Reformationsrummel in Wittenberg

"Bei der Luther-Tomate - da greift man sich an die Birne!"

An diesem Automat wird die Luther-Tomate aus Wittenberg verkauft.
An diesem Automat wird die Luther-Tomate aus Wittenberg verkauft - eines von etlichen Reformationssouvenirs. © dpa-Zentralbild
Von Susanne Arlt |
500 Jahre Reformation – dieses Datum wird in Luthers Heimatstadt Wittenberg groß gefeiert. Geld kommt unter anderem vom Bund und von der Evangelische Kirche Deutschlands. Allerdings ist in Wittenberg kaum jemand religiös. Dafür wimmelt es in der Kleinstadt nur so von Luther-Nippes.
Religiös ist in Lutherstadt Wittenberg kaum jemand. Trotzdem wirbt das Land seit einem halben Jahr mit dem Slogan 'Sachsen-Anhalt - Ursprungsland der Reformation'.
Martin Luther hat hier vor knapp 500 Jahren seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen - und tatsächlich erinnert derzeit sehr vieles hier an die Reformation, obwohl die Stadt auch Residenz der sächsischen Kurfürsten und ehrwürdige Universitätsstadt war.
Sei’s drum. Für dieses besondere Jubiläum legen sich Staat und Kirche mächtig ins Zeug. Allein für die Evangelische Kirche in Deutschland sind hier 90 Hauptamtliche und mehr als 160 Freiwillige für die Jahrhundertfeier im Einsatz. Schließlich ist das Reformationsjubiläum das nationale Kulturereignis des Jahrzehnts.
250 Christen sind also schon da und in diesem Jahr werden vermutlich noch weitere 300.000 dazukommen, um 500 Jahre Reformation zu feiern. Nicht jeder der 45.000 Wittenberger ist darüber begeistert.
Denkmal des Reformators Martin Luther (1483-1546) mit der Stadtkirche im Hintergrund in der Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt). 
Denkmal des Reformators Martin Luther mit der Stadtkirche im Hintergrund in der Lutherstadt Wittenberg© dpa / picture alliance / Peter Endig

Manuskript zur Sendung:
Wittenberg, Ende Januar. Ein nasskalter, windiger Tag. Abends um sechs Uhr wirken die Gassen wie ausgestorben. Selbst in den Geschäften sind kaum Menschen zu sehen. Einziger Lichtblick: das hell erleuchtete, alte Rathaus. Ein Renaissance-Bau, weiß getüncht mit vier großen Giebeln an der Frontseite.
Vor dem Rathaus stehen zwei große Bronzefiguren. Mannshoch auf steinernen Sockeln. Sie dominieren den Platz. Auf der rechten Seite der wohl berühmteste Mann der Stadt: Martin Luther. Barhäuptig, eingehüllt in einen Talar, in seinen Händen die Bibel. Ein gusseiserner Baldachin schützt ihn vor Regen. Auf der linken Seite Philipp Melanchthon, der große Theoretiker der Reformation, der die Bildungsgeschichte Deutschlands auf Jahrhunderte prägte. Eckdaten, wie sich das offizielle Wittenberg gerne sieht.
Im Ratssaal haben Bürgermeister Jochen Kirchner und der Verein Reformationsjubiläum 2017 zum Stadtgespräch geladen. Der herrschaftliche Saal mit hölzerner Kassettendecke bietet einmal im Monat den Wittenbergern die Chance, mit ihren Stadtoberen ins Gespräch zu kommen, sich auch mal Luft zu machen. Einmal geht es um Asylsuchende und Flüchtlingsheime, ein anderes Mal um Perspektiven für die Jugendlichen der Stadt. An diesem Abend steht das Reformationsjubiläum auf dem Programm. Die Stühle im Saal und auf der Galerie sind schnell besetzt. Wer zu spät kommt, muss auf den Flur ausweichen. Dort steht eine Leinwand, ein Beamer überträgt die Podiumsdiskussion.

Neben Oberbürgermeister Jochen Kirchner sitzen auf dem Podium Vertreter des Vereins Reformationsjubiläum 2017. Und Kunstprofessor Walter Smerling, der über die Kunst-Ausstellung "Luther und die Avantgarde" referieren soll, die im Mai im ehemaligen Gefängnis von Wittenberg eröffnet wird. 70 internationale Künstler stellen dort ihre Werke auf wenigen Quadratmetern in den alten Haftzellen aus. So wie damals Martin Luther wollen auch sie ihre Haltung zu Themen wie Freiheit, Individualität und Widerstand reflektieren. Namhafte Künstler machen mit: Ai Weiwei, Markus Lüpertz, Olafur Eliasson, Isa Genzken, oder Richard Jackson. Das zeitgenössische Who is Who der internationalen Kunstszene. Für die kleine Stadt an der Elbe ein Novum.
Der Wittenberger Bürgermeister freut sich auf das Fest und appelliert an sein Publikum: "Ich glaube, an alle adressiert wird es ein ganz spannendes Jahr, wir sind mittendrin im Reformationsjahr. Das Tempo nimmt an Fahrt zu, wir freuen uns auf die wunderbaren Ereignisse, die vor uns stehen. Und ich glaube, es ist hier auch noch einmal wichtig zu sagen, dass wir uns alle Mühe geben sollten, ordentliche, gute Gastgeber zu sein. Für die Gäste aus nah und fern, aber ich bin da ziemlich optimistisch, dass uns das gelingen wird. Herzlichen Dank."

Hunderttausende Besucher werden erwartet

120 Veranstaltungen pro Woche sind geplant, dazu kommen Stände, Ausstellungen, spezielle Themenwochen, erzählt Ulrich Schneider, Geschäftsführer vom Reformationsjubiläum 2017. Gegründet vom Rat der Evangelischen Kirche Deutschland und dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, um das Jubiläum vorzubereiten. Mit wie vielen Besuchern in dieser Zeit die EKD rechnet, darüber sagt er an diesem Abend lieber nichts. Dass allein am großen Mai-Festwochenende anlässlich des 36. Evangelischen Kirchentags 250.000 Gäste kommen wollen, stand schon mehrmals fett in den Schlagzeilen der Lokalzeitungen. Beängstigend, haucht eine Dame mittleren Alters in der ersten Reihe.
"Lutherstadt Wittenberg ist eine kleine Stadt. Die auch begrenzt ist durch die Elbe. Und wir haben ja diesen großen Besucheransturm, also, uns wird schon manchmal Angst und Bange, wie das werden soll, ob man da überhaupt noch einen Parkplatz findet, denn es ist ja jetzt schon mehr oder weniger ein Problem. Wir kennen ja diesen großen Andrang zu Luthers Hochzeit, wenn sich dann der ganze Pulk massenweise durch die Stadt schiebt und das sind praktisch die normalen Jahrgänge. Was wird werden, wenn jetzt doppelte und dreifache Menge der Leute hier ist, also uns ist es manchmal schon ein bisschen blümerant."
Zwei Frauen, die hinter Heike Kurth sitzen, nicken. Sie freuen sich zwar auf das Jubiläum. Haben aber auch Bedenken:
"Da kann einem schon ein bisschen Angst werden, wenn wir so wie ein zweites Rom werden, dass die Stadt das alles gar nicht so bewältigt. Dass die Stadt aus den Nähten platzt, wenn so viele da sind. Und ich denke, ich persönlich werde mich etwas zurückhalten, also das ist mir dann zu viel."

Nur 20 Prozent haben eine Religion - Katholiken und Muslime eingeschlossen

Um den Wittenbergern dieses mulmige Gefühl zu nehmen, setzte die Geschäftsstelle von Anfang an auf Transparenz, Kommunikation und Beteiligung. Das Stadtgespräch ist nicht der einzige Versuch, den Wittenbergern das Reformationsjubiläum schmackhaft zu machen. Kein simples Unterfangen, denn religiös ist in Wittenberg kaum jemand. Gerade mal 20 Prozent gehören überhaupt einer Konfession an - Katholiken und Muslime eingeschlossen. Darum lautet die Strategie der EKD: alle Menschen mitnehmen. Der Verein macht einen Tag der Offenen Tür, organisiert Beteiligungs-Workshops, und beteiligt sich am Stadtgespräch.
Am Ende des Abends hat man den Eindruck, die Veranstalter des Reformationsjubiläums geben sich redlich Mühe, die Wittenberger nicht zu vergraulen. Und Pressesprecher Christof Vetter sagt zum Abschluss ergriffen:
"Manche Termine, die Sie heute Abend hier mitbekommen haben, haben wir noch gar nicht, aber wirklich noch gar nie öffentlich gesagt. So wichtig sind uns die Wittenbergerinnen und Wittenberger, dass uns immer klar war, diese Termine sagen wir zum ersten Mal in Wittenberg."
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Sophie Wolff zeigt auf eine kleine Empore. Das Ehepaar nickt erfreut, noch einen Platz ergattert zu haben. Tagsüber arbeitet Sophie Wolff als Volunteer für das Reformationsjubiläum. Abends am Wochenende jobbt sie in der "Niederlassung", nicht weit vom Wittenberger Schloss. Die Kneipe gehörte früher ihrem Vater. Sie habe schon immer gerne gekellnert, erzählt die 26 Jahre alte Studentin. Und ein kleines Zubrot zum nicht gerade üppigen Gehalt eines Volunteers sei auch nicht schlecht. Schwungvoll stülpt Sophie Wolff ein dreckiges Bierglas über die Spülbürste.
Schon stehen die nächsten Gäste am Tresen. Wir suchen einen Tisch für zwei, sagt die Dame.
Mit geübtem Griff zapft Sophie Wolff ein Bier. Meine Kommilitonen sitzen sicher schon an ihrer Masterarbeit, erzählt sie. Die Wittenbergerin hat sich anders entschieden und für ein ganzes Jahr ihr Studium ruhenlassen. Sie wollte unbedingt bei den Planungen für das Reformationsjubiläum dabei sein. Immerhin – die Zeit kann sie sich als Praktikum für ihr Studium anrechnen lassen. Gründe dafür hat Sophie Wolff gleich mehrere:
"Dass man Wittenberg irgendwie hilft, also, dass ich meiner Heimatstadt was Gutes tue. Und einfach diese Erfahrung, Reformationsjubiläum 500 Jahre Luther, dass man das ja nie wieder in diesem Sinne aufziehen werden wird, wie es dieses Jahr einfach aufgezogen wird. Also, das ist so ein einmaliges Erlebnis, dass man einfach ein Teil davon sein wollte, oder ich."

"Nichts kommt bei 'rum für den Wittenberger an sich"

So wie Sophie Wolff geht es längst nicht allen 46.000 Einwohnern der Stadt. Die Studentin nickt. Ist immer mal wieder Thema unter den Stammgästen, sagt sie und grinst. Zum Beispiel die Menschenmassen, die dann unaufhaltsam durch die Stadt strömen. Oder die Straßensperrungen. Oder die 120 Veranstaltungen pro Woche. Oder, oder, oder, seufzt Sophie Wolff. Sie rate dann ihren Stammgästen, alles einfach mal auf sich zukommen zu lassen.
"Wäre auch eine Option, die für viele nicht gilt, weil sie sich das Maul darüber zerreißen und denken, die ganzen Steuergelder und was auch immer hier in die Luft gepustet wird und nichts kommt bei 'rum für den Wittenberger an sich, dass die nichts von dem großen Lutherkuchen abbekommen. Also, ich sage dann immer zu unseren Stammgästen, dass das ja jetzt quasi auf das ein Jahr bezogen ist und... aber dann irgendwie ist wieder Ruhe und dann ist für immer Ruhe und dann schläft halt alles wieder ein."
Warum diese Widerstände? Sophie Wolff zuckt mit den Schultern. Wittenberger regten sich grundsätzlich gerne über Dinge auf, meint sie. Natürlich spiele auch die Konfessionslosigkeit eine Rolle. Außerdem ist der soziale Aderlass nach dem Mauerfall noch immer zu spüren. Seit mehr als 25 Jahren ziehen vor allem junge Menschen konsequent weg. Es gibt einfach zu wenig gut bezahlte Jobs. Noch immer liegt im Kreis Wittenberg die Arbeitslosenquote bei rund zehn Prozent. Die vielen älteren Menschen in der Stadt mögen eben keine Veränderung.
"Ab Mai wird viel los sein, es werden tausende Menschen nach Wittenberg kommen, und Herr Müller und Frau Müller können nicht mal eben ganz in Ruhe ihr Eis essen gehen am Sonntag. Weil die Eisdiele sicherlich voll sein wird. Und so 'ne banalen Sachen sind, glaube ich, für viele ein Punkt, wo sie sich jetzt einfach aufregen. Oder wo sie sagen: Wo parken wir? Ich möchte früh zum Bäcker und da sitzen dann schon viele. Also, das ist einfach so eine Veränderung im alltäglichen Leben, wo viele jetzt so ein bisschen Angst davor haben, sich dagegen sträuben und das eigentlich nicht wollen."
Es gibt aber auch heimische Befürworter des Reformationsjubiläums. Zum Beispiel Peter Schürmann. Das Jubiläum sei sehr einschneidend für die ganze Region, sagt der knapp 60 Jahre alte Mann, der vor den Toren der Stadt lebt:
"Das ganze Jahr ist ja praktisch mit Höhepunkten übersät. Wir hatten ja schon Besuch von einigen Königshäusern, Schweden, Dänemark, das holländische Regenten-Paar war erst vor kurzem hier. Und das ist natürlich für eine Stadt wie Wittenberg ja ein besonderer Höhepunkt. 500 Jahre Revolu…, äh. Reformation ist ja nicht jedes Jahr. Man merkt das auch, dass in Wittenberg sehr viel gebaut wird. Man sieht fast täglich, dass irgendwas Neues geschaffen wird. Und es ist natürlich für die Bürger der Stadt und der Region erfreulich, sage ich mal."

"Man muss nicht christlichen Glaubens sein und kann trotzdem bestimmte Dinge beherzigen"

Peter Schürmann ist gut informiert. Seinen Beruf will er nicht verraten. In der Kirche sei er nicht, sagt er. Warum auch? Um Luthers Thesen und Bestreben zu verstehen, müsse man doch nicht getauft sein.
"Wenn jemand die Bibel ins Deutsche übersetzt, um den einfachen Menschen den Glauben näher zu bringen, dann ist das schon ein tiefer Einschnitt. Und dass Luther auch sehr standhaft geblieben ist und nicht seiner Idee abgeschworen hat, das wissen alle Wittenberger. Man ist schon stolz auf Luther. Man muss nicht christlichen Glaubens sein und kann trotzdem bestimmte Dinge, die Luther ausgesprochen hat, beherzigen. Ich sage einfach mal einen berühmten Satz: Fürchte Gott, achte die Obrigkeit und sei nicht unter den Aufrührern. Da muss ich nicht unbedingt Christ sein, um diese Dinge zu verstehen und dieses Dinge entsprechend für mich zu interpretieren."
Seine Frau Ramona hört zu. Nur bei dem letzten Satz nickt sie. Welchen Bezug hat sie zu Luther? Sie hebt kurz wie zur Abwehr die Hände.
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Camillo Seifert vor dem Lutherpanorama des Künstlers Yadegar Asisi
Camillo Seifert vor dem Lutherpanorama des Künstlers Yadegar Asisi © Deutschlandradio / Susanne Arlt
"Wir stehen in einer Welt, wie sie vor 500 Jahren war. Und das ganze Kunstwerk ist äußerst komplex. Sie haben Dutzende von Szenen, die man alle einzeln erläutern kann und die wirklich alle sei es nun kulturgeschichtlich, politikgeschichtlich, landesgeschichtlich oder reichsgeschichtlich alle eine Bedeutung haben. Tagelang könnte man darüber referieren, aber der Zugang funktioniert trotzdem anders, der Zugang funktioniert emotional."
Fürwahr. Für einen kurzen Moment fühlt man sich ins Mittelalter versetzt. Camilo Seifert steht in einer 15 Meter hohen, abgedunkelten Rotunde. Das Lutherpanorama. Mit Hilfe eines Spezialdrucks hat der Künstler Yadegar Asisi dort das Leben aus der Zeit Martin Luthers auf 1.100 Quadratmetern Leinwandstoff gebannt. Mägde und Knechte auf dem Marktplatz, dampfende Mistkarren, eine Prozession mit Ernst von Wettin. Mit Luther gibt es gleich mehrere Szenen. Als junger Mann in Mönchskutte bei seiner Ankunft, beim Abendessen in der Probstei, als Schatten in der Kirche und natürlich als wohlgenährter älterer Herr im Talar vor der Schlosskirche.
Allerdings steht die 360-Grad-Show genau auf dem Platz, auf dem sich einst das Kultur- und Tagungszentrum Maxim Gorki befand. Böse Zungen in Wittenberg behaupten, es sei einzig und allein wegen des Reformationsjubiläums abgerissen worden. Was natürlich nicht stimmt. Das Gerücht hält sich trotzdem hartnäckig. Camilo Seifert seufzt kurz und lächelt dann.
"Bei den Wittenbergern haben wir sehr positive Resonanz. Wir hatten ja auch schon sehr viele Besucher, vom 22. Oktober unserem Eröffnungstag bis Ende des Jahres 2016, 50.000. Wir haben wegen der großen Nachfrage der Wittenberger auch eine Jahreskarte eingeführt, dass man die nutzen kann jedes Mal, wenn man den Wunsch hat, das Panorama aufzusuchen."

"Die Wimmelbücher haben ja ihre Vorbilder in der Kunst bei den niederländischen Meistern"

Das Spektakel hat fünf Millionen Euro gekostet und wurde von der Stadt, der EKD und dem Künstler finanziert. Dass die 360-Grad-Reformationsshow an ein Wimmelbuch in Großformat erinnert, stört den studierten Historiker und Religionswissenschaftler nicht.
Camilo Seifert: "Die Wimmelbücher haben ja ihre Vorbilder in der Kunst bei den niederländischen Meistern. Die haben ja auch so ländliche Szenen gemalt, wo es einfach gewimmelt hat vor Leben und verschiedenen Tätigkeiten, die da die bäuerliche Bevölkerung durchgeführt hat. Und das hat man später sich als Vorbild genommen als man die ersten Wimmelbücher für Kinder angefertigt hat. Und natürlich, das hat ja auch Yadegar Asisi gesagt, man macht ja Kunst in einer Tradition."
Fakt ist: Man kann die Ausstellung ohne besonderes Vorwissen verstehen. Sie ist ein Kunstwerk, kein wissenschaftliches Werk. Das Lutherpanorama biete breiteren Bevölkerungsschichten einen Zugang zum Thema Reformation, glaubt Camilo Seifert. Darum geht es ja der EKD beim diesjährigen Reformationsjubiläum. Die Stadt Wittenberg hat ihren Luther bislang eher bodenständig gefeiert. Luthers Hochzeit im Sommer, das Reformationsfest im Herbst. Mittelalterliches Spektakel mit Töpfermarkt, Weinfest, Tanz und Luftballons.
Camilo Seifert: "Was hier passiert ist mit Figuren wie Luther und Melanchthon, die wurden in einer gewissen Art und Weise hier folklorisiert. Es besteht natürlich die Gefahr, dass jemand, der diese Person für sich schon folklorisiert hat, der wird durch dieses Kunstwerk natürlich nicht geändert. Sondern es wird für ihn weiter ein Stück liebgewonnen Folklore bleiben. Auf der anderen Seite ist es so, das ist auch intendiert, dass man auf dem Kunstwerk so viel sehen kann und eigentlich muss man dann rauskommen und ganz viele Fragen haben. Eigentlich ist es die Aufgabe von jedem Einzelnen, dass er versucht, sich diese Fragen zu beantworten."

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"Blinde Flecken" lautet der Arbeitstitel von Luise Schröders Konzeption für die Ausstellung "Luther und die Avantgarde", in der die Künstler ihre Haltung zu Themen wie Freiheit, Individualität und Widerstand vermitteln sollen. So wie damals Martin Luther. Die Recherchen der Künstlerin laufen auf Hochtouren. Am Vormittag hat sie das Wittenberger Stadtarchiv durchforstet, auf der Suche nach einem geeigneten, öffentlichen Platz für ihre selbstgestaltete Gedenktafel. Jetzt streift sie durch die historische Altstadt, zeigt auf eine Häuserwand. In etwa drei Metern Höhe hängt ein weißes Emaille-Schild: Carl Christian Horvath steht dort in schwarzer Schrift. Gelebt hat er von 1752 bis 1837, er war Gründer des deutschen Börsenvereins und wohnte in der Jüdenstraße 37. An etlichen Fassaden in Wittenberg hängen solche Gedenktafeln. Mittlerweile erinnern 100 Emaille-Schilder an historische Persönlichkeiten, die für die Lutherstadt wichtig erscheinen. Aber:
"Von diesen 100 Tafeln sind 98 Männern gewidmet und zwei lediglich sind für Frauen. Mich macht das wütend, weil, das ist eine Reproduktion von Verhältnissen, die mir sehr oft begegnen und zwar nicht nur im geschichtlichen Bereich, sondern eben auch als Künstlerin. Dass man sozusagen ganz besondere Leistungen erbringen muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden und sichtbar zu werden. Um eine Plakette, eine Auszeichnung zu bekommen."
Immerhin, Olga Gebauer hat eine Emaille-Widmung erhalten. Sie studierte um 1880 in Wittenberg und gründete später den Hebammenverband. Caroline Friederike Neubers Tafel hängt in einer Seitengasse.
Luise Schröder: "So jetzt kommen wir der Tafel ein bisschen näher. Auf der Tafel steht, dass sie Schauspielerin, Dramaturgin ist und hier 1728 gastiert hat. Sie besuchte die Stadt und das ist unter anderem ein Kriterium für die Personen, die auf diesen Tafeln zu sehen sind. Die müssen nicht zwangsläufig aus Wittenberg sein, weil, Napoleon ist ja nicht aus Wittenberg. Der hängt hier auch. Also es gibt hier relativ viele, wichtige Vertreter aus Politik und Gesellschaft und Wissenschaft und Forschung, die aber eben männlich sind."
Dieses Missverhältnis sei Ausdruck einer männlich dominierten Geschichts- und Erinnerungskultur, ärgert sich Luise Schröder. Jetzt hofft sie auf die Mithilfe der Wittenberger und Wittenbergerinnen. Sie sollen vorschlagen, welche weiblichen Persönlichkeiten auf einer neuen Gedenktafel verewigt werden sollten. Die Resonanz sei gut, fast 60 Vorschläge habe sie bisher erhalten.

Eine Ausstellung und die Suche nach weiblichen Persönlichkeiten der Stadt

Seit Anfang der 90er-Jahre stehen die Tafeln unter der Schirmherrschaft des Rotarier-Clubs Wittenberg. Dem Verein gehören illustre Männer an wie der frühere Ministerpräsident Wolfgang Böhmer und der jetzige Ministerpräsident Rainer Haseloff.
Luise Schröder: "Die kümmern sich sehr stark um bestimmte Belange innerhalb der Stadt, nehmen das sehr ernst und übernehmen auch die Verantwortung dafür. Was den Umgang mit Geschichtsschreibung und vor allem diesen Tafeln betrifft, finde ich ihn, sagen wir mal, sehr übertrieben traditionsreich. Und das heißt nicht besonders zeitgenössisch, was den Umgang mit einer bestimmten Form von kritischer Gedenkkultur innerhalb der Stadt betrifft."
Etwa die Hälfte aller 100 Tafeln gehe auf Rotarier-Vorschläge zurück, schätzt Luise Schröder. Besonders begeistert seien die überwiegend männlichen Mitglieder von ihrem zeitgenössischen Kunst-Projekt nicht gewesen, erinnert sie sich.
Luise Schröder: "Natürlich glaube ich, dass sie davon ausgehen, dass ich dann einen Vorschlag aus diesen Einreichungen wählen werde. Den auf die Tafel bringen werde und damit auch letztendlich ihre Narrativen ein Stückweit untergrabe, aber es wird schon eher ein Gegenbild, oder eine Gegenschrift sein."
Eine künstlerische Fiktion. Im Kern aber geht es ihr so wie damals Martin Luther um Widerstand, um das Aufstehen für die eigenen Rechte. Ihre Arbeit für die Ausstellung "Luther und die Avantgarde" ist zweigeteilt. Die 60 Vorschläge werden anonymisiert und auf einer Wandtapete in einer Zelle in dem alten Gefängnis von Wittenberg gezeigt, erzählt Luise Schröder. Für ihre selbstgestaltete Gedenktafel ist sie noch auf der Suche nach einem Platz in der Wittenberger Innenstadt.
"Es gibt hier einen Ort, den es quasi nicht mehr gibt, das ist das KTZ Maxim Gorki. Das ist ein Ort, der ist abgerissen worden, da steht jetzt das Asisi-Panometer. Und auf diesem Standort stand eben mal dieses Kulturzentrum."
Hier stand einst die Stadtmauer, vermutlich auch ein Lazarett des Roten Kreuzes. Für Luise Schröder ist der Platz interessant, weil sich nach dem Mauerfall hier der frauenpolitische Runde Tisch getroffen hat. Damals ging es um Themen wie Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, alleinerziehende Mütter. Meine Gedenktafel wird auf Augenhöhe angebracht, sagt Luise Schröder fast trotzig und kramt ihren Fotoapparat aus dem Rucksack.
Luise Schröder: "Ich finde den Ort eigentlich ideal, auch mit seiner geschichtlichen Konnotation. Das heißt, dieses Engagement und dieses Aufstehen für Rechte und für die eigenen Interessen, was da um 1990 passiert ist mit den Frauen. Ist ja was, was nicht nur in Wittenberg war, sondern eigentlich an vielen Orten. Und vieles von dem ist halt wieder wie verschwunden. Wie vom Kapitalismus aufgefressen."
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Wer durch die blank polierten Straßenfluchten von Wittenbergs Altstadt streift, sieht restaurierte Häuser mit hohen Giebeln und kurierte Cranach-Höfe. Nach dem Mauerfall waren sie völlig verkommen. Ihre Räume glänzen längst wieder in ursprünglicher Bemalung mit ihren Wandfresken. Die restaurierte Stadtkirche St. Marien. Sie ist die protestantische Kirche schlechthin. Hier predigte Luther, hier steht der weltberühmte Cranach-Reformationsaltar. Ein paar Schritte weiter das Melanchthon-Haus mit seinen hohen Giebeln. Und nicht zu übersehen: Der 88 Meter hohe Turm der Schlosskirche, der mit seiner wilhelminischen Pickelhaube immer wieder unvermittelt aus den Fluchten aufragt. In den vergangenen Jahren ist viel Geld in die Sanierung der Stadt geflossen. Doch nicht jeder ist darüber erfreut.
Ein symbolisches Haus für diese Menschen steht in der Juristenstraße. Ein seltsamer Ort. Vorn betritt man die Deutsche Bank, eine Tür weiter geht's hinauf in den ersten Stock zur Suppenküche. Offiziell: Begegnungsstätte am Mittagstisch. Auf einem weißen Zettel an der Pinnwand im Flur steht, dass ein Herr auf unbefristete Zeit Hausverbot hat. Und dass ein warmes Mittagessen nur 1,60 Euro kostet und eine Tasse Kaffee 30 Cent. Es riecht nach Bohnen und warmen Kartoffeln.
Barbara Qadduri kennt hier jeden persönlich. Vor 23 Jahren hat sie die Suppenküche aus der Taufe gehoben. Da hatte sie schon einen Ehemann, zwei Kinder und studierte gerade Sozialpädagogik im Fernstudium. Seit dreizehn Jahren residieren wir nun im Herzen der Altstadt, erzählt sie mit einem unterdrückten Grinsen. Eine gehörige Portion Sarkasmus schwingt da mit.
Barbara Qadduri: "Ja mit dem ersten Bankdirektor, der war dann ein bisschen pikiert, der ist zwei Mal gekommen und hat sich beschwert, weil Krach war. Und dann habe ich gesagt, es tut mir leid, meine Klienten sind nun nicht einfach, dann ist es so. Und es hat dann Gottseidank innerhalb von vier Wochen gewechselt und mit dem neuen geht das, da ist das überhaupt kein Problem. Ich denke, die gehören auch einfach zum Stadtbild mit dazu."
Sollten die Wittenberger dies einmal vergessen, Barbara Qadduri ist sicher die erste, die sie höflich, aber resolut daran erinnert.
Barbara Qadduri: "Es war nach der Wende so, dass Leute aus ihren Wohnungen geflogen sind, dass sie nicht mehr wussten, was sie mit ihrer Arbeitslosigkeit anfangen, die haben an verschiedenen Ecken in der Stadt getrunken und ich denke, man sollte dann noch einen Anlaufpunkt schaffen, wo sie sich auch mal treffen können, wo sie auch mal reden können und das haben wir dann einfach gemacht. Wir haben es damals aus dem Boden gestampft und das hat sich über die Jahre entwickelt."
In 23 Jahren hat die Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes viel gesehen und erlebt. Sie erzählt vom Nachtasyl, vom Sozialkaufhaus, vom Suff, von Männern, die abstürzen und danach manchmal nicht wieder hochkommen. Dass sich Depression bereits vererbe, und wie nebenbei erwähnt sie dann noch die Sache mit dem Hausverbot.
"Ja, der hat mich zusammengeschlagen, der darf nicht mehr rein, der hat in allen Einrichtungen bei mir Verbot, der ist aus der Suppenküche rausgekommen und hat gesagt er braucht seinen Scheck und da habe ich gesagt, ich habe den nicht, und da ist der ausgetickt und hat mich bis hier vor auf den Feuerlöscher geprügelt. Da bin ich Gottseidank den nächsten Tag wieder hergegangen, sonst hätte ich nicht gewusst, ob ich das noch einmal schaffe."
Sie hebt die Hände wie zur Entschuldigung, der Job mache ihr einfach immer noch Spaß, sagt sie. Läuft dann zu ihren beiden Köchinnen, die sich mit dem Ein-Euro-Job etwas dazu verdienen. Anders ließe sich die Suppenküche nicht finanzieren, sagt Barbara Qadduri.
"Mahlzeit! Mahlzeit!" - Angelika Woidschytzke und Bärbel Andreas lüften den Topfdeckel.
"Na alles durcheinander, hier haben wir einen schönen Speiseplan, Kartoffeln mit Wurst oder Fleisch, zum Sonntag ist das meistens, alles schöne Sachen. Nudeln mit Spinat. Morgen gibt es Reis mit Currywurst, und zum Sonntag haben wir Gänsekeule mit Grünkohl."
Barbara Qadduri: "Habe ich mit einem Kneiper einen Deal. Na ja, wenn der zu viel eingekauft hat und dem jetzt sein Programm an Gänsen durch ist, dann kriege ich den Rest."
365 Tage im Jahr hat die Wittenberger Suppenküche geöffnet. Von 11.30 Uhr bis 13 Uhr gibt es ein warmes Gericht mit Nachschlag, erzählt Köchin Bärbel Andreas. Und wer kommt? Bärbel Andreas zuckt mit den Schultern, man bekommt das Gefühl, sie könnte es selber sein.
Bärbel Andreas: "Ganz normale Leute, die ein bisschen bedürftig sind, eben Hartz IV-Empfänger, kann man sagen, und vor allem auch Alleinstehende kommen gerne auch her, weil sie Unterhaltung hier haben. Kann eigentlich jeder hier herkommen. Auch wer es bezahlt, kann gerne herkommen, wir haben für jeden offen."

Auch in der Suppenküche wird heftig debattiert

Cutte, genannt der Angler, sitzt an einem der sieben braunen Holztische, bröselt Brotstippen in seinen Bohneneintopf. Mein Nachschlag, sagt der grauhaarige Mann mit Bart, er kommt seit fast 23 Jahren hierher. Sein Leben ist kein einfaches. Als er dreizehn ist, stirbt seine Mutter, sein Vater gibt ihn in ein Heim. In Wittenberg macht er später eine Lehre, aber er will raus aus der DDR. Sein Fluchtversuch scheitert, dafür muss er achtzehn Monate nach Bautzen. Heute muss er mit Stasischergen von damals in einem Raum sitzen und dieselbe Suppe auslöffeln, ärgert er sich. Das Essen hier ist manchmal so deftig wie die Sprache.
Cutte: "Wer behauptet, hier schmeckt es nicht, auf Deutsch gesagt, frisst der zuhause Fensterkitt aus dem Fenster? Also, hier schmeckt das immer."
Ihm gegenüber sitzt Wolfgang, 58 Jahre alt. Im Gegensatz zu seinem Tischnachbarn Cutte ging es ihm gut in der DDR. Bis die Menschen für mehr Freiheit auf der Straße demonstrierten:
"Zu DDR-Zeiten habe ich zu den Spitzenverdienern gehört. Ich war ABV, Abschnittsbevollmächtigter bei der Polizei. Und das Schlimmste war ABV und dann noch direkt an der Grenze. Und gleich nach der Wende, das waren die Ersten, die gehen mussten."
Danach hatte er immer nur für kurze Zeit einen Job. Das längste sei auf Montage in Holland gewesen. Fünf sichere Jahre. Die letzten zehn Jahre hat Wolfgang in einem Obdachlosenheim verbracht. Kein einfaches Leben, wenn auch keines auf der Straße, gibt er offen zu. Seit drei Wochen lebt der 58-jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Für ihn ein Sechser im Lotto. Solche Wohnungen gäbe es aber immer seltener in Wittenberg zu mieten, dafür schick renovierte teure Drei-Zimmerwohnungen im Altbau, murrt Wolfgang. Cutte pflichtet ihm bei:
"Es dreht sich hier in der Stadt alles nur noch um Luther. Andere Probleme … - unterm Tisch, Götzenkult. Das Geld, was man da zum Fenster rausschmeißt, das kann man nutzbringend woanders einbringen. Die Stadt war mal minimal verschuldet, jetzt haben sie 15 Millionen, für was denn, für den Götzenkult? Soll ich deutlicher werden?"
Mit dreizehn ist Cutte aus der katholischen Kirche ausgetreten. Dem Reformationsjubiläum kann der 65 Jahre alte Mann nichts abgewinnen. Und besonders christlich findet er die Vermarktung des großen Reformators auch nicht gerade.
Nippes zum Lutherjahr in einem Schaufenster
Nippes zum Lutherjahr in einem Schaufenster© Deutschlandradio / Susanne Arlt

Luther-Socke, Luther-Butterkeks und Luther als Playmobil-Figur

"Ein ganz einfaches Beispiel. Die Tomate, die war in Deutschland noch gar nicht aktuell, wo Luther gelebt hat, heute kriegt man eine Luther-Tomate zu kaufen. Da greift man sich an die Birne. Es fehlt bloß noch, dass sie anfangen, ein Lutherbier oder irgendwas..."
Das gibt es natürlich längst. So wie die Luther-Socke, den Luther-Butterkeks, den Luther-Klexx als Kräuterlikör, das Luther-Brodt, den süßen Luther-Taler, Luther als Playmobil-Figur. Selbst aus Luthers Scheiße machten sie Geld, ärgert sich der Rentner.
"Am Lutherhaus, da hat man seine Klärgrube ausgeschachtet, Gräten und so ein Zeug drin gefunden, da reitet man heute noch drauf rum. Genau das. Da reitet man heute noch drauf rum. Das wird nie ein Ende geben."
Archäologen legten vor ein paar Jahren in der Nähe des Lutherhauses in einem Gemäuer aus gelbem Backstein eine mittelalterliche Latrine frei. Sie waren überzeugt, das stille Örtchen des Reformators gefunden zu haben. In der Umgebung gruben danach Altertumsforscher 40.000 Einzelstücke aus: Scherben, Fragmente, Haushaltsteile.
Für die wirklich wichtigen Belange wie mehr Kitaplätze, zusätzliche Lehrerstellen oder besser ausgebaute Fahrradwege gebe es kein Geld, sagt Cutte. Und meint dann abschließend:
"Die Belastung kommt hinterher, vorher wird alles schön geredet. Es gibt Zuspruch, es gibt Ablehnung, das ist gemischt. Ich gehe angeln, da habe ich meine Ruhe."
***
Wer jetzt Lutherstadt Wittenberg besucht, noch vor der Eröffnung des Reformationsjubiläums Ende Mai, dem fallen die zahlreichen Baustellen auf. Bagger heben Gruben aus, Pflaster wird verlegt, Kreisel angelegt. Dabei haben die Wittenberger das Schlimmste hinter sich. Stadt- und Schlosskirche sind saniert. Das Schloss hat einen neuen Südflügel. Das Exerzierhaus von 1886 ist inzwischen Veranstaltungshalle, das Augusteum Museum, die Ruine des Franziskanerklosters Bürgerhaus. Trotzdem, die Freude auf das Jubiläum in neuem, städtischem Glanz scheint sich bei vielen Einheimischen in Grenzen zu halten. Um die Fronten aufzuweichen, ist vor mehr als einem Jahr die Geschäftsstelle des Vereins Reformationsjubiläum 2017 nach Wittenberg gezogen, ins zentral gelegene, ehemalige Melanchthon-Gymnasium. Ein großes Plakat am Eingang begrüßt den Besucher mit den Worten: Verändern wir die Welt? Oder verändert die Welt uns?
100 Festangestellte und mehr als 200 Volunteers arbeiten zurzeit in diesem Backsteingebäude, das der Architekt Franz Schwechten Ende des 19. Jahrhunderts entwarf. Auch hier hält sich hartnäckig das Gerücht, die Schule musste wegen des Jubiläums dicht machen. Christof Vetter, Pressesprecher vom Reformationsjubiläum, stammt aus dem Schwabenländle. Vielleicht bleibt er darum so milde, wenn man ihn nach diesen Geschichten fragt.
"Die pauschalen Vorurteile gibt es immer noch. Und die sind, wenn sie durch die Collegienstraße und die Schlossstraße wabern, eben da und damit müssen wir leben. Ich glaube, Menschen, die solch großen Projekte machen, wie wir es im Moment hier machen, müssen mit solchen Vorurteilen leben."

"Wir fahren jetzt mit dem Truck den ganzen Kontinent ab"

Christof Vetter, Typ Gemütsmensch, studierter Theologe, Pastor und jetzt Pressesprecher, steht in einem der zahlreichen Klassenzimmer. In dem Raum ist es trotz der hohen Wände stickig. Etwa neun seiner Kolleginnen und Kollegen sitzen vor Computern, bereiten das Reformationsevent vor. In der Mitte des Raumes steht eine Pinnwand mit einer großen Europakarte. Die Karte zeichnet die Strecken nach, die der Stationen-Truck bislang abgefahren ist. Insgesamt 19 Städte wird er besuchen. Er symbolisiere die gemeinsamen Werte Europas, die auch auf die Reformation zurückgingen, erklärt Vetter.
"Wir fahren jetzt mit dem Truck den ganzen Kontinent ab und sammeln in jeder Stadt Geschichten der Reformation ein, das müssen nicht Geschichten aus dem 16. Jahrhundert sein, das können auch Geschichten von gestern sein. Diese Geschichten bereiten wir multimedial auf, die können im Internet in einem Block angeschaut werden und dann während der ganzen Weltausstellung im Truck, der dann am Bahnhof hier in Wittenberg steht."
Christof Vetter trägt eine rote Kapuzenjacke, auf der das Reformationssymbol prangt. Ein viergeteiltes Kreuz, dessen rechter Balken einen sanften Bogen schlägt und den Buchstaben "r" für Reformation symbolisieren soll.

Christof Vetter: "Ich trag fast jeden Tag rot, ich hab' mehrere, es gibt auch eine Jacke und es gibt Polo-Shirts, und ich versuche eigentlich immer, erkennbar zu sein als einer vom Reformations-Jubiläum."
Eine Art Rüstzeug im Land der Ungläubigen? Christof Vetter lacht, schüttelt den Kopf. Dabei war die Ankunft im vergangenen Jahr kein Zuckerschlecken.
"Es gibt alles, was man sich an Extremen vorstellen kann. Es gibt hier faszinierende Menschen, die gesagt haben, es ist Reformationsjubiläum, wir haben uns da lange drauf vorbereitet. Und wir machen ein Riesenengagement. Es gibt Menschen, die sagen, es gehört zu uns. Und es gibt Menschen, die sagen, warum wir? Uns hat keiner vorher gefragt, ob dieses Jubiläum in Wittenberg gefeiert werden soll."
Ein Wechselbad des Willkommens. Doch wo sonst sollte solch ein Jubiläum stattfinden? Es gibt Mitarbeiter, die sind mit Sack und Pack nach Wittenberg gezogen, erzählt Vetter. Er nicht. Er wollte seine Zweitwohnung in Berlin nicht aufgeben und pendelt darum. Den Kirchenvertretern musste klar sein, dass ihr gigantisches Vorhaben in dieser überwiegend gottlosen Region auf Argwohn und Widerstand stoßen würde. Vetter wiegelt ab.
"Ich erlebe die Menschen hier nicht als abwehrend gegenüber der Kirche, sondern eigentlich als desinteressiert. Sie haben gar kein Verhältnis mehr zur Kirche. Kirche spielt in der Bürgergesellschaft nicht die Rolle, die sie in vielen Städten in Westdeutschland noch spielt."
Trotzdem - ein Kraftakt besonderer Art. Hat er sich gelohnt? Christof Vetter denkt kurz nach und sagt dann:
"Luther hat diese Stadt geprägt. Luther hat diese Stadt bekannt gemacht, Luther hat diese Stadt mit groß gemacht zusammen mit den anderen, die mit ihm da waren. Und er wird jetzt als historisches Monument wahrgenommen. Und die Stätten, in denen Luther gewirkt hat, Stadtkirche, Schlosskirche, Lutherhaus, Augusteum, die wurden zum Jubiläum wunderschön wiederhergestellt und restauriert. Aber das ist eine Investition in Geschichte, in Vergangenheit. Dass Luther einer war, der sich gar nicht so sehr um die Vergangenheit geschert hat, sondern mehr darum bemüht hat, wie sieht unsere Zukunft aus, das ist glaube ich eine Aufgabe, die wir als Veranstalter hier wahrzunehmen haben."