Regisseurin Florence Miailhe

„Mich fasziniert die Malerei mit ihrer Bilderkraft und Poesie“

10:38 Minuten
Eine farbenfrohe Illustration von einem Mädchen und einem Jungen, die nebeneinander sitzen und in Gedanken versunken sind.
Die Geschwister Adriel und Kyona auf ihrer Odyssee © Grandfilm
Florence Miailhe im Gespräch mit Susanne Burg · 30.04.2022
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"Die Odyssee" ist ein besonderer Animationsfilm. Die Technik ist ungewöhnlich: animierte Ölbildern auf Glas. Die Geschichte ist grausam, poetisch und eigenwillig. Sie habe sich von Märchen inspirieren lassen, sagt Regisseurin Florence Miailhe.
Die französische Regisseurin Florence Miailhe erzählt in „Die Odyssee“ eine Fluchtgeschichte wie ein Märchen. Eine Hänsel-und-Gretel-Geschichte, deren Ausgangspunkt der Krieg ist: Männer in Uniform brennen ein Dorf ab, Adriel und Kyona fliehen.
Die Geschwister durchqueren ein fiktives Land und geraten an gefährliche und hilfsbereite Menschen, werden voneinander getrennt und finden sich wieder. Es ist eine Höllenfahrt durch ein Land, das irgendwo sein könnte und doch auch überall. Miailhe hat auch persönliche familiäre Fluchtgeschichten verarbeitet.
Eine ältere Frau schaut saft, mit einem Lächeln auf den Lippen zu einer angeschnittenen Person am rechten Bildrand und hält ein Mikrofon in der Hand.
Florence Miailhe bei der Premiere des Animationsfilms "Die Odyssee" im Rahmen der 21. Französischen Filmwoche im Cinema Paris. Berlin.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Frederic Kern
Susanne Burg: Flucht ist ein sehr aktuelles Thema. Warum war es Ihnen wichtig, Flucht in einer fiktiven Welt mit fiktiven Bevölkerungsgruppen zu erzählen?
Florence Miailhe: Ich wollte dieser Geschichte etwas Universelles verleihen, damit sie zu einem Märchen über Migration wird. Mir ging es darum, eine Verbindung herzustellen zwischen den Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts und denen im 21. Jahrhundert.
Flucht bleibt ein sehr aktuelles Problem. Die Erinnerung an Exil und Exodus müssen viele Menschen bewältigen. Die Geschichte der Menschheit ist voller Flucht- und Migrationsbewegungen.

Miailhes Großmutter floh aus Odessa

Burg: Ihre Großeltern sind Anfang des 20. Jahrhunderts aus Odessa geflohen, vor antisemitischen Pogromen. Das heißt, wie viel persönliche Familiengeschichte ist eingeflossen?
Miailhe: Meine Urgroßmutter floh mit zehn Kindern aus Odessa. Das war der Ausgangspunkt des Films, dass eine Familie zur Flucht gezwungen wird, weil es Bauern und Söldner gibt, die das Dorf niederbrennen und in der Ukraine ein Pogrom planen.
Es ist aber auch die Geschichte meiner Mutter, die Malerin werden wollte. Als sie so alt war wie meine Hauptfigur Kyona, zeichnete sie sehr viel. 1939/40 floh sie mit ihrem Bruder aus der von den Deutschen besetzten Zone in Frankreich in die von der Vichy-Regierung kontrollierte, sogenannte freie Zone in die Nähe von Perpignan.

Das Gespräch mit der Regisseurin fand vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine statt.

Beide waren damals etwas älter als meine Filmfiguren Kyona und Adriel. Meine Mutter war ungefähr 18 Jahre alt und ihr Bruder um die 15. Das sind die beiden autobiografischen Geschichten, die mich inspirierten. Den Rest haben wir uns dann ausgedacht und aus anderen Bereichen hinzugefügt.

Ko-Autorin Desplechin liebt Märchen

Burg: Daraus ist eine Geschichte geworden um Kyona und Adriel, die fliehen. Es verschlägt sie von Ort zu Ort. Manchmal geht es ihnen kurzfristig auch ganz gut, wie im Zirkus, wo sie sehr freundlich aufgenommen werden. Aber immer wieder werden sie verschleppt oder müssen fliehen. Sie treffen auch immer wieder auf verschiedene Figuren, einige davon wirken wie Märchenfiguren. Es gibt zum Beispiel eine Hexe. Wie stark inspirierten Märchen?
Miailhe: Meine Ko-Autorin Marie Desplechin und ich, wir lieben Märchen. Besonders das Märchen „Der kleine Däumling“ von Charles Perrault hat uns inspiriert. Dort hört der kleine Junge heimlich mit an, dass die Eltern ihn und seine Brüder wegen einer Hungersnot im Wald aussetzen wollen. Es ging uns dabei auch um diese historischen Perioden, in denen Eltern mit allen Mitteln versucht haben, dass ihre Kinder irgendwie allein überleben.
Dann haben wir weitere Kapitel geschrieben und uns von anderen Märchen inspirieren lassen. Wir wollten diese Märchenwelt auf jeden Fall mit aktuellen und auch historischen Ereignissen verbinden.

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Im zweiten Kapitel geht es um Kinder, die fast in Raben verwandelt werden, weil sie so viel stehlen wie kleine Geier. Im dritten Kapitel gibt es Anspielungen an einen Oger, einen Menschenfresser, im vierten Kapitel an eine wohlwollende Hexe.
Außerdem greifen wir auf dieses märchenhafte Element mit einem jungen Mädchen zurück, das ein Jahr lang bei einer alten Dame arbeiten muss und als Belohnung Edelsteine aus dem Mund holen kann, weil es so fleißig war. Der faulen Schwester dagegen kommen nur Giftschlangen aus dem Mund.
Wir wollten auch an Appenfeld erinnern, einen jüdischen Jungen, der sich 1939/40 in einem Wald versteckt hielt. Die Episode mit dem Zirkus sollte wie eine Pause wirken, damit es im Film nicht nur diese dunklen und harten Geschichten geht.
Bei den Oger-Legenden ging es uns auch darum, wie reiche und auch gewalttätige Eltern versuchen, sich bei ihren Kindern mit Geld Liebe zu erkaufen. Wir hatten diese Episode bereits geschrieben, als wir dann in einer Zeitung lasen, dass in den USA Adoptiveltern Kinder zurückgeben können, wenn sie nicht mit ihnen zufrieden sind.
Das sind Beispiele dafür, wie wir immer wieder versucht haben, die Märchen- und Sagenwelt mit unserer heutigen Welt zu kombinieren. Dabei dachten wir auch an Michael Jackson, der eigentlich Eltern ihre Kinder wegnahm, um sie in seinem angeblichen „Kinderparadies“ leben zu lassen.

Alles aufgesaugt zu Migration

Burg: Sie haben die Figuren beschrieben, die Adriel und Kyona treffen. Am Anfang ist es sehr stark, als die Geschwister fliehen, dass Adriel die Fluchterfahrung verdrängt, während Kyona sich damit konfrontiert. Während dieser Reise merkt man, wie entwurzelt sie sind, wie sie getrieben werden. Wie haben Sie diese Erfahrung der Flucht recherchiert und dann auch vermitteln wollen in der Geschichte?
Miailhe: Das ist eine schwierige Frage. Zunächst dachten wir an unsere eigenen Geschichten. Marie hat sich daran erinnert, was sie von ihrem Mann wusste und was man ihr sonst erzählt hatte. Sie hat viele Migranten interviewt und diese Gespräche aufgeschrieben. Aus diesem Material haben wir geschöpft.
In einer solchen Schaffensphase verfügt man über sehr sensible Antennen und saugt alles auf, was man mit diesem Thema in Verbindung bringen kann. Ich bin dann wie ein Schwamm. Am Ende ist es eine Mischung – aus unseren persönlichen Erfahrungen und Geschichten, die wir gehört haben.
Außerdem haben wir immer wieder Märchen genutzt. Adriel verfällt irgendwann in eine Depression. Er gibt den Kampf gegen das Ehepaar auf, das ihn gekauft hat. Er wehrt sich nicht mehr so, anders als seine Schwester. Dabei dachten wir an „Die Schneekönigin“. Dort vergisst der kleine Kai alles, was ihn einst umgab, auch seine Schwester Gerda.
Burg: Die Kinder kommen dann irgendwann in den Zirkus. Da sagt die Zirkusfrau: Das Leben sei nicht schwarz oder weiß, sondern grau. Kyona solle jetzt endlich mal die Grautöne lernen. Im Film ist – bis auf die Soldaten, die ganz in schwarz sind und die dunklen Berge – alles sehr bunt animiert. Wie wichtig waren Ihnen die Farben, die Buntheit der Welt, in Anbetracht des Grauen, das die Kinder erleben?
Miailhe: Diese Frau im Zirkus hat nicht wirklich Recht, wenn sie das sagt. Das Leben ist nicht grau, auch wenn es manchmal grau sein kann. Es gibt im Film wie im Leben schon Charaktere, die entweder schwarz oder weiß sein können.
Ich glaube wirklich, dass es Menschen gibt, die sehr negativ sind. Andere strahlen etwas Positives aus. Dabei möchte ich etwas zu Hanna Schygulla sagen, die in der deutschen Fassung die Erzählerin spricht. Leider habe ich sie nicht persönlich treffen können. Ich möchte sie jedoch unbedingt einmal kennenlernen. Für mich ist sie eine so leuchtende und schillernde Frau. Das nur kurz.
Was die Farbigkeit im Film betrifft, glaube ich nicht, dass man von traurigen Dingen auch noch traurig erzählen muss. Selbst in den schwersten Momenten können der Himmel blau oder die Bäume rot strahlen. Die Farbsymbolik war mir sehr wichtig und ich wollte sie auch in das Erzählte mit einfließen lassen.
Rot war den Ogern vorbehalten, diesem sehr blutrünstigen Paar. Dann gibt es ruhige Momente, so als würde die Zeit stehen bleiben, wenn es in den Schwarz-weiß-Sequenzen im Wald mit der Hexe Baba Jaga schneit. Das Grün am Anfang ist auch das Grün der Kindheit und das Grün am Ende vielleicht auch ein Symbol für die Hoffnung.

Zeigen, was geht

Burg: Die Technik des Films ist gemalte Animation auf Glas. Das ist sehr aufwendig. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Miailhe: Das ist einfach meine Animationstechnik. In der habe ich bereits acht Kurzfilme gemacht. Es ist nicht nur Malen auf Glas, sondern auch mit Pastellfarben mit Sand; also mit sehr bildkräftigen und handwerklichen Techniken.
Es war auch eine Herausforderung: Ich wollte beweisen, dass es möglich ist, mit Hilfe dieser Animationstechnik einen langen Spielfilm zu drehen. Hinzu kommt, dass dieser Film nicht von der Animationsfilm-Industrie finanziert wurde und auf Handwerkstechniken zurückgreift. Auch das war mir sehr wichtig. Außerdem sind da die unendlichen Möglichkeiten der Malerei mit ihrer Bilderkraft und Poesie. All das fasziniert mich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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