Edgar Reitz wird 90

Chronist deutscher Alltagsgeschichte

09:56 Minuten
Edgar Reitz steht in dem Zimmer einer Filmproduktionsfirma.
"Heute können wir uns gar nicht mehr vorstellen, was für Beschränkungen die mechanische oder analoge Welt für uns mit sich brachte": Edgar Reitz ist ein Fan des Internets und der Digitalisierung. © picture alliance/dpa/Revierfoto | Revierfoto
Edgar Reitz im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.11.2022
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Mit seiner "Heimat"-Trilogie über das fiktive Dorf Schabbach im Hunsrück hat Edgar Reitz Filmgeschichte geschrieben. Zu seinem 90. Geburtstag spricht er über den Bedeutungswandel des Fernsehens und die aktuelle Blütezeit des Films.
Sein Epos "Heimat" ist über 60 Stunden lang und reicht vom Ersten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung. Drei Jahrzehnte hat der Filmemacher an der Trilogie gearbeitet. Er zählt zu den Gründervätern des "Neuen Deutschen Films" und gilt heute als Ikone des Kinos. Jetzt feiert Edgar Reitz seinen 90. Geburtstag.

Der Stoff ging ihm niemals aus

"Das konnte ich nicht einmal ahnen, was ich damit anfing, dass mich das 30 oder 35 Jahre beschäftigen wird", sagt Edgar Reitz über die Arbeit an seiner "Heimat"-Trilogie. "Aber wenn man in so einen Kosmos menschlicher Erfahrung und Geschichten einmal eingedrungen ist, dann hat man auch die wunderbare Erfahrung, niemals um Stoff verlegen zu sein." Anders als viele Kollegen, die nach der richtigen Idee für den nächsten Film suchten, "war ich von diesem Problem vollkommen befreit".
Dankbar ist Reitz in diesem Zusammenhang auch seinen damaligen TV-Partnern. "In den Siebziger- und Achtzigerjahren war das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus meiner Sicht eines der besten der Welt. Was wir heute den Neuen Deutschen Film nennen, wäre ohne diese Fernsehpartner, vor allem den WDR, niemals zustande gekommen. Das muss man historisch anerkennen, wie wichtig das für die kulturelle Entwicklung des deutschen Films gewesen ist."

Die Filmkunst dem Privatfernsehen geopfert

Bergab ging es mit dieser Zeit aus Reitz' Sicht nach der Einführung des Privatfernsehens und dem daraus resultierenden Konkurrenzkampf. "Die Verhältnisse heute sind eigentlich das Ergebnis eines ziellosen Kampfes, um in diesem Konkurrenzgeschäft zu überleben. Dabei ist sozusagen die Filmkunst geopfert worden." Insofern sei er dankbar, dass er beim Fernsehen im richtigen Alter auf die richtigen Leute getroffen sei. "Das waren Menschen, die einem immer mit der Frage begegneten: ,wie machen wir das?'"

"Heimat" in der 3sat-Mediathek: Die Chronik beschreibt anhand von Familienschicksalen die Geschichte der Deutschen, von den beiden Kriegen bis zum Wirtschaftswunder. 

Inzwischen sei das Fernsehen "ein alter Hut", sagt der Regisseur. Das Internet biete "viel beweglichere, viel effektivere, Verbreitungsmöglichkeiten". Besonders die Möglichkeiten der Digitalisierung für den Film begrüßt Reitz: "Heute können wir uns gar nicht mehr vorstellen, was für Beschränkungen die mechanische oder analoge Welt für uns mit sich brachte. Heute liegen die Grenzen woanders, und sich damit auseinanderzusetzen, ist kreativ. Ich habe das digitale Zeitalter als eine Erweiterung meiner Ausdrucksmöglichkeiten und meiner Werkzeuge empfunden."

Neue Blütezeit des Films

Insgesamt befindet sich der Film aus Sicht des Filmemachers derzeit in einer "regelrechten Blütezeit". Der Andrang an den Filmhochschulen sei gewaltig.  Allein in Deutschland würden gegenwärtig bis zu 100 Erstlingsfilme im Jahr gedreht. Doch die Distribution dieser Filme sei nicht gesichert; sie würden deshalb "in den Kanälen und Systemen verschwinden"; das Schicksal der Macher und die Hoffnungen der Beteiligten würde dabei vollkommen untergehen. "Das muss einfach gelöst werden. Da bin ich aber sicher, dass die nächste Generation das machen kann."
(ckü)
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