Referendum in Schottland

England wird immer noch als "Kolonialmacht" wahrgenommen

Die Fahnen Schottlands, Englands, des Vereinigten Königreichs und der EU an einem Gebäude in Edinburgh.
Ob morgen alle noch da hängen? Die Fahnen Schottlands, Englands, des Vereinigten Königreichs und der EU an einem Gebäude in Edinburgh © afp / Lesley Martin
Moderation: Korbinian Frenzel · 18.09.2014
Die Diskussion für und wider die schottische Unabhängigkeit drehte sich in den letzten Wochen vor allem um politische und ökonomische Fragen. Für die Entscheidung vieler Menschen spielen dem Theaterwissenschaftler Anselm Heinrich zufolge allerdings kulturelle und historische Gründe eine große Rolle.
Korbinian Frenzel: Heute ist es endlich soweit: Die Schotten stimmen ab über ihre Unabhängigkeit von Großbritannien. Bis zuletzt hatten beide Seiten versucht, die 4,2 Millionen Wahlberechtigten in diesem knappen Rennen zu überzeugen. Bei dem Mann, mit dem ich jetzt spreche, kam all das zu spät, er hat schon per Briefwahl abgestimmt – für den Verbleib im Königreich, gegen die Unabhängigkeit. In Glasgow ist Anselm Heinrich, Theaterwissenschaftler an der dortigen Universität. Guten Morgen!
Anselm Heinrich: Guten Morgen!
Frenzel: Wie man unschwer hört, Sie sind Deutscher, Sie dürfen abstimmen, das muss man dazusagen, wie alle EU-Bürger, die in Schottland leben. Herr Heinrich, und dann sagen Sie Nein zu diesem großen schottischen Traum – trauen Sie es den Menschen nicht zu in Ihrer Wahlheimat, die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen?
Heinrich: Nicht so ganz. Ich bin von den Argumenten der "Yes"-Campaign, also die Leute, die für die Unabhängigkeit sind, nicht komplett überzeugt gewesen, und zwar vor allem im Bereich auf politische Fragestellungen, aber auch ökonomische Fragestellungen. Da sind mir nicht die Antworten geliefert worden, die ich mir eigentlich gewünscht hätte. Und das ist es nämlich auch: Ich hätte es mir gewünscht, dass sie mich überzeugen, aber sie haben es leider nicht getan.
Das Herz sagt "Yes", aber der Kopf "No"
Eine Person hält mehrere Papierflaggen in der Hand. Sowohl welche mit Schottlands Wappen als auch dem Union Jack.
Sein oder nicht sein? Im Fall Schottland geht es um die Frage des Unabhängig-Seins.© afp / Ben Stansall
Frenzel: Sie hätten es sich gewünscht, das heißt, es war nicht so, dass Sie gleich gesagt haben, was für eine unsinnige Idee, sondern Sie haben schon einen Moment geliebäugelt?
Heinrich: Ja, total. Man ist ja immer ein romantischer Mensch – also ich bin es zumindest. Ich hätte mir auch gewünscht eben, dass die Argumente dann auch stimmen, also nicht nur das Herz dafür stimmt, sondern eben auch der Kopf, aber der Kopf hat mir leider dann doch fast befohlen zu sagen, halt mal, das überzeugt dich nicht.
Frenzel: Ich versuch's noch mal mit zwei Argumenten, auch wenn's bei Ihnen jetzt schon verlorene Liebesmüh ist, Sie haben ja schon abgestimmt, aber wir haben ja alle unsere liebe Not mit London, also ich sag jetzt mal alle Europäer, alle Europäer, die möchten, dass es mit Europa vorangeht, weil London ja gerne mal blockiert. Wär's nicht eigentlich eine schöne Sache, wenn wir auf den Inseln neben Irland noch einen zweiten Bundesgenossen hätten, der eben europafreundlicher gesonnen wäre?
Heinrich: Ja, das stimmt, von der Idee her kann ich das auch nachvollziehen. Die Frage ist natürlich, oder für mich ist die Situation, wenn es jetzt tatsächlich zur Abstimmung kommt in England oder in Großbritannien zum EU-Verbleib, ja oder nein, dann würde bei einer Unabhängigkeit Schottlands dieses starke Stimmenpotenzial in Schottland für den Verbleib in der EU verloren gehen. Und das ist für mich auch ein Argument zu sagen, ich bin auf jeden Fall für den Verbleib Schottlands in Großbritannien, weil dann diese Stimmen nach wie vor zur Verfügung stehen.
Frenzel: Ich sehe, Sie denken strategisch schon einige Jahre weiter als viele andere.
Heinrich: Ein bisschen, ja.
Zugeständnisse aus Westminster: zu spät
Frenzel: Ein zweiter Versuch, und dann lass ich's auch damit, aber die Schotten gelten ja insgesamt als progressiv, als, ja, man kann fast schon sagen links, die Tories hatten da immer einen schweren Stand. Und wenn ich jetzt auf Ihren Bereich gucke, die Universitäten die Theaterwissenschaften, die müssten doch eigentlich auch sagen, ja, das würde uns viel besser gefallen als das, was da aus London kommt, oder?
Heinrich: Also bei meinen Kollegen sehe ich das ganz klar so, auch im Theaterbereich: Freunde und Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, da würde ich sagen, sind 80 Prozent für die Unabhängigkeit, wenn nicht sogar noch mehr. Ich fühle mich fast so ein bisschen nicht als Außenseiter, aber doch als jemand, der sich ein bisschen erklären muss. Also, da ist schon das Gefühl ganz klar da, wir wollen diesen Versuch starten, wir wollen ins Ungewisse springen, wir schaffen das als Schottland, eben auch, weil wir viel sozialdemokratischer, sozialer eingestellt sind als der Rest von Großbritannien. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, die Tories kriegen hier seit Jahrzehnten keinen Fuß an den Boden und haben sich auch in dieser Kampagne selten dämlich angestellt.
Frenzel: Hätten die Engländer, also hätten vielleicht nicht nur die Tories, sondern insgesamt das Land auch vor der Regierungsphase von David Cameron anders reagieren müssen? Hätten sie Schottland schon viel länger stärker föderal Zugeständnisse machen müssen?
Heinrich: Ich glaube ja. Das hat ja angefangen mit Tony Blair 1999 mit Devolution, und das kam eigentlich schon viel zu spät, man hätte viel eher erkennen müssen, dass die einzelnen Landesteile Großbritanniens nach größerer Unabhängigkeit streben und dass das eigentlich nur eine gute Sache sein kann für Großbritannien. Und jetzt eben zu erkennen, auch zum Beispiel im Wahlkampf, dass jetzt die englischen Politiker aus Westminster alle nach Schottland kommen, um für den Verbleib in der Union zu werben, das ist natürlich alles viel zu spät gekommen.
Schauspieler stellen die Schlacht von Bannockburn nach.
Der historische Hintergrund spielt eine "große Rolle": Schauspieler stellen die Schlacht von Bannockburn nach.© Andy Buchanan / AFP
Frenzel: Es ist aber natürlich schon interessant, dass über 300 Jahre Union mit England, der ja sehr zentralistische Staat bis zu diesen Reformen, die Sie erwähnt haben, von Tony Blair, dass all das nicht dazu geführt hat, dieses starke schottische Nationalgefühl in irgendeiner Form einzudämmen, eher im Gegenteil. Wie kann das sein?
Heinrich: Das ist ein ganz interessanter Punkt, denn ich glaube tatsächlich, dass dieser kulturelle, historische Hintergrund hier eine große Rolle spielt. England ist hier seit Jahrzehnten, fast seit Jahrhunderten eigentlich eher als Kolonialmacht aufgetreten – da gab es die Highland Clearances im 18., 19. Jahrhundert, wo eben dann die Bevölkerung, die Landbevölkerung in den Highlands brutal von den englischen Adligen vertrieben wurde –, und solche Dinge sind im Gedächtnis geblieben.
Auch diese Anti-Union-Politik, also die gegen die Gewerkschaften von Maggie Thatcher, die hier brutal eingegriffen hat in die Industrielandschaft, in Glasgow ganz speziell, solche Dinge werden hier nicht vergessen und immer empfunden als ein Eingreifen von woanders, von der ehemaligen Kolonialmacht.
Für gelebte Demokratie hat die Debatte "Immenses" bewirkt
Frenzel: Wenn Sie auch nicht für die Unabhängigkeit sind, hat denn diese Debatte etwas Gutes für das Land?
Heinrich: Nur was Gutes, die Debatte ist fantastisch. Die Qualität der Auseinandersetzung, die Begeisterung auf den Straßen, die ständigen Diskussionen – man trifft also im Augenblick niemanden, der nicht darüber reden würde, und immer mit einer Fairness und einer Qualität und einer Intelligenz und auch Kreativität, die ich so oft in Deutschland eigentlich vermisst habe bei vergleichbar – gut, Vergleichbares gab's wohl in Deutschland nicht unbedingt, aber eben in Wahlkampfkampagnen vermisse ich oft so diese Tiefe, und die ist hier absolut vorhanden. Also für ein Demokratieverständnis, für gelebte Demokratie hat das hier Immenses bewirkt.
Frenzel: Wenn Sie Fairness sagen, dann kann ich da fast schon so ein bisschen Hoffnung für den heutigen Abend oder vielmehr den morgigen Morgen sehen, wenn das Ergebnis vorliegt. Wir wissen nicht, wie es ausgeht, wir wissen, es wird knapp werden, aber wenn ich Sie richtig verstehe, werden wir also keine Maidan-Verhältnisse haben, die Leute werden das dann schon akzeptieren, die jeweils unterlegene Seite?
Heinrich: Das hoffe ich sehr, und ich bin eigentlich auch optimistisch, dass das passieren wird. Und im Augenblick gibt es auch einen Appell von beiden Seiten eben an die Fairness der anderen Hälfte, denn eine Hälfte wird enttäuscht sein, und ich könnte mir auch vorstellen, dass das ganz gut funktionieren wird, also das ist meine tiefe Überzeugung.
Frenzel: Wo werden Sie heute Abend sein?
Heinrich: Ich werde heute Abend vermutlich im Theater sein. In den Arches hier in Glasgow gibt es eine Veranstaltung, eine lange Wahlnacht, und solange meine Kinder mich lassen und meine Frau aufpasst, oder wir teilen es vielleicht auch, vielleicht geht auch sie los, wollen wir das live miterleben, wie das heute Abend ausgeht.
Frenzel: Der Theaterwissenschaftler Anselm Heinrich von der Universität Glasgow. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Heinrich: Danke, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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