Reformen in Saudi-Arabien

Die Chance, ein modernes Land zu werden

Kronprinz und Verteidigungsminister des Landes Saudi Arabien, Mohammed bin Salman al-Saud, im Palast Divan in Riad
Der Kurs von Mohammed bin Salman habe zwei Gesichter, sagt Reiner Hermann: innen der entschlossene Reformer, außenpolitisch harte Kante gegen Iran. © picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Rainer Hermann im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 06.04.2018
Es soll Kinos, Opernhäuser, Konzerte geben - und Frauen dürfen bald Auto fahren: Das erzkonservative Saudi-Arabien erlebt Reformen, wie sie bisher kaum möglich schienen. Den Islamwissenschaftler Rainer Hermann wundert das keineswegs.
Das Land ticke anders, als man von außen darauf projiziere, sagt Rainer Hermann, der nach eigenen Angaben seit 20 Jahren nach Saudi-Arabien reist: "Ich hab schon seit Jahrzehnten eine offene Mittelschicht, Jugendliche, die Unterhaltung fordern, gesehen, auf der anderen Seite auch eine reaktionäre Geistlichkeit in einem ultrakonservativen Land."

Salman ist ein Modernisierer, aber kein Demokrat

Kronprinz Salman stelle vieles von dem auf den Kopf, wie wir Saudi-Arabien gesehen hätten: "Wir haben Saudi-Arabien dämonisiert, und das völlig zu Recht, aber das beginnt sich nun zu ändern." Salman erweise sich als unglaublich durchsetzungsfähig und habe einen "Kreis der besten saudischen Technokraten um sich geschart", so Hermann:
"Wenn ich mit denen spreche, sagen sie, der Mann hat eine unglaubliche Auffassungsgabe, er kann zuhören und hat einen großes Ziel: Saudi-Arabien zu demokratisieren. Also er ist ein Macher, er ist ein Modernisierer, aber was er ganz gewiss nicht ist, er ist kein Demokrat."

Wer widerspricht, wird entlassen

Besonders bei der Jugend und in der Mittelschicht sei Salman populär. Dort komme vor allem gut an, dass die Korruption zurückgehe, unter der alle gelitten hätten. "Viele in der saudischen Bevölkerung wollen einfach normal in einem normalen Land leben, sie wollen etwas leisten, sie wollen etwas aufbauen, und diesen Leuten gibt Mohammed bin Salman eine Chance", sagt Hermann. Gewiss würden die reaktionären Religionsgelehrten eine Modernisierung nicht billigen. Aber sie seien Staatsbedienstete und täten letztlich, was der Herrscher wolle. Anderenfalls: "Wer widerspricht, wird einfach entlassen." (bth)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: In den vergangenen Wochen und Monaten kamen und kommen überraschende Meldungen aus Saudi-Arabien: Frauen dürfen künftig Auto fahren, man sah während eines Konzerts weibliche Besucherinnen im Publikum, Kinos und Opernhäuser soll es dort künftig geben, Jazzkonzerte veranstaltet werden, und Anfang der Woche hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman erstmals Israel das Existenzrecht zugesprochen und für ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern geworben. Mancher rieb sich da die Augen. Ob ihm das auch so ging, das will ich jetzt von Rainer Hermann wissen, einem Kenner des Landes, Islamwissenschaftler, Journalist und Autor – das Buch "Arabisches Beben" ist 2018 von ihm erschienen. Schönen guten Morgen, Herr Hermann!
Rainer Hermann: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Haben Sie diese Nachrichten aus Saudi-Arabien auch überrascht?
Hermann: Mittlerweile halte ich vieles für möglich, was aus Saudi-Arabien kommt. Ich reise seit 20 Jahren regelmäßig in das Land und hab in der Zeit gesehen, dass das Land in vielem anders ist, anders tickt, als wir es von außen draufprojizieren. Ich hab schon seit Jahrzehnten eine offene Mittelschicht, Jugendliche, die Unterhaltung fordern, gesehen, auf der anderen Seite auch eine reaktionäre Geistlichkeit in einem ultrakonservativen Land, und das hat sich zu verändern begonnen, natürlich in Dubai viel schneller. Die Saudis haben immer gesagt, wir haben unser eigenes Tempo, aber nun heute stellt der Kronprinz Mohammed bin Salman vieles von dem auf den Kopf, wie wir Saudi-Arabien gesehen haben. Wir haben Saudi-Arabien dämonisiert, und das völlig zu Recht, aber das beginnt sich nun zu ändern.

Anfangs glaubte keiner an Veränderung

von Billerbeck: Gestern wurde ja bekannt, dass die US-Firma AMC am 18. April, also in wenigen Tagen, ihr erstes Kino in der saudischen Hauptstadt Riad eröffnen soll. Bis 2030 soll es 350 Kinos geben, so steht es in der Reformagenda Vision 2030. Und der Kopf, Sie haben es schon erwähnt, hinter dieser Reformagenda ist Kronprinz Salman. Beschreiben Sie uns doch bitte, wer ist dieser Mann?
Hermann: Zu Beginn hat ihn keiner gekannt, auch die wenigsten meiner saudischen Gesprächspartner kannten ihn. Sein Vater bestieg 2015 den Thron, machte seinen Lieblingssohn Mohammed zum Verteidigungsminister, da war der erst 29 Jahre alt. Dann wurde er zweiter Kronprinz, dann erster Kronprinz, und die Öffentlichkeit war schlicht ratlos: Wer war dieser junge Mann? Es schlug ihm Skepsis entgegen, und als er seine ersten Reformvorhaben vorgestellt hat, da sagten sich die Leute, das wird sich schon wieder legen, da wird sich nicht viel ändern.
Er war zuvor Büroleiter seines Vaters, und das war eigentlich der Schlüssel, denn sein Vater Salman war für 60 Jahre der Gouverneur von Riad, und unter ihm wurde Riad eine funktionierende Metropole. Der Zweig der Salman hatte eigentlich nie eine realistische Chance auf eine Thronfolge. Die Familie waren immer Pragmatiker, sie sahen Fehlentwicklungen aus der Distanz, sie waren keine Ideologen, und dann plötzlich die Chance, doch unerwartet König zu sein, weil einige Kronprätendenten frühzeitig starben. Der Vater überließ dann Mohammed bin Salman, seinem Lieblingssohn, das Feld, und der erweist sich als unglaublich durchsetzungsfähig.
Er hat einen Kreis der besten saudischen Technokraten um sich geschart, und wenn ich mit denen spreche, sagen sie, der Mann hat eine unglaubliche Auffassungsgabe, er kann zuhören und hat einen großes Ziel: Saudi-Arabien zu demokratisieren. Also er ist ein Macher, er ist ein Modernisierer, aber was er ganz gewiss nicht ist, er ist kein Demokrat.

Einfach normal leben in einem normalen Land

von Billerbeck: Welche Rückendeckung hat er denn in seinem Land?
Hermann: Er ist außerordentlich populär, besonders bei zwei Gruppen – einmal der Jugend, und auf sie zielt er, wenn er sagt, ich eröffne Kinos, ich mache Unterhaltung möglich. In Umfragen, die in der arabischen Welt regelmäßig gemacht werden, gibt es in keinem anderen arabischen Land einen so hohen Anteil von Jugendlichen, die mehr individuelle Freiheit wollen, die mehr Reformen wollen. In den letzten Umfragen, die es dazu gab, sagen 90 Prozent der saudischen Jugendlichen, sie wollen mehr Freiheit, und auf genau diese geht er zu. Ebenso auf die Frauen, die nun Auto fahren dürfen, die ins Fußballstadion gehen dürfen, die in Fitnessstudios gehen dürfen, und zwei Drittel der saudischen Bevölkerung sind eben Jugendliche, und das ist sein großer Rückhalt.
Aber er hat auch Rückhalt in der Mittelschicht, bei Unternehmern beispielsweise, die nun plötzlich bessere Chancen haben, weil die Korruption zurückgeht, und in der Mittelschicht kommt auch gut an, dass die Korruption zurückgeht, unter der haben alle gelitten. Viele in der saudischen Bevölkerung wollen einfach normal in einem normalen Land leben, sie wollen etwas leisten, sie wollen etwas aufbauen, und diesen Leuten gibt Mohammed bin Salman eine Chance. Aber natürlich gibt es auch Widerstand, aber der ist eher gering.
von Billerbeck: Das wäre meine Frage gewesen. Das saudische Königshaus wird ja von sehr konservativen Religionsgelehrten, den wahhabitischen, getragen und unterstützt, und deren Interesse dürfte ja kaum die Modernisierung Arabiens sein, oder?
Hermann: Ganz gewiss nicht, ganz gewiss nicht. Aber sie sind Staatsbedienstete, und sie tun dann doch letztlich, was der Herrscher will, was der Herrscher ihnen vorgibt, und das war auch in der Vergangenheit so. In der Vergangenheit, in den 60er- und 70er-Jahren, da war Kommunismus die große wahrgenommene Gefahr, und dagegen setzte dann beispielsweise der saudische König Faisal erstmals den Export dieser wahhabitischen intoleranten Ideologie ein, um gegen diese Bedrohung vorzugehen.
Und später kam dann, 1979, die iranische Revolution dazu, die Gefahr des schiitischen Irans, und auch dagegen wieder der Export des wahhabitischen Islams. Also lange ließen die saudischen Könige diese reaktionären Religionsgelehrten an der langen Leine, aber heute holen sie sie wieder ein. Wer widerspricht, wird einfach entlassen …
von Billerbeck: Zack, so geht das.
Hermann: … und schweigen daher, aber das heißt nicht, dass sie die Reformen billigen würden.

Aufrüstung gegen Iran

von Billerbeck: Nun haben wir so ganz euphorisch – und Sie klingen auch so – von diesem jungen Prinzen gesprochen, der da so viele Reformpläne durchsetzt, aber ich hab’s ganz am Anfang der Stunde gesagt, der kauft gerade massiv Waffen ein, für Milliarden, in den USA. Und Sie haben auch beiläufig gesagt, er ist kein Demokrat. Was heißt das für so ein Land wie Saudi-Arabien und alle drumrum und auch uns andere in der Welt?
Hermann: Der Reformkurs von Mohammed bin Salman hat ganz gewiss zwei Gesichter: innen der entschlossene Reformer, aber außenpolitisch die harte Kante gegen Iran. Wenn wir auf die arabische Welt als eine Großregion blicken, so steckt sie in ihrer größten Krise seit dem Mongolen-Einfall im 13. Jahrhundert. Die Staaten implodieren, der regionale Ordnung fällt auseinander, und Iran nutzt diese Chance, in die arabische Welt einzudringen, hat sich einen Korridor von Teheran bis ans Mittelmeer verschafft.
In der arabischen Welt sind drei Großregionalmächte ausgefallen – Syrien, Irak und Ägypten –, und Saudi-Arabien nimmt es nun in der Auseinandersetzung mit Iran auf und rüstet da in einem unglaublichen Maße auf, hat Verteidigungsausgaben, Verteidigungsrüstungsausgaben von mehr als zehn Prozent am Bruttoinlandsprodukt – wenn wir das mit unserem Zwei-Prozent-NATO-Ziel vergleichen, unglaublich viel. Und das könnte dann aber letztlich auch eine Last für das Reformprogramm werden, weil viele Ressourcen abgezogen werden, und wenn es zu einem Kriegsfall kommen könnte, muss man damit rechnen, dass Freiheiten im Land doch wieder eingeschränkt werden.
Aber auf der anderen Seite sehe ich in diesem Reformprogramm auch eine Chance, dass sich Saudi-Arabien profiliert gegenüber Iran, dass Saudi-Arabien endlich ein moderneres, vielleicht sogar ein modernes Land wird und sich da gegenüber der Theokratie Islamischer Republik Iran in Szene setzen kann.
von Billerbeck: Rainer Hermann war das, Journalist und Buchautor, der nur so sprudelte über die Veränderungen, die in Saudi-Arabien derzeit zu erleben sind. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Hermann: Danke Ihnen, Frau von Billerbeck!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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