Regieren

Von Volker Busse |
In unserem Verfassungssystem ist der Bundeskanzler erst der "dritthöchste" Repräsentant unseres Staates, gleichwohl gilt er als derjenige mit der größten politischen Gestaltungsmacht. Und diese Einschätzung trifft gewiss zu.
Denn er leitet die Bundesregierung, das Verfassungsorgan an der Spitze der Exekutive, der so genannten "zweiten Gewalt" im Staate. Hier hat er das Kabinettbildungsrecht und die Organisationsgewalt, also das Recht, seine Regierung personell und sachlich zu strukturieren. Abwählen kann ihn der Bundestag nur durch konstruktives Misstrauensvotum, also durch die gleichzeitige Wahl eines anderen Bundeskanzlers. All dies stärkt ihn im Vergleich zum Reichskanzler der Weimarer Republik. So hat das Grundgesetz gewiss mit dazu beigetragen, dass in der über 50-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erst achtmal ein Wechsel an der Spitze der Bundesregierung stattgefunden hat, während dies in den 14 Jahren der Weimarer Republik 14 mal der Fall war.

Die starke rechtliche Stellung des Bundeskanzlers wird unterstrichen durch seine Richtlinienkompetenz, also das Recht, die Leitgedanken der Regierungspolitik vorzugeben. Auch wenn sich dies nur auf die Regierung, nicht auf das Parlament erstreckt, so hat er auch darin eine starke Position. Er - und nur er, nicht aber seine Minister - wird vom Bundestag gewählt. Und in der Verfassungspraxis des Bundes ist dies bisher stets mit absoluter Mehrheit geschehen. Dies ist umso bemerkenswerter, als bisher fast nie eine Fraktion im Bundestag die absolute Mehrheit hatte, also durchweg die Bildung einer Koalition erforderlich war. Dass dies im Bund bisher stets gelungen ist, kann als Ausdruck einer gegenüber Weimar gewachsenen politischen Kultur gewertet werden.

Das soeben Gesagte gilt natürlich nicht nur für einen Bundeskanzler, von dem allein das Grundgesetz spricht, sondern selbstverständlich gleichermaßen für eine Bundeskanzlerin, wie sie seit 2005 regiert. Dass eine Frau das Amt erhalten hat, ja - darüber hinaus - dass trotz der Stabilität unseres Regierungssystems auch demokratischer Wechsel stattgefunden hat, also Vertreter verschiedener Parteien dieses Spitzenamt ausgeübt haben - all dies zusammengenommen hat (wie ich aus vielen Gesprächen mit ausländischen Regierungsvertretern weiß) zum hohen internationalen Ansehen unseres Regierungssystems beigetragen.

Und dennoch: Wie ist es mit der Handlungsfähigkeit unseres Regierungssystems wirklich bestellt? Hört man auf Kritiker, so vernimmt man verschiedene Stimmen: Dies gilt schon für die horizontale Ebene des Bundes: Was helfen Rechtspositionen innerhalb der Regierung, wenn Minister öffentlich gewisse Fragen kontrovers diskutieren? Wie kann der Bundeskanzler im Parlament notwendige Entscheidungen durchsetzen, wenn Vertreter der Koalitionspartner unterschiedliche Positionen artikulieren?

Der Blick geht weiter auf die vertikale Ebene des Bundes und der Länder: Wie kann der Bundestag mit seiner den Bundeskanzler tragenden Mehrheit Gesetzesbeschlüsse durchsetzen, wenn ihm eine von abweichendem Interesse geprägte Mehrheit der Länder im Bundesrat gegenübersteht? Zumal wenn über 60 Prozent aller Gesetze dessen Zustimmung bedürfen? Besonders stellt sich diese Frage dann, wenn der parteipolitischen Mehrheit im Bundestag eine gegenläufige Mehrheit im Bundesrat begegnet? Schließlich geht der Blick nach Europa: Gelingt hinreichend die Koordinierung von Interessen des Bundes und der Länder, um in Brüssel mit einer Sprache zu sprechen? Vor diesem Hintergrund stellen manche Beobachter Fragen nach der Handlungs- und Reformfähigkeit unseres Staates.

Nach meinem Dafürhalten sind hier zwei Gedanken zu einer Antwort wichtig:

Zum einen: Das laufende Gesetzgebungsverfahren zur Modernisierung unserer bundesstaatlichen Ordnung mit entsprechenden Grundgesetzänderungen bietet - bei allem Diskussionsbedarf im Detail - gute Möglichkeiten, zu einer Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern und damit zu mehr Handlungsfähigkeit staatlicher Organe zu kommen. Die Chancen dieser Reform sollten wahrgenommen werden.

Zum anderen: Unser parlamentarisches Regierungssystem zeichnet sich über die rechtlich geregelten Formen institutioneller Zusammenarbeit aus durch ein dichtes Geflecht informeller Kommunikation. Dies sollte nicht vorschnell kritisiert, vielmehr sollten die auch darin liegenden Chancen gemehrt werden. Kompromiss darf kein Fremdwort sein, sondern ist ein wichtiges Element der Demokratie.

Insgesamt bin ich überzeugt, dass unser Regierungssystem auch künftig seine Herausforderungen bestehen wird.


Volker Busse, Jahrgang 1939, Dr. jur., Richter OLG-Bezirk Köln, seit 1974 im Bundeskanzleramt, 1987 Ministerialdirigent, zuständig für Personalien der Bundesregierung, 2004-2005 Leiter der Dienststelle Bonn des Bundeskanzleramtes, 1.11.2005 Ruhestand, Vortragstätigkeit zur Regierungsarbeit im In- und Ausland.