Regisseur: Schiller wollte Theater neu erschaffen

10.11.2009
Am 250. Geburtstag Friedrich Schillers hat der Theater-Regisseur Nicolas Stemann moderne Inszenierungen der Werke des Dichters verteidigt. Schon die Uraufführung der "Räuber" habe seinerzeit zu großen Tumulten geführt.
Susanne Führer: Am 10. November 1759, also heute vor 250 Jahren, wurde Friedrich Schiller in Marbach am Neckar geboren. Das "Radiofeuilleton" widmet sich deswegen heute den ganzen Tag lang in verschiedenen Facetten und an verschiedenen Plätzen dem deutschen Klassiker, dem ja nicht nur die deutsche Literatur, sondern auch der deutsche Sprichwortschatz so viel zu verdanken hat.

Wir beginnen mit dem Dramatiker Schiller. Seine Balladen werden ja eigentlich nur noch selten auswendig gelernt an den Schulen, aber seine Stücke werden immer noch und immer wieder neu gespielt. Der Regisseur Nicolas Stemann hat in den vergangenen Jahren immer wieder Schiller-Dramen auf die Bühne gebracht, den "Fiesko" zum Beispiel, zuletzt aber war er mit seiner Salzburger Inszenierung von Schillers "Räubern" beim diesjährigen Theatertreffen in Berlin vertreten. Guten Morgen, Herr Stemann!

Nicolas Stemann: Guten Morgen!

Führer: Ja, zu seinen Lebzeiten und auch noch so rund 100 Jahre nach seinem Tod war Schiller ja ein Star, der hat ja sogar Goethe überflügelt in der Publikumsgunst. Heute gilt er vielen eher als verzopft, "durch diese hohle Gasse muss er kommen". Was reizt Sie an Schiller?

Stemann: Ich halte ihn gar nicht für verzopft, ich glaube, dass da wahrscheinlich bestimmte Sichtweisen den Zugang zu der Kraft und der Energie, die dieser Sprache innewohnt, eventuell verstellen, und habe mir das auch so ein bisschen zur Aufgabe gemacht, jetzt auch mit meiner letzten Inszenierung von "Die Räuber" das so ein bisschen zu verändern, weil tatsächlich die Sprache eine unglaubliche Vitalität hat und eine ganz große Direktheit. Und das Thema, das in Schillers Stücken immer wiederkehrt, ist ja das Thema der Freiheit, aber auch der Grenzen der Freiheit angesichts der Natur des Menschen. Also er fragt immer, wie viel Freiheit braucht denn ein Mensch, um überhaupt Mensch sein zu können, und andererseits aber auch, wie viel Freiheit dürfen wir den Menschen überhaupt zugestehen, damit er nicht zur Bestie wird. Und das sind alles Fragen, die nach wie vor unglaublich aktuell sind, wenn nicht sogar noch aktueller als zu Schillers Zeit.

Führer: Ja, die Freiheit und das andere, Schiller wollte ja auch immer gestalten, wollte ja immer machen und formen, also der Mensch hat sein Schicksal auch selbst in der Hand. Ist das auch das, was Sie so an seinen Stücken finden?

Stemann: Ja, wie gesagt, er geht da einen Weg eigentlich in beide Richtungen. Ich glaube, ein wichtiger Begriff für Schillers Werk ist das Spiel, auch gerade für Schillers Kunst und Rahmentheorie. Er entwirft da ja diese Theorie vom Reich des Spiels, in dem der Mensch nur ganz Mensch sein kann, und so begreift er, glaube ich, auch das, was er in seinen Dramen da macht. Er spielt verschiedene Möglichkeiten des Menschseins durch, zeigt eben, wo dieses Menschsein von außen beschränkt wird und auf eine Art, wie es den Menschen nicht guttut und wo der Mensch sich gegen auflehnt, und spielt dann aber andererseits auch durch, zum Beispiel in dem Stück "Die Räuber", was denn passiert, wenn der Mensch dann auf einmal entfesselt wird beziehungsweise sich entfesselt. Und das ist ja nun auch nicht gerade etwas, was einen zum großen Menschenfreund werden lässt. Aber wie gesagt, das findet natürlich im Bereich oder im Reiche der Kunst statt, und von daher ist das natürlich legitim – es sind immer Tragödien, die er schreibt –, und von daher ist es natürlich legitim, dieses Spiel dann so weit wie möglich und auch gerne so pessimistisch wie möglich zu gestalten. Und das tut er tatsächlich.

Führer: Ja, denn wenn der Mensch entfesselt ist, dann sind die Räuber, ja, dann folgen Mord und Totschlag. Ich will noch mal dieses berühmte Spielzitat in seiner Gänze nachtragen: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Sie haben jetzt gesagt, er spielt verschiedene Möglichkeiten durch – wie erhalten Sie Schiller das Spielerische? Also sozusagen eine Replik auf das Verzopfte.

Stemann: Na ja, ich betrachte es als meine Aufgabe als Theaterregisseur, Texte, die vielleicht erst mal einem verzopft erscheinen mögen, zu entzopfen, und das hat aber jetzt weniger damit zu tun, dass man sie vordergründig aktualisiert. Also es läge mir fern, jetzt zu sagen, ich finde eine Übersetzung von der Räuberbande des Karl Moor in einer, was weiß ich, Neonazivereinigung aus Brandenburg oder den Taliban in Afghanistan oder so. Das denkt man ja eigentlich gemeinhin, dass aktuelles Regietheater so vorgeht, ich lehne das wirklich sehr, sehr ab, weil ich das auch für ziemlichen Quatsch halte, weil man damit weder der aktuellen Tagespolitik noch diesen alten Werken einen großen Dienst erweist, weil tatsächlich konnte Schiller ja darüber nichts schreiben, weil es das zu seiner Zeit nicht gab. Entsprechend geht es mir eher darum, eine Energie in diesen Stücken auszuloten beziehungsweise zu transportieren. Und das findet tatsächlich sehr spielerisch statt. Ich versuche, die Sprache in eine spielerische Schwingung zu bringen und ja, sie dann eigentlich selber erzählen zu lassen davon, was sie zu erzählen hat, und jetzt weniger da Dinge reinzudeuten, die wir jetzt aus unseren Lebenszusammenhängen kennen.

Führer: Deutschlandradio Kultur, wir feiern Schillers 250. Geburtstag im Gespräch mit dem Theaterregisseur Nicolas Stemann. Herr Stemann, in Ihrer jüngsten "Räuber"-Inszenierung, die Sie schon erwähnt haben, da haben Sie die Brüder Moor mit vier Schauspielern besetzt, also die spielen erst alle den Franz, dann spielen sie alle den Karl, dann gibt es Videos, es gibt ein Schlagzeug und eine E-Gitarre, es gibt auch Gesang, dazu historische Kostüme. "Nach Schiller" haben Sie Ihre Inszenierung benannt und dann doch behauptet, die sei text- und werktreu. Das müssen Sie mir erklären.

Stemann: Ja, interessanterweise wird einem ja gerne, wenn denn da steht "von Schiller" oder "von Goethe", gibt es immer irgendwelche Oberlehrer, die einem nachweisen, dass das ja so ganz genau doch nicht von ist, wobei natürlich sich dann immer die Frage stellt, was wäre denn jetzt eine Inszenierung, die buchstabengetreu von Schiller auf eine Bühne gebracht wird. Entsprechend haben wir das in diesem Falle "nach Schiller" genannt und waren andererseits aber, glaube ich, so textgenau, wie das heutzutage selten passiert. Entsprechend war diese Ansage "nach Schiller" eigentlich eine Provokation in Richtung der Zeilen- und Erbsenzähler, die immer der Meinung sind, sie wüssten, wie ein Stück von Schiller heutzutage auf einer Bühne eigentlich aussieht. Also ich wollte genau diese Frage aufgreifen und aufmachen und auch den Zuschauer eigentlich in diese Spannung reinwerfen oder sich reinbegeben lassen und da mal selber seine Antworten finden lassen.

Führer: Es gibt ja so eine Sehnsucht heute, scheint es zumindest zu geben, nach – ja, wie soll man sagen – konventionellen Inszenierungen, ja, also keine Videos, keine Nacktszenen, kein Hip-Hop, einfach nur gute Schauspieler, die ein gutes Stück spielen. Warum geben Sie dieser Sehnsucht nicht nach?

Stemann: Na, Sie haben ja schon erwähnt, dass wir da durchaus Menschen in historischen Kostümen auftreten lassen und die auch sehr genau Schiller rezitieren lassen. Von daher glaube ich schon, dass sich …

Führer: Aber ich habe auch die Videos und die E-Gitarre erwähnt, und das kam bei Schiller – da bin ich ziemlich sicher – nicht vor.

Stemann: Man darf aber ja andererseits nicht vergessen, dass zum Beispiel ein Stück wie "Die Räuber" bei seiner Uraufführung zu großen Tumulten geführt hat, sowohl was ablehnende als auch begeisterte Reaktionen anging. Von daher hat es immer aufgeregt, das Theater, was Schiller gemacht hat, und das wollte er auch. Er wollte ja wirklich das Theater ganz neu erschaffen, er hat sich da ja als Nachfolger Shakespeares gesehen, auch nicht so ganz zu Unrecht. Das war aber eine Position, die zum Beispiel damals in Deutschland gar nicht so verbreitet war. Es gab da die Dramen von Lessing und verschiedene andere Dinge, aber diese Vitalität, die Schiller da umtreibt und die er in seine Stücke packt, die war für viele damals vollkommen verstörend, hat andererseits aber auch zum großen Erfolg geführt, auch schon zu Lebzeiten. Das Gleiche gilt jetzt zum Beispiel für die Inszenierung von "Die Räuber" oder auch andere Inszenierungen, die ich gemacht habe, also von daher bin ich da, glaube ich, gar nicht so weit jetzt von dem entfernt, was Schiller gewollt hat. Ich glaube, was Schiller nicht interessiert hätte, wären museale, tote Ausstellungsstücke gewesen. Ich glaube, da hätte er sich sehr gegen verwahrt und gewehrt. Von daher ist die Frage, womit wird man denn Schiller gerechter heutzutage.

Führer: Mit dieser platten Aktualisierung ja auch nicht, also dass man jetzt sagt, ach guck mal, das passt ja wunderbar zur Wirtschaftskrise …

Stemann: Genau, davon grenze ich mich sehr ab. Also interessanterweise, wir haben ja "Die Räuber", glaube ich, in Salzburg 2008 gemacht, das kam im Juli oder August raus, hatten dann im Oktober in Hamburg Premiere, und da haben tatsächlich Kritiker mich dann darauf angesprochen, "das ist ja interessant, wie Sie den Bankenskandal da schon reingeschrieben haben". Das habe ich nicht getan, das hat Schiller auch nicht getan, aber das ist natürlich, glaube ich, bei guter Literatur und guter Kunst so, dass das natürlich so Resonanzräume bietet für Dinge, die es ansonsten auch noch gibt, ohne diese explizit aussprechen zu müssen.

Führer: Wenn man lange genug sucht, dann hat ja Schiller eigentlich zu allem schon etwas Kluges gesagt, im Zweifel auch schon zur Bankenkrise. Zur Vergänglichkeit des Theaters, dieses berühmte Zitat, das muss ich jetzt auch noch mal anbringen, Herr Stemann: "Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Grenze, denn wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten". Was für den Mimen gilt, das gilt ja auch für den Regisseur. Sie arbeiten für den Moment, das Stück bleibt. Ist das manchmal auch ein bisschen bitter?

Stemann: Ja, interessanterweise, je älter ich werde und je mehr ich jetzt dann auch schon inszeniert habe, desto mehr wird mir das überhaupt erst bewusst. Man geht ja als junger Mensch da relativ leichtsinnig ran, weil man sowieso denkt, das Leben besteht aus Gegenwart. Das führt ja auch Leute dazu, Schauspieler zum Beispiel werden zu wollen oder eben überhaupt auch Theater machen zu wollen. Und irgendwann merkt man, das ist dann ja doch – einerseits führt das natürlich zu einer großen Vitalität, diese Vergänglichkeit, man weiß, man produziert für den Moment und man produziert nicht für die Ewigkeit und kann entsprechend Dinge wagen, die man sich vielleicht anders oder auf die man anders nicht so leicht kommen würde, wenn man immer daran würde, was soll denn das in 200 Jahren noch bedeuten. Andererseits hat man dann manchmal den Eindruck, dass in diesem Moment durchaus Sachen entstehen, bei denen es sinnvoll wäre, sie mal für die Ewigkeit zu konservieren, und das geht dann in diesem Medium Theater leider nicht. Ja, das hat durchaus was Bitteres, ja. Aber das ist, wie gesagt, also es ist auch Teil des Spiels.

Führer: Herr Stemann, also, 250. Geburtstag heute. Wenn Sie Schiller was schenken könnten, was fällt Ihnen da ein?

Stemann: Ja, da muss ich sagen, wenn Sie mich schon mit dieser Frage überraschen, dann muss ich wahrscheinlich sagen, dass ich Schiller eine – und das soll jetzt nicht eitel klingen, sondern einfach weil es mich interessieren würde –, ich würde ihm eine Karte schenken zu einer meiner Inszenierungen und ihn danach zum Essen einladen und hoffen, dass das ein interessanter Abend wird, dass es ein interessantes Gespräch, vielleicht eine interessante Kontroverse werden würde.

Führer: Heute ist der 250. Geburtstag Friedrich Schillers, und über den Dramatiker und Spieler Schiller und das Theater heute sprach ich mit dem Theaterregisseur Nicolas Stemann. Ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch, Herr Stemann!

Stemann: Ja, vielen Dank, Frau Führer!