Reichstagsverhüllung vor 20 Jahren

Verschnürte und verpackte Volksvertretung

Verhüllter Reichstag 1995, ein Projekt von Christo und Jeanne-Claude
Verhüllter Reichstag - ein Projekt von Christo und Jeanne-Claude © dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm
Von Martin Tschechne · 17.06.2015
Am 17. Juni 1995 begann das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude mit der Verhüllung des Reichstages in Berlin. Bis Anfang Juli glänzte der spätere Sitz des Deutschen Bundestages wie ein riesiges Juwel. Zuvor gab es aber schwere Auseinandersetzungen über das Projekt.
"Das ist Kunst in höchstem Grade."
"Irgendwie wirkt der auf mich orientalisch."
"Das hat einen hohen ästhetischen Reiz, die Reflexion auf der Oberfläche, im Sonnenlicht, der Faltenwurf und dann auch die Art, wie man die ursprüngliche Form nicht mehr richtig erkennt, wie das neutralisiert wird und abstrakt dargestellt wird, das ist sehr, sehr schön."
"So eine ganz zarte und lebendige Ästhetik, also ich find's faszinierend!"
Es war so etwas wie ein Sommermärchen. Zwei Wochen lang schimmerte der ansonsten düstere und von schwerer Geschichte gedrückte Reichstag in Berlin wie ein riesiges Juwel. Das vom Erdboden bis zum Dach verhüllte Gebäude schien zu schweben; 110.000 Quadratmeter mit Aluminium bedampftes Gewebe reflektierten das Licht des Himmels. Hunderttausende ließen sich auf dem Rasen davor nieder, um zu staunen. Für einen Augenblick war das Land mit sich im Reinen.
Dabei hatte es schwere Auseinandersetzungen um das Projekt des in New York lebenden Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude gegeben. Ganze Inseln hatten sie mit Stoff eingefasst, in Paris eine Brücke über die Seine verhüllt, einen Vorhang durch ein Tal in Colorado gezogen. Aber das Gebäude, in dem wenige Jahre später der Bundestag als höchste Repräsentanz des gerade wiedervereinigten Deutschlands zusammentreten sollte, als Objekt der Kunst? Freimut Duve, Abgeordneter der SPD, machte den Zweiflern im Parlament Mut:
Freimut Duve: "Der Welt wird es auch gut tun, ein solches Signal von uns zu bekommen: dass wir auch entspannt mit so etwas umgehen können. Das sind dann andere Bilder in den Fernseharchiven als Rostock und Mölln, die jetzt immer wieder herausgeholt werden, wenn über Deutschland berichtet wird."
Die Abstimmung ging knapp aus. Am 17. Juni 1995 wurden die ersten Stoffbahnen entrollt. Für die Künstler hatte der Prozess schon 24 Jahre zuvor mit einer Postkarte vom Reichstag begonnen, auf die ein Freund geschrieben hatte: „Macht was daraus!" Deshalb auch, so erläutert Christo, gehört alles dazu: die Debatten im Bundestag, die Gespräche mit den Abgeordneten, die Rückschläge. Und jeder, der in diesem Prozess eine Rolle spielte, als Helfer oder als Gegner, wurde zu einem Teil des Kunstwerks.
Zuspruch von Willy Brandt
Christo: "Ob es gelingt oder nicht, das liegt nicht nur an Jeanne Claude und mir. Es liegt an der Atmosphäre um uns herum. In Deutschland etwa schulden wir vielen Freunden Dank dafür, uns beim Reichstag so toll unterstützt zu haben. Ich weiß noch: Als das Projekt 1977 durch Dr. Carstens abgelehnt wurde und 1981 durch Herrn Stücklen, da war ich stinksauer! Zwei, drei Jahre lang habe ich keine einzige Zeichnung mehr zum Reichstag gemacht. Dann besuchte uns Willy Brandt und sagte: So viele Leute haben sich für das Projekt eingesetzt – da könnt Ihr es nicht einfach fallen lassen. Da haben wir weiter gemacht. Obwohl der Mut uns schon verlassen hatte."
So war es immer gewesen, seit der aus Bulgarien stammende Künstler und die französische Generalstochter damit begonnen hatten, Häuser, Straßen oder Natur zu verhüllen, um sie überhaupt erst sichtbar zu machen: Er plante, zeichnete und baute, sie argumentierte, kämpfte und koordinierte. Und beide wussten, dass sie nur gemeinsam Autoren einer Kunst sein konnten, die jede bis dahin gekannte Dimension sprengte – in ihrer Größe, ihrer Ästhetik, ihrem Begriff von Gemeinschaft und in ihrer Moral. Nichts darf von den Werken zurückbleiben außer Erinnerung, und kein fremdes Geld die Kunst korrumpieren. 13 Millionen Dollar hat die Verhüllung des Reichstags gekostet – alles bezahlt aus eigener Tasche. Wenn es darauf ankam, zog Jeanne Claude, 2009 gestorben, alle Register für die künstlerische Freiheit.
Jeanne-Claude: "Wissen Sie, ein Künstler macht Zeichnungen und Gemälde und verkauft sie. Und dann kauft er für das Geld einen Diamanten für seine Frau oder ein Haus auf dem Land. Christo ist nur deshalb anders, weil er sein Geld anders ausgibt. Ich stehe nämlich nicht auf Diamanten. Aber ich liebe jedes unserer Projekte."
Stimmen von Besuchern:
"Ich würde eine große rote Schleife drum machen, oder ne schöne Schlaufe, dann würde es aussehen wie ein Weihnachtsgeschenk."
"Irgendwo finde ich's irre, aber ich weiß es noch nicht so richtig, was ich damit anfange."
"Toll. Toll – einfach toll."
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