Regisseur Brian Helgeland

"Die Zuschauer sind selten vertraut mit der Verbrecherwelt"

Regisseur Brian Thomas Helgeland; Aufnahme vom April 2013
Regisseur Brian Thomas Helgeland: "Kriminelle sind oft sehr ehrlich in dem, was sie tun." © JOE KLAMAR / AFP
Moderation: Susanne Burg · 09.01.2016
Ich habe wirklich versucht, nichts zu erfinden. Das sagt Regisseur Brian Helgeland über sein Gangsterepos "Legend". Darin erzählt er die Geschichte der britischen Kray-Brüder, die in den 1960er-Jahren Berühmtheiten der Londoner Unterwelt waren.
Susanne Burg: Die Zwillingsbrüder Reggie und Ronnie Kray waren Berühmtheiten der Londoner Unterwelt der 60er Jahre: Sie haben Schutzgelder erpresst und gingen dabei sehr geschickt vor: Sie haben Allianzen mit Gegnern geschmiedet und auch Politiker und Prominente umgarnt. Die gingen bald in den Clubs der Krays ein und aus. Der Regisseur Brian Helgeland hat ihre Geschichte nun verfilmt – seit Donnerstag läuft das Gangsterepos "Legend" in den Kinos.
Zu sehen ist der grandiose Tom Hardy in einer Doppelrolle. Er spielt sowohl Reggie, den Kopf der Brüder, als auch Ronnie, der lange in der Psychiatrie saß und der Mann fürs Grobe ist:Sie haben als Drehbuchautor angefangen, haben Drehbücher geschrieben für Filme wie "L.A. Confidential", "Mystic River" oder nun "Legend".
Es sind alles Filme über Männer, Kriminalität und Gewalt. Und als ich ihn getroffen haben, wollte ich von ihm wissen, was ihn an diesen Geschichten so magisch anzieht.
Brian Helgeland: Ich finde, dass Kriminalgeschichten gut fürs Kino taugen, denn die Zuschauer sind in den seltensten Fällen wirklich vertraut mit der Verbrecherwelt. Kinofilme sind meistens gut, wenn man auf eine Person fokussiert, die eine weitreichende Entscheidung treffen muss und die mächtig unter Druck gerät. Gangsterstories reißen einen meist mit. Sie enthüllen viel Scheinhaftes.
Kriminelle sind oft sehr ehrlich in dem, was sie tun, und sehr klar in ihren Zielsetzungen. Sie scheren sich nicht um gesellschaftliche Regeln und irgendwie gefällt mir das. Ich muss natürlich eine Menge Nebensächliches weglassen, um zum Kern der Sache vorzudringen.

Susanne Burg:
Nun muss man doch eine eigene Story finden, um Wiederholungen zu vermeiden. Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, auf echten Personen, nämlich den Kray-Brüdern. Die waren in Großbritannien berühmt und berüchtig, Reggie Kray hat 1989 auch ein Buch geschrieben. Sie selbst sind Amerikaner und mit den Geschichten wahrscheinlich nicht groß geworden. Wie haben Sie sich durch den Wust an Material gearbeitet und daraus eine Story entwickelt?
"Ich habe eine ganze Reihe von Leuten getroffen, die die Kray-Brüder kannten"
Brian Helgeland: Nun, über 50 Bücher wurden über sie geschrieben. Ich habe sie alle gelesen. Es gibt einen Haufen Fotos, die ich gesichtet habe, und ich habe eine ganze Reihe von Leuten getroffen, die die Kray-Brüder kannten. Mit einigen, auch mit Gangstern, habe ich ausführliche Interviews gemacht. Ich habe eine Frau getroffen, die der Mutter die Haare frisierte. Zweimal pro Woche ging sie zu ihr nach Hause, sie war mit allen recht vertraut, und natürlich habe ich Gespräche mit ihr geführt. Die britische Schauspielerin Barbara Windsor war mit Charlie, dem dritten Kray-Bruder zusammen, sie kannte die Familie gut und ich habe sie befragt, genauso wie ehemalige Mitglieder der Gang.
Die wichtigste Begegnung war die mit einem Typen, der Christian Lambriano heißt. Er war Komplize und wanderte mit den Kray-Brüdern 1968 in den Knast. Mich interessierte Frances, Reggies Frau. Die Leute erinnerten sich zwar an sie, aber kaum an Einzelheiten. Ich verbrachte einen ganzen Tag mit diesem Chris. Ganz zum Schluss fragte ich ihn: Was kannst du mir über Frances erzählen? Und er antwortete doch tatsächlich: Wegen Frances sind wir alle ins Gefängnis gekommen.
Mir war nicht ganz klar, was er meinte, aber ich habe sofort begriffen, dass das eine entscheidende Aussage war. Er beschrieb die Firma, wie man die Gang nannte und dass es Reggie war, der alles am Laufen hielt. Wenn in der Nachbarschaft bei jemandem Polizisten auftauchten, dann klopfte er an und fragte, was die Polizei wissen wollte. War eine Ermittlung im Gange, verwischte er die Spuren, bestach Polizisten und stritt immer alles ab. Nachdem seine Frau sich das Leben genommen hatte, hörte er damit auf.
Die Gang spürte, dass ihr die Polizei immer dichter auf den Fersen war, aber Reggie unternahm nichts. Die Gangster hatten das Gefühl, dass er geschnappt werden wollte. In den 50 Büchern, die ich gelesen hatte, war davon nie die Rede gewesen. Lambriano war der einzige, der diesen Blick auf die Geschichte hatte, und ich wusste, dass ich sie so erzählen wollte. Diese Entdeckung machte ich ganz zum Schluss. Hätte ich meine Recherche ein paar Tage früher beendet, hätte ich nie davon erfahren.

Susanne Burg:
Das heißt, Sie mussten sich einiges dazu denken, weil diese Frau eigentlich sonst nirgendwo aufgetaucht ist. Sie erscheint im ersten Auftritt sehr mondän, gar nicht so richtig passend ins Londoner Eastend. Hatte davon auch jemand erzählt?
Brian Helgeland: Ihr Bruder und Leute, die sie kannten, haben sie immer als zerbrechlich beschrieben - ohne dass sie das näher ausgeführt hätten. Verschiedene Geschichten waren im Umlauf: So sollte sie als Teenager versucht haben, sich umzubringen. Es hieß, als sie noch sehr jung war, hätte sie eine Abtreibung gehabt und sehr darunter gelitten. Man schickte sie aufs Land zu Verwandten, damit sie sich beruhige. Das war kurz bevor sie Reggie kennen lernte.
Ihr Bruder war Reggies Fahrer. Eines Morgens war er spät dran und so machte sich Reggie auf den Weg zu ihm. Dort traf er dann auf Frances. Ich versuche, nicht allzu viele Dinge über sie zu erfinden, denn das ist nicht fair, aber ich picke mir ein paar Begebenheiten heraus, verleihe ihnen mehr Gewicht und Dramatik. Alles, was ich herausbekommen konnte, findet seinen Niederschlag im Film. Ich versuche wirklich, nichts zu erfinden. Ich habe sie zur Erzählerin gemacht, weil es mir erlaubt ist, mir vorzustellen, wie sie die Dinge nach ihrem Tod sieht - als sie nicht mehr gezwungen war, zu lügen.
Susanne Burg: Sie erzählt quasi zwischendurch die Geschichte. Im Zentrum stehen aber doch die beiden Brüder, Reggie und Ronnie. Tom Hardy spielt diese Doppelrolle, eine sehr interessante Entscheidung. Warum haben Sie die getroffen?
"Im Kino ist es meist so, dass Zwillinge von nur einem Schauspieler gespielt werden"
Brian Helgeland: Ich wusste nicht genau, wie es laufen würde. Im Kino ist es meist so, dass Zwillinge von nur einem Schauspieler gespielt werden, aber das Besondere am Filmen ist ja, dass die Produktion sich aus lauter kleinen Teilen zusammensetzt.
Bei den Kray-Zwillingen war Reggie tonangebend. Ich musste seine Rolle also zuerst besetzen. Mir stand kein Schauspieler vor Augen, der für beide Parts geeignet war. Ich habe Tom Hardy das Drehbuch geschickt, er las es, wir gingen essen und da ich ihn für die Rolle des Reggie wollte, habe ich sehr viel über diese Figur geredet. Er aber wollte nur über Ron reden.
Der Abend ging zu Ende, er sah mich an und sagte: Ich spiele Reggie, wenn du mir auch Rons Rolle gibst. Und ich sagte ja. Das war eine tiefgreifende Entscheidung, denn wenn das nur als Werbegag gedacht gewesen wäre, hätte das Publikum das mitbekommen und garantiert nicht durchgehen lassen. Von dem Augenblick an haben wir an nichts anderes mehr gedacht als daran, wie wir das mit zwei so unterschiedlichen Charakteren hinbekommen. Es war großartig zu sehen, wie Tom Hardy verschwindet. Er ist Reggie und er ist Ron. Tom ist unsichtbar und deshalb finde ich sein Spiel so gut.

Susanne Burg: Sie haben eben gesagt, Tom Hardy verschwindet eigentlich in den beiden Rollen. Er arbeitet für jeden der beiden eine ganz eigene Persönlichkeit heraus und die sind ja sehr, sehr unterschiedlich: Reggie ist sehr charmant, aber rücksichtslos, Ron ist eher ein steifer, impulsiver Psychopath. Wie sah das Drehen in der Praxis aus? Ist Tom Hardy von einer Figur zur anderen hin und her geschlüpft? Ich stelle mir das relativ schwer vor.

Brian Helgeland:
Ja, das ist natürlich im Drehbuch angelegt. Ich habe zwei verschiedene Charaktere entworfen und dann ist Tom Hardy dran. Üblicherweise hätte man erst Reggies Szenen gedreht, dann einen Monat Pause gemacht, damit Tom Zeit fände, sich mit Rons Rolle vertraut zu machen. Aber das war bei uns nicht drin. Wir hatten keine Zeit. Ich wusste nicht, ob wir Genehmigungen für die Drehorte bekommen. Tom musste also beide Brüder spielen, manchmal gab es nur eine Dreiviertel-Stunde Pause zwischen dem Rollenwechsel. Er begann immer mit Reggie, und ich spielte Ron, damit die Szene Tempo bekam. Von einem gewissen Zeitpunkt an spielte er beide. Er sprang hin und her, von einer Ecke des Zimmers in die andere. Wir nahmen Rons Dialogpartien auf und spielten sie ein, wenn wir Reggie filmten. Dazwischen musste er in die Maske und sich umziehen. Das ging alles sehr schnell. Zeit ist Luxus, und den konnten wir uns nicht leisten. Besonders das Schminken nimmt ja viel Zeit in Anspruch.
Er steckte etwas in den Mund, damit seine untere Zahnreihe anders aussah, und er schnitt etwas von einem Babynuckel ab, das er an die Nase klebte, damit sie gebrochen wirkte. Er war ganz fix darin, seine Frisur zu verändern. Ron war größer als Reggie, also steckten wir was in seine Schuhe. Der Film profitiert davon, dass die beiden Brüder - obwohl sie eineiige Zwillinge waren - doch unterschiedlich aussahen. Im Älterwerden wurde das besonders deutlich. Ron war dicker, schwerfälliger. Aber Tom war beide: Reggie und im Handumdrehen Ron.
Susanne Burg: Ich habe es eingangs schon erwähnt, Sie haben sehr viele Drehbücher geschrieben. Erst in den letzten Jahren sind Drehbuchautoren etwas bekannter geworden, sonst waren sie ja immer sehr im Hintergrund. Nun würde man denken, Regie zu führen ist dankbar, weil man damit auch seine künstlerische Vison als Drehbuchautor erfüllen kann. Wie geht's Ihnen, sehen Sie auch Nachteile oder Herausforderungen darin, wenn man beides in Personalunion macht, nämlich Drehbuchautor und Regisseur zu sein?
"Ich bin der schlechteste Regisseur, wen es darum geht, Szene zu streichen"

Brian Helgeland:
Ja, wissen Sie, wenn Sie nur Drehbuchautor sind, dann sind die Differenzen zwischen Ihnen und dem Regisseur meist erheblich. Ein Regisseur meint es nicht aggressiv, aber er sieht das Leben anders, genauso wie die Story, und das führt zwangsläufig zu Konflikten. Mir war immer klar, dass ich als Drehbuchautor in vielem nicht einverstanden sein würde mit den Regisseuren, aber es war nun mal nicht mein Job, gegen sie anzugehen, sondern einen Weg zu finden, die Geschichte bestmöglich zu erzählen. Wenn ich mein eigenes Drehbuch verfilme, ergeht es mir dabei nicht anders. Da spielt sich das gleiche ab, denn es macht einen Riesenunterschied, ob man im Zimmer sitzt und alles in seinem Kopf zusammenhält oder ob du am Set mit den Schauspielern, den Bühnenbildnern und allen anderen an der Produktion Beteiligten zurecht kommen musst.
Wenn du glaubst, dass deine Filmdialoge sich eins zu eins sprechen und spielen lassen, dann bekommst du echt Probleme. Von allen Filmregisseuren, für die ich je geschrieben habe, bin ich der schlechteste, wenn es darum geht, Szenen zu streichen oder am Set zuzugeben, dass sie nicht funktionieren und dass man besser was anderes probiert. Es gibt einfach einen großen Unterschied zwischen der Realität und dem, was man theoretisch weiß und schreibt.
Susanne Burg: Jetzt kann man das Ergebnis im Kino sehen. Vielen Dank!