Reif für die Demokratie?

Von Edda Schlager · 27.10.2011
Eineinhalb Jahre nach dem Sturz von Diktator Kurmanbek Bakijew sind viele Kirgisen enttäuscht von ihrer jungen Demokratie – vor allem vom korrupten Rechtssystem. In die Präsidentschaftswahl am nächsten Sonntag setzen sie wenig Hoffnung.
Ein improvisiertes Synchronstudio in einer Einfamilienhaussiedlung in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Das Haus ist noch ein Rohbau, um Studio geht es vorbei an Sandhaufen und aufgestapelten Ziegelsteinen unter einer Plastikplane. Das Studio selbst: ein winziger Raum mit einem Sofa, zwei Computern und einer hölzernen Synchronkabine mit Glasfenster. Ein Cutter sitzt zusammen mit Regisseur Alexander Tsay vor einem Schnittcomputer. Durch das Fenster sehen sie Eldar Supatajew in der Kabine. Er ist neben Alexander eigentlich Regisseur des Films, der hier produziert wird, hat aber auch eine Schauspielrolle übernommen: Deshalb steht er jetzt in der Synchronkabine vor einem Mikrofon und wiederholt immer wieder den gleichen Satz: "Das wird großartig!"

"Eto budet ofigenno! - Eto budet ofigenno! - Ofigenno!"

Auf dem Bildschirm sehen Alexander und der Cutter einen Film ablaufen, in dem Eldar in einem Auto durch Bischkek fährt, im Anzug, auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Der Cutter nimmt Eldars Sprache auf, rückt sie als visualisierte Tonkurve in einem Schnittprogramm zurecht. Der Ausschnitt, der hier nachsynchronisiert wird, gehört zum Film "Bischkek, ich liebe dich".

Der läuft in ein paar Tagen in den Kinos in Kirgistan an – eine der wenigen Eigenproduktionen des kirgisischen Filmgeschäfts, das sonst von amerikanischen Blockbustern dominiert wird. Die beiden Regisseure Eldar und Alexander haben das Projekt entwickelt und fast ohne finanzielle Unterstützung mit Freunden und Bekannten umgesetzt.

In zehn Kurzfilmen geht es um Beziehungen zwischen Liebespaaren, zwischen Großvater und Enkel oder Arbeitskollegen. Das verbindende Motiv ist immer die Liebe zur Heimatstadt Bischkek – mit einem Hauch von Systemkritik. Regisseur Eldar, ein sympathischer, oft lächelnder Mittzwanziger, erzählt von seiner so gar nicht zu ihm passenden Schauspielrolle als smarter Fiesling und schaut sich die neu vertonte Szene noch mal selbst am Bildschirm an.

"Diese Geschichte erzählt von sozialen Klassenunterschieden, von Korruption, dass man überall Kontakte braucht. Ich komme so an einen tollen Job, im Gegensatz zu einem Jungen, der sehr viel besser ausgebildet ist, aber keine Beziehungen hat. Am Ende läuft der enttäuschte Junge durch die Stadt und sieht ein Plakat zur Auswanderung nach Kanada. Wir wollen die fehlende Gerechtigkeit in unserem Land zeigen, dass Leute schuften, es wegen fehlender Kontakte aber doch nicht schaffen und ins Ausland gehen. Das ist ein Problem in unserer Gesellschaft."

Alle Geschichten im Film kommen letztlich zu einem überraschend positiven Schluss. Eldars Arbeitgeber entscheidet sich doch noch für den Konkurrenten ohne Beziehungen, weil er zufällig entdeckt, dass der mehr kann. So soll der Film zeigen, dass Kirgistan trotz aller Probleme ein lebenswertes Land ist. Und diese Botschaft ist – wie Alexander, der viel ernsthaftere der beiden Regisseure, erklärt – durchaus patriotisch gemeint:

"Die bisherigen Reaktionen auf den Film sind oft negativ, weil wir Bischkek angeblich schöner zeigen, als es ist. Die Leute sagen, in diesem Land ist alles Mist, es gibt keine Perspektiven. Aber wir denken, das reicht langsam. Wir wollten Bischkek einfach in einem besseren Licht zeigen."

Der Film ist als eine Art positiver Protest entstanden, ausgelöst durch die politischen Ereignisse in Kirgistan im vergangenen Jahr. Im April 2010 war der damalige Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt worden. Tausende Kirgisen hatten gegen seine korrupte Vetternwirtschaft demonstriert. Eine Interimsregierung unter Präsidentin Rosa Otunbajewa übernahm die Geschäfte und erwies sich als nahezu handlungsunfähig, als kurz danach ethnische Konflikte zwischen Kirgisen und Usbeken den Süden des Landes erschütterten. Mehrere Hundert Menschen kamen ums Leben. Wochen lang stand Kirgistan am Rande eines Bürgerkriegs.

Seitdem hat sich die Situation wieder stabilisiert, doch viele Menschen sind desillusioniert von den Demokratie-Versuchen. Selbst Regisseur Alexander Tsay, der das naiv-idealistische Filmprojekt "Bischkek, ich liebe dich" mit erdacht hat, verspricht sich nichts von der Präsidentenwahl am kommenden Sonntag:

"Ich erwarte überhaupt nichts von den Wahlen und das parlamentarische System halte ich in Kirgistan für umpassend. Wir brauchen einen starken Präsidenten. Wenn mehrere Leute gleichberechtigt entscheiden, verlangsamt das die Prozesse. Seit einem knappen Jahr existiert das neue Parlament, ich sehe bisher keine umwerfenden Ergebnisse."

Die Präsidentenwahl ist der vorläufige Schlusspunkt staatlicher Umstrukturierungen in Kirgistan. Im Sommer vergangenen Jahres hatten sich die kirgisischen Wähler bei einem Referendum mit großer Mehrheit für eine parlamentarische Demokratie entschieden – und damit für ein weniger einflussreiches Präsidentenamt. Erstmals überhaupt wagte ein Land im postsowjetischen Zentralasien diesen Schritt. In den umliegenden Nachbarstaaten wie Kasachstan oder Usbekistan herrschen nach wie vor Diktatoren, die seit 20 Jahren mit großer Härte ihre autokratischen Regime aufrechterhalten. In Kirgistan dagegen wurde nach dem Referendum ein neues Parlament gewählt, das erstmals eine Koalitionsregierung aufstellte.

Die neue Regierung ist seit Januar 2011 im Amt und residiert zusammen mit dem Parlament Schogorku Kenesch im "Weißen Haus", dem ehemaligen Sitz des ehemaligen Präsidenten im Zentrum Bischkeks. An die vorher unüblichen, manchmal lautstarken Debatten zwischen Opposition und Regierung haben sich die Kirgisen mittlerweile gewöhnt. Denn sie werden manchmal sogar live im kirgisischen Fernsehen übertragen.

In der letzten Reihe des steil ansteigenden Sitzungssaals im Parlament sitzt eine junge Abgeordnete, ganz oben rechts, in der Fraktion der Oppositionspartei "Atameken": Schirin Aitmatowa – eine schlanke junge Frau in schwarzem Minirock und hohen Schuhen. Sie hat halblange schwarze Haare, die sie offen trägt, und asiatisch breite Wangenknochen. Hin und wieder scherzt sie lächelnd mit ihren meist deutlich älteren Fraktionskollegen. Sie ist mit 34 Jahren eine der jüngsten Abgeordneten und ein Neuling im Parlament.

Die Tochter des berühmten kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow ist im vergangenen Jahr eher zufällig in die Politik geraten. Der Anlass waren die blutigen, ethnischen Konflikte im Süden Kirgistans, die das Land Tage lang in Atem hielten. Schirin Aitmatowa gründete daraufhin eine Facebook-Seite, auf der Kirgisen über ihre Opfer erzählen konnten. Denn ausländische Medien, meint Aitmatowa, hätten zu einseitig und fast nur von den usbekischen Opfern berichtet.

"Ich will nicht sagen, dass die Usbeken nicht gelitten haben, was passiert ist, ist furchtbar. Aber es gab eben nichts, wo die Kirgisen ihre Schmerz ausdrücken konnten, als ob es den nicht gegeben hätte. Mich hat nicht Nationalismus dazu bewegt, aber ich wollte zeigen, wie die internationalen Medien die Informationen manipuliert haben."

Nach den Konflikten wiesen sich Kirgisen und Usbeken gegenseitig die Schuld zu. Doch die kirgisischen Behörden zogen fast ausschließlich Usbeken zur Verantwortung: In rund 80 Prozent aller Prozesse wurden Usbeken für Verbrechen an Kirgisen verurteilt. Tatsächlich aber, fand eine internationale Untersuchungskommission heraus, hätte es umgekehrt sein müssen. Drei Viertel aller Toten waren Usbeken, in den meisten Fällen getötet von Kirgisen. Ein ganz offensichtliches Ungleichgewicht, das die Parteilichkeit der kirgisischen Behörden beim Aufarbeiten der Konflikte zeigt.

Die Reaktion Kirgistans auf den Bericht? Man erklärte Kimmo Kiljunen, den finnischen Chef der Untersuchungskommission, zur Persona non grata. Schirin Aitmatowa, die sich öffentlichkeitswirksam vor allem für kirgisische Opfer eingesetzt hatte, wurde danach von mehreren Parteien umworben. Viele Politiker, auf einer Welle von kirgisischem Nationalismus schwimmend, wollten sie als Aushängeschild – eine junge Frau, gebildet, alleinerziehende Mutter, mit großem Namen. Die Ironie: Genau deshalb hat sie es heute besonders schwer, sich gegen alt eingesessene Politiker durchzusetzen. Denn die parlamentarische Demokratie brachte längst nicht die erhoffte Erneuerung des Parlaments.

"90 Prozent der jetzigen Abgeordneten sind noch aus der Zeit von Bakijew, haben mit den korrupten Beamten der vorherigen Präsidenten gearbeitet. Und die werden sich nicht ändern, sie sind für immer vom alten System durchdrungen."

Die junge Politikerin setzt sich noch mit viel Idealismus für Themen ein, die sie für wichtig hält - anders als die meisten älteren Abgeordneten, die oft selbst in Seilschaften und Korruption verstrickt sind. Die Reform des Rechtssystems und des Justizsektors ist eines der Themen von Aitmatowa. Auch wenn es ihr wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheint.

Auf dem Gang im Gericht des Bischkeker Stadtbezirks Leninsk sitzt eine Frau auf einer Holzbank. Angestellte des Gerichts eilen an ihr vorbei, Männer und Frauen, die wie sie zu Prozessterminen gekommen sind. Ljudmilla Chilkina ist 40 Jahre alt, hochgewachsen und sehr schmal. Sie umklammert eine Plastiktüte mit ihren Unterlagen. Ein paar Meter weiter steht ein älterer Kirgise im Anzug. Ljudmilla schaut scheu zu ihm hinüber, beobachtet, wie er sich mit zwei Bekannten unterhält. Bis letztes Jahr hat Ljudmilla noch mit diesem Mann zusammengelebt. Dann floh sie mit der gemeinsamen Tochter in ein Frauenhaus – vor den Schlägen und Alkoholexzessen ihres Ex-Partners. Nach Ljudmillas Flucht begann ein erbitterter Sorgerechtsstreit um die fünfjährige Kamilla. Heute nun soll das Gericht endgültig entscheiden, bei wem das Kind künftig leben soll. Keine Rolle wird dabei spielen, dass der Vater die Kleine auch sexuell missbraucht haben soll, als sie eine Zeit lang bei ihm lebte.

"Sie hat das von alleine erzählt, aber ich habe auch nachgefragt, obwohl ich Angst davor hatte. Das medizinische Gutachten hat dann nichts gezeigt, weil schon zu viel Zeit vergangen war. Aber es wurde noch ein psychologisches Gutachten erstellt, und dabei kam heraus, dass es indirekte Beweise für sexuellen Missbrauch gibt."

Ljudmilla erzählt das Unfassbare äußerlich ruhig. Zu lange schon kämpft sie gegen den Vater des Kindes, der darauf besteht, das Sorgerecht selbst zu bekommen. Für die Mutter ist absolut unverständlich, dass die Gerichte nicht längst zu ihren Gunsten entschieden haben. Doch der Vater war selbst Polizist und hat gute persönliche Kontakte zur Staatsanwaltschaft. Als Ljudmillas Rechtsanwältin Lena Gawrilowa mit 15 Minuten Verspätung und einer Aktentasche unter dem Arm angerannt kommt, wird plötzlich klar – der Prozesstermin heute ist geplatzt. Die zuständige Richterin ist auf einer Konferenz – obwohl sie noch gestern den Termin bestätigt hatte.

Routiniert vereinbart Rechtsanwältin Gawrilowa einen neuen Termin, überrascht ist sie nicht, so etwas komme häufiger vor. Die Rechtsanwältin wundert sich auch nicht, dass – anders als der Sorgerechtsstreit – der Kindesmissbrauch nicht verhandelt wird, dass diese Anklage von der Staatsanwaltschaft sogar fallen gelassen, das Verfahren geschlossen wurde.

"Dieser Fall hier entlarvt die Machtstrukturen in diesem Land, deren Unfähigkeit, Korrumpiertheit und Bürokratie. Ihr Ziel ist es nicht, die Lage der Menschen zu verbessern, sondern lediglich die persönliche Bereicherung. Diese ganzen demokratischen Prozeduren jetzt finden lediglich für den Wahlkampf statt, man will zeigen, dass man Ordnung schafft innerhalb der staatlichen Verwaltungen, nur um zu beweisen, dass die Kandidaten für Stabilität stehen."

Schirin Aitmatowa, die junge Parlaments-Abgeordnete, ist davon überzeugt, dass das jetzige Justizsystem eigentlich nicht reformierbar ist – Fälle wie der von Ljudmilla Chilkina, die um ihr Kind kämpft, zeigten dies. Sie sei in ihrem ersten Jahr als Politikerin oft in ihr Büro gegangen und habe geweint, erzählt Aitmatowa. Tatsächlich wirkt sie müde, erschöpft von den endlos langen und oft fruchtlosen Debatten im Parlament. Die Hoffnung auf Demokratie in Kirgistan hat sie nach einem Jahr verloren:

"Es gibt Hinweise, dass nach einer so liberalen Präsidentin wie Otunbajewa der Parlamentarismus im Land keine Chance mehr hat. Bei uns gab es niemals einen demokratischen Präsidenten, deshalb wird es jetzt wohl eine reaktionäre Wendung geben zurück zu einer zentralistischen Macht. Bei der wirtschaftlichen Schwäche unseres Landes und dem geringen internationalen Einfluss wird auf dem nächsten Präsidenten ein großer Druck lasten, wieder zurückzukehren zu einem Modell größerer politischer Ergebenheit. So wie es üblich ist in Zentralasien."
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