"Reform ist bereits wieder pflegebedürftig"

Moderation: Birgit Kolkmann |
Nach Ansicht des Sozialpädagogen Claus Fussek bringt die heute in Kraft tretende Pflegereform keine Verbesserung für die Patienten. Fussek plädierte für einen Systemwechsel und forderte die Abschaffung der Pflegestufen und Pflegeminuten.
Birgit Kolkmann: Heute tritt die erste Reform der Pflegeversicherung in Kraft. Verbesserungen gibt es, aber schon in sieben Jahren soll wieder Geld fehlen in der Kasse. Ist die Pflegeversicherung eine Dauerbaustelle? Claus Fussek kritisiert seit vielen Jahren die Zustände in deutschen Pflegeheimen und hat mehr als 40.000 Fälle gesammelt, in denen alte Menschen nicht menschenwürdig an ihr Lebensende begleitet werden. Sein neuestes Buch heißt "Im Netz der Pflegemafia – Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden". Guten Morgen in der "Ortszeit", Claus Fussek!

Claus Fussek: Guten Morgen!

Kolkmann: Herr Fussek, setzt die Pflegereform denn nun einen Meilenstein für bessere Pflege in Deutschland?

Fussek: Nein, Ihr Kollege hat das ja gerade benannt. Und ich glaube, es gibt niemanden, der vor allem vor Ort tätig ist, der hier von einem Meilenstein sprechen kann. Ich meine, diese Reform ist bereits wieder pflegebedürftig. Aber das bestreitet eigentlich auch niemand.

Kolkmann: Das Sternesystem, das es sozusagen jetzt für Pflegeheime gibt wie bei Hotels, dass transparenter wird, was gut gemacht und was nicht, ist das nicht eine positive Entwicklung?

Fussek: Wissen Sie, vor zehn Jahren hätte ich gesagt, das ist eine positive Entwicklung. Diese Situation ist so, als würden Sie versuchen, mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen. Die Situation ist dramatisch. Jeder, der es wissen will, kann sich überzeugen. Niemand ist rangegangen an einen Systemwandel. Wir stehen nach wie vor vor dem Problem, dass zum Beispiel schlechte Pflege belohnt wird. Wir haben nach wie vor eine völlig absurde Minutenpflege, wobei was ich nicht begreife, ist eine Gesellschaft, die leidenschaftlicher über Nichtraucherschutz und Dosenpfand diskutiert als über ihre eigene Zukunft. Und wir reden über unsere eigene Zukunft, über die unserer Eltern und Großeltern. Das kann ich eigentlich nicht begreifen, dass zum Beispiel ein Bundespräsident Köhler eine Ruckrede nach der anderen hält, aber nie zum Beispiel zum Thema Pflege etwas sagt. Wir scheinen hier kollektiv das Problem zu verdrängen.

Kolkmann: Was ist denn Ihrer Meinung nach versäumt worden bei dieser Reform? Was hätte unbedingt hineingehört?

Fussek: Was wir machen müssen, wären die Abschaffung der Pflegestufen und diese Pflegeminuten. Es gibt keinen Menschen in Deutschland, der nach Minuten gepflegt werden möchte. Ich kenne keine einzige Pflegekraft, die nach Minuten pflegen möchte. Man hätte hier Prävention, Rehabilitation, was ja schon längst im Gesetz steht, stärken müssen. Man hätte die Situation Pflegekrankenkasse und Pflegeversicherung zusammentun müssen. Es ist nach wie vor so, dass Sie in einem Pflegeheim mehr Geld bekommen, wenn Sie schlecht pflegen, wenn Sie die Menschen, sagt man mal so flapsig, in die Betten pflegen, dann gibt es mehr Geld. Man hat das Thema ein bisschen angepackt, es gibt eine kleine Belohnung. Aber an das System ist niemand rangegangen. Wir hätten nach wie vor ambulant vor stationär mehr stärken müssen. Das, was die Angehörigen bekommen, und ich erlebe diese Angehörigen jeden Tag, die sind in den dramatischen Situationen überlastet. Ja, wir hätten dieses System auf den Kopf stellen müssen und hätten es zur Schicksalsfrage der Nation erklären müssen.

Kolkmann: Das System auf den Kopf stellen müssen, was hätte da als Wesentlichstes gemacht werden müssen? Immerhin werden ja jetzt die Demenzkranken und dazu werden immer größere Teile der Gesellschaft gehören, wir vielleicht auch im Alter, wir werden älter, aber auch kränker in dieser Hinsicht. Das ist doch ein Fortschritt, oder?

Fussek: Ja, wissen Sie, wir sprechen bei so einem Gesetz immer besser als gar nichts. Meinen Sie, dass der Bundesverteidigungsminister in Afghanistan, ich nehme jetzt einfach mal so ein Beispiel, mit so kleinen Reförmchen einverstanden gewesen wäre, oder die Bauern oder wer auch immer? Nein, dieses kann man tatsächlich nur mit einer Gruppe machen, die in dieser Gesellschaft nach wie vor keine Lobby hat. Und was mich besonders bedrückt, ist, dass sich wirklich niemand schämt, das als Erfolg zu feiern. Man hätte doch sagen können, liebe Gesellschaft, für unsere Alten haben wir nicht so viel Geld. Mehr war nicht drin. Dann wäre man da. Aber das als Reform zu bezeichnen, als großen Meilenstein, das ist schon peinlich. Ich muss auch sagen, ich habe diese ganze Diskussion als peinlich empfunden, weil letztendlich, Sie haben ja im Vorspann auch gesagt, nach einer langen, zähen Diskussion. Diese Diskussion ist ja würdelos. Der Tenor ist, können wir uns die Alten, die Pflegebedürftigen überhaupt noch leisten. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, so eine Diskussion in dieser Form, so leidenschaftslos zu führen, das ist kein gutes Spiegelbild auf diese Gesellschaft.

Kolkmann: Norbert Blüm, der ja die Pflegeversicherung noch aus der Taufe gehoben hatte, hat jetzt anlässlich dieser Reform nun gesagt, die Themen Alter und Pflege sollten nicht nur auf die Kosten reduziert werden, und er wirbt für eine neue Kultur der Generationen. Wenn es auf dem Gebiet der Altenpflegeheime so dramatisch aussieht, wie Sie sagen, entsteht da eigentlich längst unabhängig davon etwas auf privatem Sektor?

Fussek: Das ist natürlich parallel notwendig. Ich sage immer, wenn meine Mutter in einem Heim schlecht versorgt wird, kann ich nicht Ulla Schmidt dafür verantwortlich machen. Das ist natürlich das parallel, was mich natürlich wahnsinnig macht. Das ist ja nicht, ich sage, dass es Missstände gibt, sondern jeder, der es wissen will, kann sich doch davon überzeugen. Ich sage immer, die Pflegeheime sind vor unserer Haustüre. Jeder weiß es doch. Jeder kennt die Situation. Ich kenne keine Pflegekraft, die nicht ein schlechtes Heim kennt. Sondern wir müssen hinschauen, und das ist tatsächlich, da bin ich mir mit Norbert Blüm einig. Was mich entsetzt, ist, dass da so viele wegschauen. Das sehen Pflegekräfte, es sehen Angehörige, es sehen Betreuer, es sehen die Seelsorger, es sehen die Apotheker, wenn Sie so wollen, jede Altenpflegeschule weiß Bescheid, kennt die Heime. Es schweigen die Rettungssanitäter. Nein, das Problem, Sie haben unser Buch da angesprochen, ich glaube, dass Dramatisch ist, dass wir in diesem System an den Folgen schlechter Pflege Milliarden verdienen. Zum Beispiel Thema Rehabilitation, ich habe das vorher angesprochen. Man muss sich das einfach vorstellen, dass es nach wie vor nicht möglich ist, Sturzprophylaxe zu bezahlen, dass es nach wie vor nicht möglich ist, einen Arzt in einem Heim zu beschäftigen. Nach wie vor fahren wir die Menschen in Krankenhäuser, obwohl wir wissen, dass es menschenunwürdig ist, aber nebenbei auch noch teuer ist. Ich kann es nicht begreifen. Und vor allem, und das ist erschütternd, es geht ja anders. Wir haben gut geführte Häuser. Aber wir brauchen ein Anreizsystem. Es muss möglich sein, dass gute Pflege belohnt wird, dass eine Pflegekraft, die es zum Beispiel schafft, dank guter Pflege mit Krankengymnastik, mit Ergotherapie, dass ein alter Mensch wieder selbstständiger wird, dass ein alter Mensch wieder anfängt, selber zu essen, dass das belohnt wird. Noch wird eine Pflegekraft bestraft, wenn sie gut pflegt oder das Heim, weil es weniger Einnahmen nimmt.

Kolkmann: Vielen Dank! Das war Claus Fussek, ein sehr bekannter Kritiker und Buchautor, kenntnisreich auf dem Gebiet der Pflege zur Reform der Pflegeversicherung, die heute in Kraft tritt.

Das gesamte Gespräch können Sie bis zum 1. Dezember in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio