Regisseur Özgür Yildirim über "Boy 7"

"Der Zuschauer ist noch gar nicht geübt darin, solche Filme zu gucken"

Özgür Yildirim
Özgür Yildirim © dpa / picture alliance / Georg Wendt
Özgür Yildirim im Gespräch mit Patrick Wellinski · 22.08.2015
Mit "Boy 7" wagt sich Özgür Yildirim zum ersten Mal an einen Genrefilm: Ein Thriller, in dem ein Junge nach seiner Erinnerung sucht. Im Interview erzählt er, warum das in Deutschland immer ein Risiko ist und warum er es trotzdem gemacht hat.
Patrick Wellinski: Sie hören "Vollbild", das Filmmagazin im Deutschlandradio Kultur. Seit Donnerstag ist "Boy 7" in den Kinos, ein Film, der wirklich wie ein Paukenschlag beginnt: Sam, ein junger Mann, wacht in einem Schacht auf und weiß nicht, wer er ist und wo er ist, er weiß nur, er wird verfolgt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch der niederländischen Schriftstellerin Mirjam Mous und Regisseur ist Özgür Yildirim, und der ist mir aus Hamburg zugeschaltet. Willkommen, Herr Yildirim!
Özgür Yildirim: Hi!
Wellinski: Wie sind Sie eigentlich an die Vorlage gekommen? Kannten Sie die Bücher vorab?
Yildirim: Nee, ich kannte das Buch gar nicht, ehrlich gesagt. Ich habe im Vorfeld ein Gespräch mit den Produzenten gehabt, die dann auf mich zukamen und mir von dem Roman erzählt haben und von dem Projekt und von dem Stoff und was sie vorhaben, und so ging das alles los. Erst später habe ich das Buch gelesen, also den Roman.
Wellinski: Und als Sie ihn gelesen haben, was fanden sie an ihm so begeisternd, dass Sie gesagt haben, ja, daraus könnte ich einen Film machen?
Yildirim: Grundsätzlich ist für mich immer wichtig, einen ganz bestimmten Aspekt daran zu finden, der mich interessiert, der mich reizt. In diesem Roman war dieser Aspekt eben die Manipulation an sich und es gibt ja sehr viele Filme, sehr viele Bücher, also sowohl in der Literatur als auch im Film gibt es eben sehr, sehr viele Beispiele, und ich bin ein großer Fan von Verschwörungsfilmen, von Thrillern und vor allem halt vom Genre allgemein, und mit "Boy 7" war das für mich die Gelegenheit, weiterhin in dem Bereich, Genre zu bleiben.
Wellinski: Vielleicht können wir ja mal die Manipulation etwas genauer fassen – es geht ja auch um Identitätsklau oder Schwindel.
Yildirim: Ganz genau. Es geht einfach darum, dass jemand am Anfang, dass der Held der Geschichte, Sam, überhaupt nicht weiß, wer er ist, wie er dort hingekommen ist an den Platz, an dem er aufwacht, und von dem Punkt an beginnt er zu ermitteln auf eigene Faust und versteht sehr, sehr schnell, dass er in Gefahr ist, und nach und nach kriegt er dann heraus, was wirklich mit ihm passiert ist. Ohne viel spoilern zu wollen im Vorfeld ist es einfach so, dass ich sagen kann, dass dahinter eben etwas ganz anderes steckt als das, was er sich gedacht hätte und versucht dann aus der Gefahr herauszukommen, in der er sich befindet.
Spannung ist im Kino genauso schwer wie Humor
Wellinski: Ist diese Dramaturgie, also dieses Rekonstruieren einer Identität – das kennt man jetzt vielleicht aus einem ganz großen Big-Budget-produktionstechnischen Hintergrund, vielleicht von der Bourne-Trilogie –, ist das für einen Regisseur dankbar, wenn man leichter Spannung aufbauen kann?
Yildirim: Spannung aufzubauen ist genauso schwierig wie die Leute im Kino zum Lachen zu bringen letzten Endes. Das hat natürlich nicht viel mit dem Budget zu tun. Das Budget, das wir hatten, war natürlich nicht groß und es ist ja auch kein Geheimnis. Am Ende des Tages ist es einfach so, dass wir einen Film gemacht haben, der sehr, sehr oft kurz vor dem Scheitern war und wir trotzdem so dermaßen daran geglaubt haben und eine große Leidenschaft entwickelt hatten insgesamt, sowohl vor als auch hinter der Kamera, dass wir gesagt haben, wir müssen das machen. Die Spannung zu erzielen und die Spannung überhaupt aufkommen zu lassen war natürlich immer oder ging natürlich immer vom Buch aus. Also was genau kann man machen, wie kann man den Zuschauer möglichst nah an der Figur dranhalten. Das ist natürlich wichtig, dass man mit diesen Genrekonventionen auch dann spielen kann, dass man variieren kann, darum geht es letzten Endes.
Wellinski: Aber denken Sie eigentlich dann an solche Bilder oder haben Sie die im Hinterkopf? Ich meine, diese dystopischen Jugendbücher sind ja gerade wirklich der Renner – "Tribute von Panem", "Hüter der Erinnerung", "Maze Runner" oder wie sie alle heißen –, distanziert man sich davon als deutscher Regisseur, weil, wie Sie es gerade gesagt haben, ich habe eh nicht das Geld oder ist das schon etwas, wo man sagt, ich muss mich daran abarbeiten, weil das ist jetzt endlich auch ein Publikum, das diese Filme kennt, die dann meinen Film sehen soll?
Yildirim: Ich bin ja in den 80er-Jahren mit ganz viel Filmegucken aufgewachsen, das heißt, es ist gar nicht zu vermeiden, dass man natürlich an ganz viele Filme denkt. Das ist ja auch kein Geheimnis. Ich meine, ein Tarantino-Film besteht aus 30 anderen Filmen, die in der Vergangenheit entstanden sind. Es ist immer gerade in Deutschland eine schwierige Geschichte – der deutsche Zuschauer, der kennt natürlich ganz viele amerikanische Filme und kennt kaum deutsche Genrefilme, denn es gibt kaum deutsche Genrefilme, und die Genrefilme, die es gibt, das sind ja Versuche, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Das ist ja wunderbar, dass momentan, in den letzten drei, vier Jahren jedes Jahr ein Genrefilm rausgekommen ist, der, auch wenn er nur teilweise funktioniert hat, trotzdem auf dem Markt für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Das ist ja etwas, was ich genau richtig empfinde, besser als dass man sagt, man bleibt immer nur in dem Bereich Komödie.
In einem Rahmen bleiben, der für den Zuschauer nicht zu weit weg ist
Wenn man sich die Franzosen oder die Skandinavier anguckt, die in Europa auch schon vor 30 Jahren angefangen haben, Genrefilme zu machen, die haben natürlich diese Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Wir sind gerade dabei, Genrefilme zu machen und man wird sehr, sehr schnell als Filmemacher dazu verdammt und gesagt, ah, das sieht aber nicht so geil aus wie "Tribute von Panem", das sieht nicht so geil aus wie die "Bourne Identity" oder so. Es geht auch gar nicht darum, so geil auszusehen, sondern es geht einfach darum, dem Zuschauer ein Versprechen zu machen, zu sagen, du gehst ins Kino und ich versuche dich da zu unterhalten, ich versuche, dir etwas zu geben in den nächsten 90 Minuten. Da muss man gerade als Filmemacher gucken und sagen, was ist der Rahmen, den ich mir setzen kann, was habe ich für einen Rahmen, wie viel kann ich mich darin bewegen, ohne peinlich zu werden oder ohne etwas zu versuchen, was einfach jenseits meiner Möglichkeiten ist. Das ist gerade bei "Boy 7" so eine Geschichte gewesen, die wir ständig hatten, in der Entwicklung, beim Drehen, auch im Schnitt, dass wir immer gucken mussten, wir bleiben möglichst in einem Rahmen, der für den Zuschauer nicht allzu weit weg ist. Wir machen keinen "Blade Runner", wir können keinen "Blade Runner" machen, aber wir wollen es auch gar nicht, denn das ist so weit weg und der deutsche Zuschauer ist noch gar nicht darin geübt zu sagen, ich gucke mir einen deutschen Genrefilm an, der mir jetzt sagen will, komm, schalt mal ab und guck dir den Film an, ich erzähle dir jetzt mal eine fiktive Geschichte.
In Deutschland funktionieren meistens die Filme – und das kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen –, die immer einen großen Realitätsbezug haben, in dem sich der Zuschauer wiederfinden kann. Also diese Identifikation ist für den deutschen Zuschauer bei den deutschen Film extrem wichtig. Du kannst keinen "Blade Runner" machen, auch wenn du das Budget hast, es wird immer Hater geben und die werden immer sagen, ach, das ist nicht so geil wie. Darum geht es auch letzten Endes gar nicht. Ich wünsche mir sehr, dass die Zuschauer diesen albernen Gedanken einfach mal loslassen oder auch die Kritiker und auch mal sagen, okay, da ist ein deutscher Film, das ist ein Genrefilm, der will mich unterhalten, ich schalte jetzt mal den Schalter dahin, wo er hingehört und ich gucke mir den Film mal an und ich versuche mal herauszufinden, ist es denn etwas, das mir Spaß macht, und darum geht es am Ende des Tages in dem Mainstream-Kino.
Das Publikum ist nicht zum deutschen Genrefilm erzogen
Wellinski: Genrekino in Deutschland ist also Aufbauarbeit, und ich finde sehr interessant, was Sie sagen, weil viele Regisseure bestätigen natürlich das, was Sie gerade erwähnt haben, dass da auch Steine in den Weg gelegt werden, gerade was das Fördersystem anbetrifft. Aber Sie erwähnen jetzt so häufig das Publikum, das finde ich interessant. Sie meinen, dass das Publikum noch gar nicht richtig zum deutschen Genrefilm hin erzogen ist, also, dass es keins gibt.
Yildirim: Ja, ich bin mir sicher, dass man das nicht verallgemeinern kann, es gibt sicherlich Zuschauer, die tierisch Bock drauf haben, aber es gibt auch sehr viele Zuschauer, die sehr skeptisch sind, auch aus einem guten Grund. Ich meine, es gab halt a) wenig Versuche in Deutschland und b) wenn es sie gegeben hat, waren es meistens leider Fehlversuche, und darüber ist der Zuschauer dann so enttäuscht. Nicht nur die Zuschauer, wir können ja auch noch mal auf die Förderer oder auf die Produzenten oder allgemein auf die deutsche Filmlandschaft zu sprechen kommen. Es ist eben so, dass die Förderer die ersten sind, mit den Produzenten, die überzeugt werden müssen. Wenn man einen Stoff hat, mit dem man zusammen mit den Produzenten zu den Förderern geht und sagt, hier, ich habe einen Film, helft uns, gebt uns Geld, ist es oft auch so, dass der Förderer die Position des Zuschauers einnimmt und sagt, ich weiß nicht, ob das funktionieren wird, ich weiß nicht, ob das so richtig toll ist, ich weiß nicht, ob ihr das auf die Beine gestellt kriegt. Da fängt das schon an mit den Hindernissen, man muss immer wieder Überzeugungsarbeit leisten. Bis man überhaupt das Budget zusammen hat, ist man schon um 50 Jahre gealtert. Und dann beginnt eigentlich die wirkliche Hürde – dann muss man erstmal den Film auf die Beine stellen, man muss das einlösen, was man versprochen hat, den Leuten, die dir das Geld geben. Wenn man das dann wiederum hinter sich gebracht hat, kommt dann der nächste Punkt, dann muss man die nächste Hürde überwinden, nämlich dann die Zuschauer wiederum zu überzeugen.
Wellinski: Das Ass im Ärmel von "Boy 7", wenn wir auf den Film kurz zurückkommen, das ist ja vielleicht auch die Besetzung. Allen voran ist David Kross zu nennen in der Hauptrolle, aber überhaupt ist der Film mit sehr, sehr guten deutschen Jungschauspielern besetzt, die ja dann auch das Publikum vielleicht einfangen könnten. Welche Rolle spielte für Sie das Casting?
Yildirim: Gerade in einem Mainstreamfilm spielt natürlich das Casting eine große Rolle, es ist ja ein Unterschied. Wenn man einen Arthouse-Film macht, geht es meistens eben nicht um diese Elemente, es geht nicht um diese Faktoren, es geht darum, eine Geschichte zu erzählen und der Künstler selbst muss damit zufrieden sein, und dann gibt es eben welche, die entweder den Film liken oder haten. Aber bei einem Mainstreamfilm wird ja grundsätzlich eh mehr Geld investiert, es wird mehr Geld ins Marketing investiert, das heißt es wird ein Versprechen gemacht und dieses Versprechen muss eingelöst werden. Um natürlich auch Rückhalt zu haben, greift man dann oftmals auf Jungschauspieler zurück oder auf Schauspieler zurück, die dann ein gewisses Publikum als Fanbase auch haben. Persönlich bei mir, und auch ging es den Produzenten nicht anders, da ist wichtig zu gucken, welcher Schauspieler, welche Schauspielerin passt überhaupt zu unserem Film. Wenn man dadurch jemanden hat, der zusätzlich ein gewisses Prestige hat in der Öffentlichkeit, ist es natürlich noch mal ein Bonus.
Dreh mit ganz viel Freiheit
Bei David Kross war das so, er war sehr, sehr früh im Gespräch für uns und jetzt nicht nur aufgrund seines bisherigen Erfolges, auch natürlich aufgrund, vor allem aufgrund seines Talentes haben wir gesagt, wir würden sehr gerne mal den David Kross darauf ansprechen, ob er Bock hat, mit uns zu drehen, vor allem, weil er auch in den letzten Zeiten nicht viele deutsche Filme gemacht hat und schon gar nicht als Hauptfigur. Emilia Schüle war auch eine der jüngeren Schauspielerinnen, die für uns sehr, sehr früh im Gespräch war. Wir haben beide gecastet voneinander getrennt und dann haben wir beide noch mal miteinander gecastet, um zu schauen, wie funktionieren die überhaupt miteinander, harmonieren die miteinander, und das jetzt gar nicht optisch, sondern rein spielerisch, das ist für mich persönlich als Regisseur das wichtigste. Die Filme, die ich bis dato gemacht habe, wie "Chiko" oder "Blutzbrüdaz" oder eben jetzt auch "Boy 7" – also wenn die wirklich leben, dann leben sie vor allem auch durch ihre Schauspieler und das ist eben sehr, sehr wichtig für mich. Ich arbeite sehr gerne mit Schauspielern und stelle mich sehr ungern als Regisseur über die Schauspieler und sage denen, jetzt machst du dies und jetzt machst du jenes, sondern bei mir haben die Schauspieler immer wirklich eine ganz, ganz große Freiheit und einen großen Freiraum und den müssen die haben, und dementsprechend besetze ich die auch überhaupt. Wir klappen das Drehbuch zu, schmeißen es in die Ecke und sagen, so, komm, lass uns mal die Szene jetzt richtig leben. So war das nicht nur mit David und mit Emilia, sondern auch mit all den anderen Schauspielern wie Ben oder mit Liv Lisa Fries oder Jörg Hartmann und all die anderen eben.
Wellinski: Özgür Yildirim, Regisseur von "Boy 7". Der Thriller mit David Kross in der Hauptrolle ist in den deutschen Kinos. Herr Yildirim, vielen Dank für Ihre Zeit und weiterhin viel Erfolg!
Yildirim: Ja, vielen Dank und viel Spaß beim Filmegucken!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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