Regisseurin Nora Fingscheidt über "Systemsprenger"

"Von Anfang an war das wilde, wütende Mädchen bei mir"

10:24 Minuten
Szene aus dem Film "Systemsprenger": das schwierige Mädchen Benni, gespielt von Helena Zengel
In dem Film "Systemsprenger" spielt die Schauspielerin Helena Zengel ein Problemkind. © Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures
Moderation: Patrick Wellinski · 14.09.2019
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Erst der Silberne Berlinale-Bär, dann die Nominierung für das Oscar-Rennen: Der Film "Systemsprenger" wird derzeit überall gefeiert. Nun kommt er in die Kinos. Die Regisseurin Nora Fingscheidt über den orkanartigen Erfolg, kindliche Wut und filmische Vorbilder.
Patrick Wellinski: Ich kann mich kaum an einen deutschen Debutfilm der letzten Jahre erinnern, der so auf einer Welle der Aufmerksamkeit schwebte, wie es gerade mit "Systemsprenger" von Nora Fingscheidt der Fall ist. Nach dem Silbernen Bären auf der Berlinale wurde "Systemsprenger" jetzt auch von Deutschland ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film geschickt.
Nächste Woche kann man ihn nun endlich sehen, "Systemsprenger" kommt dann in unsere Kinos. Darin erzählt Fingscheidt von der neunjährigen Benni, die an aggressiven Wutattacken leidet. Benni wird von einer Pflegefamilie in die nächste geschickt und landet dann immer wieder in den Händen der Sozialämter – die Betreuer sind ratlos.
O-Ton Film: Hallo Frau Klaas, hier ist Frau Bafani, wir waren heute verabredet, um die neue Wohngruppe zu besichtigen für Benni. Ich glaube, ihr gefällt es dort richtig gut, und ich brauche wie immer ihre Einwilligung, also bitte rufen Sie mich so schnell es geht an. Dankeschön!

"Wir sind immer noch im Orkan"

Wellinski: "Systemsprenger" bezeichnet also die Kinder, deren Verhalten nicht von den gewöhnlichen Hilfemaßnahmen im deutschen Sozialsystem aufgefangen werden können. Mit einer großartigen Hauptdarstellerin besetzt, trifft der Film einen Nerv. Als ich Nora Fingscheidt zum Interview traf, wollte ich mit ihr auch über die Erfolgswelle sprechen und habe sie deshalb gefragt, ob sie diese letzten sechs Monate überhaupt schon verarbeitet hat.
Nora Fingscheidt: Überhaupt nicht. Wir sind immer noch im Orkan quasi, manchmal mehr, manchmal weniger, aber der Film ist ja erst drei Tage vor der Premiere fertiggeworden. Das heißt, wir sind völlig überarbeitet in die Berlinale gestolpert, und dann ging plötzlich der Wahnsinn los – und der dauert immer noch an.
Das Foto zeigt die Regisseurin Nora Fingscheidt, deren Film "Systemsprenger" bei der letzten Berlinale den Silbernen Bären gewonnen hat.
Die Regisseurin Nora Fingscheidt musste den Rummel um ihren Film "Systemsprenger" erst mal verkraften. Mittlerweile kann sie ihn genießen.© dpa / dpa-Zentralbild / picture alliance / Jens Büttner
Aber inzwischen kann ich es genießen. Das ist so toll, was mit dem Film passiert ist. Und das wird auch nicht immer so weitergehen, die Branche, das sind große Aufs und Abs und beim nächsten Film kann es sein, dass es keinen interessiert oder alle ihn schrecklich finden, deshalb: lieber genießen.
Wellinski: "Systemsprenger" heißt der Film, aber nicht Systemsprengerin. Beschreibt der Begriff also mehr als nur die Kinder, die wie Benni in Ihrem Film die Strukturen des deutschen Sozialsystems überfordern?
Fingscheidt: Ja, das ist wirklich eher allgemeiner gemeint. Und außerdem war das so ein tolles Wort und ist so ein schöner Kontrast und ist so ein kraftvolles Wort, auch wenn es in der Fachwelt eher ein umstrittener Begriff ist – auch kein offizieller. Eigentlich trifft es den Kern der Sache nicht ganz. Es ist nicht so, dass ein Kind ein bestehendes System kaputtmacht, sondern das System findet einfach für dieses eine Kind nicht das richtige Zuhause.

Alles im Film ist von der Realität inspiriert

Wellinski: Sie haben zur Vorbereitung auf dieses Projekt mehrere Wochen in verschiedenen Einrichtungen verbracht, Jugendhilfe bis hin zur Psychiatrie. Was haben Sie dort gesehen, gelernt, gehört, das dann sehr direkt in den Film eingeflossen ist?
Fingscheidt: Eigentlich alles, was im Film stattfindet, ist in irgendeiner Weise von der Realität inspiriert. Trotzdem ist diese eine Geschichte natürlich nie so abgelaufen. Wir haben dann am Ende auch wieder Dinge zusammengelegt und vereinfacht und weggenommen und fiktionalisiert. Jemand aus der Fachwelt würde wahrscheinlich sagen: Moment mal, das stimmt alles so nicht. Und das ist auch richtig, trotzdem basiert alles auf der Realität.
Wellinski: Sie zeigen Bennis Wutausbrüche immer wieder sehr direkt, auch sehr ausgiebig und auch immer wieder in Zuspitzung, aber auch in Wiederholungen. Und diese Affektausbrüche sind so intensiv, dass ich das immer so als eine Art Belastungstest auch für den Zuschauer empfunden habe, weil sie immer wiederkommen. Wollten Sie die Zuschauer dieser Wut aussetzen mehr als einmal, weil man hat ja schon den Wutausbruch begriffen, aber er kommt halt immer, immer wieder.
Fingscheidt: Ja, das hat mehrere Gründe. Einmal ist dieses ewig Wiederholende natürlich Teil von Bennis Leben. Dieser permanente Wechsel und diese immer gleichen Abläufe, das ist ihr Alltag, deshalb musste man dafür auch irgendeine Form finden in dem Film. Und gleichzeitig musste das Kind auch wirklich krass gezeigt werden.
Wäre das jetzt irgendwie so eine wilde Pipi Langstrumpf geworden, dann hätte man ja immer gesagt, ach komm, Leute, habt doch mal ein bisschen mehr Geduld mit den Systemsprengern. Aber nein, das sind ja Kinder, die pädagogisch ausgebildete Erwachsene an den Rand der Verzweiflung bringen. Und das musste man auch wirklich für den Zuschauer erlebbar machen, dass man eben nicht mehr einfach sagen kann, stellt euch doch nicht so an.

Die richtige Geschichte für das wütende Mädchen

Wellinski: Ich finde auch interessant – und ich glaube, dass unterscheidet "Systemsprenger" von einigen anderen deutschen Spielfilmen, die ein gesellschaftliches Thema aufnehmen –, Sie erzählen das nicht pädagogisch. Wie schwer war es, bei der Konzeption des Drehbuchs eben nicht in ein pädagogisches Narrativ zu verfallen, zu sagen, ich habe hier ein Thema, das Thema kennen nicht viele Leute, ich will von diesem Thema erzählen. Sie erzählen ja letztendlich doch einen Spielfilm.
Fingscheidt: Ja, ich glaube, das liegt daran, dass von Anfang an immer diese Figur bei mir war. Ich wollte gar nicht einen Film über das Thema machen, sondern ich wollte schon immer einen Film machen über ein wildes, wütendes Mädchen – und ich hatte nie richtig die Geschichte dafür.
Ich wollte eigentlich immer was schreiben über Benni. Und als dann vor sechseinhalb Jahren dieser Begriff plötzlich in mein Leben trat und ich von diesem Phänomen erfuhr, da habe ich gemerkt: Jetzt verbindet sich was, das ist die Geschichte zu meiner Figur. Aber ich habe nie versucht, so einen Themenfilm zu machen.
Wellinski: Bei der Recherche zu dem Interview ist mir noch aufgefallen, dass viele sich sehr stark auf Benni konzentrieren, aber Benni trifft ja irgendwann auf Micha, diesen Anti-Gewalt-Trainer, und der ist anders als alle anderen. Was löst Micha in Benni aus?
Fingscheidt: Micha findet einen richtigen Zugang zu Benni. Das ist ihr, glaube ich, lange nicht passiert in ihrem Leben. Da ist plötzlich ein Mensch – ähnlich wie die Pflegemutter Silvia, die wir später kennenlernen –, der irgendwie schafft, sie ernst zu nehmen und nicht nur das gestörte Kind zu sehen, sondern den ganzen Menschen.
Und da muss man natürlich erst mal eine gewisse Toleranz für diese Ausraster haben, und die hat er. Der lässt sich nicht davon beeindrucken, dass sie schreit, dass sie Schimpfwörter benutzt, der kann wahrscheinlich auch ein bisschen sich erinnern, wie er selbst mal war, und weiß, dass das nur ein Ausdruck ist. Und dann fährt er ja mit ihr in die Natur und ermöglicht ihr dadurch Erfahrungen, die sie vorher noch nie hatte.

Auch Micha ist ein Systemsprenger

Wellinski: Ist Micha auch in einer gewissen Art ein Systemsprenger? Denn seine Methoden sind nicht immer das, was sich andere vorstellen, er überschreitet auch Grenzen und bringt nicht nur sich in Gefahr dadurch.
Fingscheidt: Ja! Micha ist auch so eine letztendlich fehlbare und dadurch total menschliche Figur. Der macht eben nicht alles richtig. Man möchte, dass er dieser Retter ist, wenn man ihn trifft, man hofft so, dass er es hinkriegt – und dann kriegt er es halt doch nicht hin.
Der hat selber mit sich zu kämpfen und ist mit Sicherheit auch über Umwege in dem Beruf gelandet und arbeitet ja eigentlich mit straffälligen Jugendlichen und denkt, ach, mit so einem kleinen Kind komme ich doch klar. Und damit kommt er dann halt doch nicht klar.
Wellinski: Sie kennen Benni besser als jeder andere, weil Sie Benni erschaffen haben als Figur. Was braucht die Kleine, Grenzen, Verständnis?
Fingscheidt: Beides, glaube ich. Was Benni vor allen Dingen braucht, ist irgendeine Konstante. Und dadurch, dass so permanent alles nur im Wechsel ist und auch die Mama, die Benni ja liebt, und Benni liebt ihre Mutter, aber immer diese Ansagen, du kannst zu mir kommen, doch nicht, du kannst zu mir kommen, doch nicht – das macht es für das Kind total schwierig, irgendwo anzukommen, solange sie immer noch die Hoffnung hat, wieder zu Mama zurückzukommen. Und von da bräuchte Benni auf jeden Fall eine klarere Ansage, von Seite der Hilfesysteme bräuchte Benni irgendwie einen freieren Rahmen, dass man sagt, wir schmeißen dich nicht sofort wieder raus. Und dann braucht Benni auch noch Menschen wie Micha.
Wellinski: Haben Sie eigentlich filmische Inspiration, Vorbilder, überhaupt Filme, die bei der Arbeit an "Systemsprenger" Ihnen in irgendeiner Art und Weise eine Hilfe waren? Natürlich, wenn man Ihren Film sieht, denkt man im ersten Moment an soziale Milieus, da ist diese Kamera, die sich ständig bewegt, da denkt man vielleicht an die Dardennes oder an Ken Loach, die eine europäische Tradition des sozialen Kinos vertreten.
Fingscheidt: Die sind natürlich auch Teil der Recherche gewesen. Wir haben über die vielen Jahre bestimmt 50 Filme geschaut, die irgendwas mit dem Thema zu tun haben, von Truffaut "Sie küssten und sie schlugen ihn" über die Dardennes-Brüder oder Ken Loach, aber auch "Mommy" von Xavier Dolan – das Thema berührt ja schon immer wieder und findet neue Formen.

Tim Roth als Neonazi in den 80ern

Es gibt einen Film, der mich besonders beeindruckt hat, der heißt "Made in Britain" und ist ein Film aus den frühen 80ern. Tim Roth ist ganz jung und spielt einen Neonazi, der hat ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowiert. Und dieser Film begleitet diese Figur und der ist so radikal, man denkt immer, krieg doch die Kurve Junge, ändere dich. Und alle wollen ihm irgendwie helfen, und er ist so konsequent beratungsresistent, und es endet dann auch tragisch. Diese Figur und diese Radikalität, die der Film hat, an die habe ich sehr oft gedacht.
Wellinski: Wie sind denn eigentlich die Reaktionen, weil Sie den Film auch schon so häufig gezeigt haben, von Mitarbeitern der porträtierten Institutionen, die ja auch ein zentraler Ort Ihrer Recherche letztendlich waren. Haben Sie da schon Reaktionen bekommen?
Fingscheidt: Die meisten sind total positiv überwältigt und sind natürlich einerseits sehr berührt von der Geschichte, aber finden es auch gut, dass jemand mal zeigt, was sie da eigentlich zu leisten haben, fühlen sich gesehen und wahrgenommen. Dann gibt es natürlich die anderen, die sagen, warte mal, das ist ja alles total unrealistisch. Ist es teilweise auch, es ist ja auch ein Spielfilm. Und die Diskussion, die dann daraus entsteht, die ist spannend.
Wellinski: Wie nehmen Sie jetzt eigentlich die weitere Reise des Films mit? Es steht ja die Oscar-Kampagne an, ist das etwas, was Sie auf sich zukommen lassen, oder taktieren Sie mit? Das ist ja auch eine Werbeveranstaltung für einen selber und für den Film.
Fingscheidt: Ich lasse das mal andere machen. Ich kriege dann einfach gesagt, wann ich wo bin, und dann irgendwie mache ich meinen Job und versuche, den Film zu repräsentieren. Aber wann und wie viel und wo genau, das weiß ich alles noch gar nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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