Regiment der Versteher

Nicken bildet nicht

Präsident Wladimir Putin vor einer russischen Flagge.
Im Konflikt mit der Ukraine schlug die Stunde der Russland-Versteher, meint Alexander Kissler. © Ria Novosti / AFP / Aleksey Nikolsky
Von Alexander Kissler · 22.09.2014
Russlandversteher, Chinaversteher, Islamversteher - manche von ihnen lassen einen differenzierten Blick auf die Dinge vermissen. Wir erleben gerade eine antihistorische Wende, befürchtet der Historiker Alexander Kissler. Damit wenden wir uns von der Aufklärung ab, die uns dazu ermuntert hatte, die Dinge zu ergründen.
Wir leben in verständnisvollen Zeiten. Jeden Tag auf vielen Kanälen haben die Russlandversteher, die Chinaversteher und natürlich die Islamversteher ihren Auftritt. Letztere sagen, wenn eine neue Gräueltat im Namen des Islams die Runde macht: Das habe mit dem wahren Islam nichts zu tun, man müsse die ganz anders gearteten soziokulturellen Umstände im Nahen und Fernen Osten verstehen.
Der Chinaversteher hingegen applaudiert dem Alterspräsidenten dieser Republik, Helmut Schmidt, wenn dieser seine chinesischen Freunde vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, das Reich der Mitte verletze die Menschenrechte. Das müsse man verstehen, China sei anders.
Ganz besonders anders ist auch das benachbarte Riesenreich Wladimir Putins. Was immer dort geschieht an geopolitischen oder erkennungsdienstlichen Maßnahmen, dürfe nicht an der Elle eines westlichen Politikverständnisses gemessen werden. So sagen es die Russlandversteher.
Der Begriff schillert. Er taugt zur Selbstbeschreibung wie zur Denunziation. Russland- oder China- oder Islamversteher können jene sein, die sich um einen differenzierenden Blick bemühen, aber auch jene, die aus Naivität und Gutgläubigkeit die Gefahren nicht sehen wollen, die von Russland, China oder dem Islam ausgehen. Immer steht das Verstehen im Zentrum – und nicht das Erklären.
So kehrt ein hermeneutischer Abgrund wieder, der zurückweist ins 19. Jahrhundert. Wir erleben gerade eine antihistoristische Wende, die Rückkehr eines überwunden geglaubten Vulgäridealismus.
Die Ereignisse sollten sprechen, nicht die Interpretationen
Der Historismus, untrennbar mit dem Namen Leopold Ranke verknüpft, entstand um 1820 als Abkehr von der idealistischen Geschichtsbetrachtung nach Hegels Art. Ranke wollte zeigen, wie sich etwas eigentlich zugetragen hatte. Die Ereignisse sollten sprechen, nicht die Interpretationen. Zu diesem Zweck näherte Ranke sich in bester aufklärerischer Absicht den Naturwissenschaften an. Deren Domäne war und ist das Erklären, weniger das Verstehen. In den berühmten Worten Wilhelm Diltheys: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir."
Ranke ließ sich in seinen historistischen Absichten nicht beirren und zog sich prompt Hegels schroffen Tadel zu: Er, Ranke, verliere sich im Detail und in den "kleinlichen Interessen", er sei blind für das Ganze und den "allgemeinen Zweck".
Gewiss, um zum Kern der jeweiligen Sache vorzudringen, brauchen wir beides, das kühle Erklären und Zergliedern, und das sich einfühlende Verstehen. Momentan aber leben wir in der Ära eines billigen und bequemen Sofortverstehens. Was auch immer geschieht auf dieser Welt: Wir sollen es augenblicklich verstehen! Wir sollen es menschlich, allzu menschlich einordnen in eine fremde Geschichte und so entschuldigen, noch ehe wir es begriffen haben. Die Mühe des Erklärens gilt als lässlich, wenn nicht anstößig.
Insofern bedeutet das Regiment der Versteher eine Abkehr von den Prinzipien der Aufklärung. Die Empathie ersetzt das Argument, der "allgemeine Zweck" die Sachkenntnis, das grell ausgemalte große "Ganze" die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen. Auf der Strecke bleiben das historische Bewusstsein ebenso wie die Vernunft der Differenz.
Insofern kann die Losung des Tages nur lauten: Mehr Erklärung bitte und weniger Verstehen! Mehr Neugier und weniger Einverständnis. Nicken bildet nicht.
Alexander Kissler ist Publizist, Medienwissenschaftler und Historiker und leitet das Kulturressort des Monatsmagazins "Cicero“. Zuletzt erschien von ihm "Papst im Widerspruch. Benedikt XVI, und seine Kirche 2005 – 2013".




Alexander Kissler, deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler
Alexander Kissler, deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler© picture alliance / Erwin Elsner