Anlass, näher hinzuschauen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Reiner Lipka, er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit in Gelsenkirchen, und Sie haben ja, Herr Lipka, schon erzählt, dass diese Ermittlungen, diese Suche nach Hartz-IV-Betrügern einen, wenn auch nicht unwichtigen, aber doch vergleichsweise kleinen Teil der Arbeit Ihrer Einrichtung und Ihrer Mitarbeiter einnimmt.
Nun ist ja so etwas wie - inzwischen heißt es, wie erwähnt, Integrationscenter in Gelsenkirchen -, das ist ja, hat viele Namen gehabt in den letzten Jahren, die ganz moderne Version von dem, was vor einigen Jahren mal schlichtweg das Arbeitsamt um die Ecke war. Wie hat sich das ansonsten bei Ihnen entwickelt? Ist die eigentliche Vermittlung von Arbeit inzwischen längst nicht mehr Ihr Kerngeschäft?
Lipka: Doch, das wird immer wieder unterschätzt. Ich sage mal als Beispiel: In diesem Jahr in Gelsenkirchen werden wir etwa 4.000 Menschen in Arbeit bringen. Es wird immer wieder die hohe Zahl der Arbeitslosen gesehen, Herr Kassel, aber es wird unterschätzt, dass wir auch eine große Bewegung haben. Es gibt eine Dynamik am Arbeitsmarkt, sie reicht noch nicht aus, um die Arbeitslosigkeit entscheidend abzubauen in Gelsenkirchen, aber wir nutzen diese Bewegungen am Arbeitsmarkt auch für unsere Kunden. Wir aktivieren sie, vermitteln sie, bringen sie dazu, im Wettbewerb zu stehen, mit anderen Arbeitssuchenden und haben auch da Erfolge.
Kassel: Sie haben jetzt von Kunden gesprochen, Sie sind ein Geschäftsführer, kein Amtsvorsteher. Ist das tatsächlich inzwischen längst eine andere Atmosphäre, ist das eine Art Dienstleistungsvorgang?
Lipka: Ja, wir verstehen uns also als moderner sozialer Dienstleister und sagen auch bewusst Kunden zu der Klientel, die zu uns kommt dann dabei, und verstehen uns auch so.
Kassel: Arbeitsvermittlung ist aber ja, glaube ich, doch nicht nur dieser einfache Vorgang, wie man sich das so vorstellt. Da kommt Arbeitssuchender A und wird vermittelt an Firma B. Das Ganze ist doch sicherlich heutzutage schwieriger?
Lipka: Wir stellen fest, dass die weitaus meisten Arbeitsaufnahmen dadurch zustande kommen, dass wir die Persönlichkeit des Kunden stärken, ihn sicherer machen, ihn aktivieren und auch ihn in die Lage versetzen, seine persönlichen Beziehungen zu nutzen. Und wir stellen fest, dass immer wieder Arbeitsaufnahmen möglich sind, an die wir gar nicht gedacht haben. Ich nenne mal ein Beispiel: Da wird plötzlich ein Elektriker aktiviert und findet eine Arbeit als Bestatter. Einen solchen Vermittlungsvorschlag hätten wir nie gemacht. Es spricht dafür in der Tat, den Menschen aufzubauen und ihn zu aktivieren.
Kassel: Er kann natürlich als Bestatter jetzt aber seine Kenntnisse aus der Elektrobranche gar nicht anwenden, das heißt, der musste hundertprozentig umdrehen?
Lipka: In der Tat. Wir versuchen die Mobilität zu erhöhen und die Arbeitslosen zu einem Perspektivwechsel anzuregen und zu sagen, es gibt mehr als das, was Sie bisher gemacht haben am Arbeitsmarkt, nutzen Sie einfach die Chancen.
Kassel: Sie haben gesagt, Sie selber hätten so eine Vermittlung, das kann ich nachvollziehen, der Elektriker zum Bestattungsunternehmen, gar nicht vorgeschlagen. Wie kam das dennoch zustande in dem Fall?
Lipka: Wir arbeiten mit Dritten zusammen, die den Kunden längerfristig betreuen. Dort wird also aufgearbeitet die persönliche Situation, über kreativitätsfördernde Maßnahmen, auch Gruppendynamik, werden solche völlig neue Ideen entwickelt, die dann plötzlich auch zum Erfolg führen.
Kassel: Muss man, wenn man die Kunden betreut, manchmal mehr, ja Soziologe, vielleicht sogar Psychologe sein als reiner Arbeitsmarktfachmann?
Lipka: Wir stellen fest, dass 70 Prozent unserer Kunden, die wir haben, marktfern sind. Das heißt, wir können sie nicht unmittelbar mit einer Weiterbildung oder Umschulung am Arbeitsmarkt unterbringen. Oft sind es auch soziale Probleme, die in der Familie gelöst werden müssen. Und wenn diese Dinge nicht angegangen werden, genügt es auch nicht, einfach nur einen Vermittlungsvorschlag zu machen.
Kassel: Wo liegen denn da die Grenzen? Ich erinnere mich mal an ein Projekt, das es auch in anderen deutschen Städten gab, im Detail kannte ich das aber in der Tat aus Berlin, wo Mitarbeiter eines Jobcenters wirklich, wenn jemand ein Vorstellungsgespräch um neun hatte und musste um acht aufstehen, dann haben die den geweckt, mindestens am Telefon, manchmal sind sie zu ihm nach Hause gefahren. Das musste eingestellt werden, weil es auf die Dauer zu teuer war. Gibt es Sachen, die Sie gerne tun würden auch in Gelsenkirchen und nicht tun können?
Lipka: Ja, wir stellen fest, dass wir mehr niederschwellige Angebote brauchen und auch die Kunden da abholen müssen, wo sie stehen. Das fängt zum Teil damit an, dass wir sagen, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, wir müssen die Tagesstruktur stärken. Wer lange Zeit nicht gearbeitet hat, wer nicht gewohnt ist, regelmäßig aufzustehen und diszipliniert in den Tagesablauf einzutreten, muss diese Dinge üben. Und deswegen meinen wir, es macht keinen Sinn, einen Sozialarbeiter rauszuschicken, um jemand aus dem Bett zu holen, sondern wir müssen durch Simulationen immer wieder dazu beitragen, dass mehr Tagesstruktur geschieht, bis die Menschen so weit sind, dass sie tatsächlich auch eine Arbeit aufnehmen können.
Kassel: Gelsenkirchen ist ja zusammen mit anderen Beispielen, die immer wieder genannt werden - Bremerhaven, ein paar andere Orte -, eine der Problemstädte in Westdeutschland. Gibt es denn neben all den Menschen, denen Sie irgendwie noch helfen können mit zum Teil unkonventionellen Methoden und Vermittlungsideen, wie Sie das schon beschrieben haben, gibt es diese gefürchtete Restmenge von Langzeitarbeitslosen, die Sie eigentlich nur noch von der einen Verwaltungsschublade in die andere schieben können?
Lipka: Wir haben 32.000 Erwachsene, die in Gelsenkirchen Arbeitslosengeld II beziehen. Arbeitslos gemeldet im Sinne der Statistik sind zurzeit nur noch 17.000, nur noch in Anführungszeichen. Wir stellen fest, dass vielleicht 3.000 bis 4.000 dieser Arbeitslosen unmittelbar nicht in Arbeit gebracht werden darf. Und da appellieren wir auch an die Politik, uns Instrumente zu geben, das langfristig zu betreiben, über bestufte Stabilisierung, Aktivierung dieser Menschen, über einen längeren Zeitraum heranzuführen an den Arbeitsmarkt. Da brauchen wir Geduld, und es wäre einfach unfair, hier Erfolge in kürzester Zeit zu erwarten.
Kassel: Sie haben sicherlich genug zu tun, sind froh, wenn Sie abends mit dem Thema in Ruhe gelassen werden, aber dennoch: Nachdem nun so viel berichtet wurde über diese Sat.1-Sendung "Gnadenlos gerecht": Werden Sie das heute Abend gucken?
Lipka: Ich werde es nicht sehen, ich kann mir schon vorstellen, wie das abläuft dann dabei. Ich habe die Vorschau gesehen, und ich glaube, so was brauchen wir in Gelsenkirchen nicht.
Kassel: Danke Ihnen für das Gespräch. Reiner Lipka war das. Er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit Gelsenkirchen. Wir haben mit ihm aus Anlass der neuen Sat.1-Serie "Gnadenlos gerecht", die heute um 21 Uhr 15 das erste Mal läuft, darüber geredet, wie die Arbeit denn in solchen Integrationscentern oder auch Jobcentern wirklich aussieht, wenn keine Kameras dabei sind. Herr Lipka, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen in Gelsenkirchen viel Erfolg.
Lipka: Ja, vielen Dank.
Wir wollen aus diesem Anlass über die Arbeit solcher Ermittler in anderen Agenturen und über die weiteren Aufgaben von dem reden, was man, je nachdem, wo es gerade ist, entweder Jobcenter nennt, Arbeitsgemeinschaft oder inzwischen auch anders. Wir wollen sprechen mit Reiner Lipka. Er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit, so heißt das Ganze nämlich in Gelsenkirchen. Schönen guten Tag, Herr Lipka!
Reiner Lipka: Guten Tag.
Kassel: Hatten Sie auch schon Angebote von Fernsehsendern, die Ihre Mitarbeiter bei der Arbeit beobachten wollten?
Lipka: Ja, wir haben immer wieder Anfragen von privaten Fernsehsendern, die gerne unsere Außendienstmitarbeiter begleiten möchten. Wir lehnen aber diese Ansinnen ab.
Kassel: Warum?
Lipka: Wir glauben nicht, dass die Informationsgewinne so groß sind, dass es sich lohnt, da mitzugehen. Im Gegenteil, wir haben große Bedenken. Die Bedenken gehen dahin, dass wir glauben, dass auch hier so ein gewisser Voyeurismus befriedigt werden soll, und es hat auch was zu tun mit Menschenwürde. Es gibt immer wieder Situationen, dass dann auch Menschen angetroffen werden, die möglicherweise unrasiert und in Unterhosen dann gefilmt werden, und das möchten wir nicht. Zum anderen meinen wir aber auch, Herr Kassel, dass durch solche Sendungen möglicherweise ein falsches Bild vermittelt wird. Es entsteht der Eindruck, als wenn die weitaus meisten Hartz-IV-Empfänger Leistungsmissbrauch betreiben und betrügen wollen, das ist einfach nicht der Fall.
Kassel: Wie groß ist denn überhaupt die Aufgabe im Vergleich zu auch den vielen anderen Dingen, die Sie tun müssen, die Aufgabe dieser Kontrolle? Wie viel Menschen machen das bei Ihnen und wie viel Fälle gibt es da so im Durchschnitt?
Lipka: Also für die Größenordnung, ich habe 450 Mitarbeiter insgesamt in Gelsenkirchen, wir haben immer noch sehr viele Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und unser Team Recherche besteht aus 20 Kollegen. Das sind 14 Mitarbeiter, die im Innendienst arbeiten, die also Überzahlungen feststellen, und 6 Mitarbeiter, die im Außendienst arbeiten.
Kassel: Nun hieß es aus Offenbach, Hessen-Offenbach muss man sagen, hat ungefähr 130.000 Einwohner, Gelsenkirchen ist gut doppelt so groß. Das heißt, wenn man jetzt eine ganz unseriöse Rechnung anstellt, es heißt nämlich, in Offenbach wurden im letzten Jahr 750.000 Euro gespart durch solche Ermittlungen, dann müssten in Gelsenkirchen rechnerisch ungefähr 1,6 Millionen gespart worden sein?
Lipka: Ja, wir haben tatsächlich 2,5 Millionen gespart. Die meisten Fälle sind Rückforderungen und Einnahmen, die einfach verbucht werden wegen Überschneidungen. Ich sage mal als Beispiel: Wir zahlen einen Monat zu lange und stellen nachträglich fest, dass jemand bereits eine Arbeit aufgenommen hat oder eine Rente bezieht. Das sind dann gar nicht mal durch den Leistungsbezieher verursachte Überzahlungen. Sie werden festgestellt, sie sind buchhalterische Fehler. Und die weitaus meisten Rückforderungen und Einnahmen resultieren daraus.
Kassel: Was ich mich auch frage bei einer Fernsehsendung wie der, die heute Abend nun beginnt - es wird eine Serie sein, mehrere Wochen laufen: Wie sehr ist das auch Aufruf zum Denunziantentum? Bei den Fällen, die Sie entdecken in Gelsenkirchen, wie oft ist das ein rein, ich nenne es mal so, innerbetrieblicher Vorgang und wie oft gibt es da Hinweise von außen?
Lipka: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass etwa zwei bis drei Prozent aller Leistungsfälle, aller Anträge, die wir haben, nicht plausibel sind, wo wir dann sagen, da kann was nicht stimmen, da müssen wir mal genauer hinschauen. Die weitaus meisten Menschen, 98 Prozent, beziehen zu Recht ihre Leistungen, und deswegen sagen wir, grundsätzlich schenken wir auch den Angaben der Bürger Glauben. Nur dann, wenn etwas nicht plausibel ist, haben wir den Anlass, näher hinzuschauen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Reiner Lipka, er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit in Gelsenkirchen, und Sie haben ja, Herr Lipka, schon erzählt, dass diese Ermittlungen, diese Suche nach Hartz-IV-Betrügern einen, wenn auch nicht unwichtigen, aber doch vergleichsweise kleinen Teil der Arbeit Ihrer Einrichtung und Ihrer Mitarbeiter einnimmt.
Nun ist ja so etwas wie - inzwischen heißt es, wie erwähnt, Integrationscenter in Gelsenkirchen -, das ist ja, hat viele Namen gehabt in den letzten Jahren, die ganz moderne Version von dem, was vor einigen Jahren mal schlichtweg das Arbeitsamt um die Ecke war. Wie hat sich das ansonsten bei Ihnen entwickelt? Ist die eigentliche Vermittlung von Arbeit inzwischen längst nicht mehr Ihr Kerngeschäft?
Lipka: Doch, das wird immer wieder unterschätzt. Ich sage mal als Beispiel: In diesem Jahr in Gelsenkirchen werden wir etwa 4.000 Menschen in Arbeit bringen. Es wird immer wieder die hohe Zahl der Arbeitslosen gesehen, Herr Kassel, aber es wird unterschätzt, dass wir auch eine große Bewegung haben. Es gibt eine Dynamik am Arbeitsmarkt, sie reicht noch nicht aus, um die Arbeitslosigkeit entscheidend abzubauen in Gelsenkirchen, aber wir nutzen diese Bewegungen am Arbeitsmarkt auch für unsere Kunden. Wir aktivieren sie, vermitteln sie, bringen sie dazu, im Wettbewerb zu stehen, mit anderen Arbeitssuchenden und haben auch da Erfolge.
Kassel: Sie haben jetzt von Kunden gesprochen, Sie sind ein Geschäftsführer, kein Amtsvorsteher. Ist das tatsächlich inzwischen längst eine andere Atmosphäre, ist das eine Art Dienstleistungsvorgang?
Lipka: Ja, wir verstehen uns also als moderner sozialer Dienstleister und sagen auch bewusst Kunden zu der Klientel, die zu uns kommt dann dabei, und verstehen uns auch so.
Kassel: Arbeitsvermittlung ist aber ja, glaube ich, doch nicht nur dieser einfache Vorgang, wie man sich das so vorstellt. Da kommt Arbeitssuchender A und wird vermittelt an Firma B. Das Ganze ist doch sicherlich heutzutage schwieriger?
Lipka: Wir stellen fest, dass die weitaus meisten Arbeitsaufnahmen dadurch zustande kommen, dass wir die Persönlichkeit des Kunden stärken, ihn sicherer machen, ihn aktivieren und auch ihn in die Lage versetzen, seine persönlichen Beziehungen zu nutzen. Und wir stellen fest, dass immer wieder Arbeitsaufnahmen möglich sind, an die wir gar nicht gedacht haben. Ich nenne mal ein Beispiel: Da wird plötzlich ein Elektriker aktiviert und findet eine Arbeit als Bestatter. Einen solchen Vermittlungsvorschlag hätten wir nie gemacht. Es spricht dafür in der Tat, den Menschen aufzubauen und ihn zu aktivieren.
Kassel: Er kann natürlich als Bestatter jetzt aber seine Kenntnisse aus der Elektrobranche gar nicht anwenden, das heißt, der musste hundertprozentig umdrehen?
Lipka: In der Tat. Wir versuchen die Mobilität zu erhöhen und die Arbeitslosen zu einem Perspektivwechsel anzuregen und zu sagen, es gibt mehr als das, was Sie bisher gemacht haben am Arbeitsmarkt, nutzen Sie einfach die Chancen.
Kassel: Sie haben gesagt, Sie selber hätten so eine Vermittlung, das kann ich nachvollziehen, der Elektriker zum Bestattungsunternehmen, gar nicht vorgeschlagen. Wie kam das dennoch zustande in dem Fall?
Lipka: Wir arbeiten mit Dritten zusammen, die den Kunden längerfristig betreuen. Dort wird also aufgearbeitet die persönliche Situation, über kreativitätsfördernde Maßnahmen, auch Gruppendynamik, werden solche völlig neue Ideen entwickelt, die dann plötzlich auch zum Erfolg führen.
Kassel: Muss man, wenn man die Kunden betreut, manchmal mehr, ja Soziologe, vielleicht sogar Psychologe sein als reiner Arbeitsmarktfachmann?
Lipka: Wir stellen fest, dass 70 Prozent unserer Kunden, die wir haben, marktfern sind. Das heißt, wir können sie nicht unmittelbar mit einer Weiterbildung oder Umschulung am Arbeitsmarkt unterbringen. Oft sind es auch soziale Probleme, die in der Familie gelöst werden müssen. Und wenn diese Dinge nicht angegangen werden, genügt es auch nicht, einfach nur einen Vermittlungsvorschlag zu machen.
Kassel: Wo liegen denn da die Grenzen? Ich erinnere mich mal an ein Projekt, das es auch in anderen deutschen Städten gab, im Detail kannte ich das aber in der Tat aus Berlin, wo Mitarbeiter eines Jobcenters wirklich, wenn jemand ein Vorstellungsgespräch um neun hatte und musste um acht aufstehen, dann haben die den geweckt, mindestens am Telefon, manchmal sind sie zu ihm nach Hause gefahren. Das musste eingestellt werden, weil es auf die Dauer zu teuer war. Gibt es Sachen, die Sie gerne tun würden auch in Gelsenkirchen und nicht tun können?
Lipka: Ja, wir stellen fest, dass wir mehr niederschwellige Angebote brauchen und auch die Kunden da abholen müssen, wo sie stehen. Das fängt zum Teil damit an, dass wir sagen, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, wir müssen die Tagesstruktur stärken. Wer lange Zeit nicht gearbeitet hat, wer nicht gewohnt ist, regelmäßig aufzustehen und diszipliniert in den Tagesablauf einzutreten, muss diese Dinge üben. Und deswegen meinen wir, es macht keinen Sinn, einen Sozialarbeiter rauszuschicken, um jemand aus dem Bett zu holen, sondern wir müssen durch Simulationen immer wieder dazu beitragen, dass mehr Tagesstruktur geschieht, bis die Menschen so weit sind, dass sie tatsächlich auch eine Arbeit aufnehmen können.
Kassel: Gelsenkirchen ist ja zusammen mit anderen Beispielen, die immer wieder genannt werden - Bremerhaven, ein paar andere Orte -, eine der Problemstädte in Westdeutschland. Gibt es denn neben all den Menschen, denen Sie irgendwie noch helfen können mit zum Teil unkonventionellen Methoden und Vermittlungsideen, wie Sie das schon beschrieben haben, gibt es diese gefürchtete Restmenge von Langzeitarbeitslosen, die Sie eigentlich nur noch von der einen Verwaltungsschublade in die andere schieben können?
Lipka: Wir haben 32.000 Erwachsene, die in Gelsenkirchen Arbeitslosengeld II beziehen. Arbeitslos gemeldet im Sinne der Statistik sind zurzeit nur noch 17.000, nur noch in Anführungszeichen. Wir stellen fest, dass vielleicht 3.000 bis 4.000 dieser Arbeitslosen unmittelbar nicht in Arbeit gebracht werden darf. Und da appellieren wir auch an die Politik, uns Instrumente zu geben, das langfristig zu betreiben, über bestufte Stabilisierung, Aktivierung dieser Menschen, über einen längeren Zeitraum heranzuführen an den Arbeitsmarkt. Da brauchen wir Geduld, und es wäre einfach unfair, hier Erfolge in kürzester Zeit zu erwarten.
Kassel: Sie haben sicherlich genug zu tun, sind froh, wenn Sie abends mit dem Thema in Ruhe gelassen werden, aber dennoch: Nachdem nun so viel berichtet wurde über diese Sat.1-Sendung "Gnadenlos gerecht": Werden Sie das heute Abend gucken?
Lipka: Ich werde es nicht sehen, ich kann mir schon vorstellen, wie das abläuft dann dabei. Ich habe die Vorschau gesehen, und ich glaube, so was brauchen wir in Gelsenkirchen nicht.
Kassel: Danke Ihnen für das Gespräch. Reiner Lipka war das. Er ist der Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit Gelsenkirchen. Wir haben mit ihm aus Anlass der neuen Sat.1-Serie "Gnadenlos gerecht", die heute um 21 Uhr 15 das erste Mal läuft, darüber geredet, wie die Arbeit denn in solchen Integrationscentern oder auch Jobcentern wirklich aussieht, wenn keine Kameras dabei sind. Herr Lipka, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen in Gelsenkirchen viel Erfolg.
Lipka: Ja, vielen Dank.