Referendum in Chile

Volk entscheidet über neue Verfassung

16:20 Minuten
Deitailaufnahem eines brennenden Exemplars der chilenische Verfassung, während des Protestes zum 47. Jahrestag des letzten Militärputsches.
Die aktuelle Verfassung flambiert: Die Chilenen protestieren am 11. September, dem 47. Jahrestag des letzten Staatsstreichs. © Getty Images / Nur Photo / Felipe Vargas Figueroa
Von Anne Herrberg · 21.10.2020
Audio herunterladen
Am 25. Oktober stimmen die Chilenen darüber ab, ob sie eine neue Verfassung wollen. Die alte stammt aus der Zeit von Diktator Pinochet und schreibt die soziale Ungleichheit fest, gegen die im Land seit einem Jahr demonstriert wird.
Eine alte Emma rollt durch Chiles Hauptstadt. Eine wuchtige, altmodische Lokomotive mit hölzernem Anhänger, allerdings auf Räder montiert. Kuppelstangen und Kolben sind Attrappen. Dafür ist ein ganzes Spielzeugmuseum mit an Bord: ein Pikachu-Pokemón, Spiderman, ein Dinosaurier, ein schwarzer Hund mit Halstuch.

"Für ein neues Chile!"

Musik wummert aus den Boxen, eine Frauenstimme ruft durchs Megafon.
"Ich stimme dafür! Für eine Verfassungskonvention! Für ein neues Chile! Weg mit der Verfassung des Diktators Pinochet! Für eine neue Verfassung des Volkes!"
Was in diesem Video aussieht wie Karneval, ist Kampagne. Für das Ja im Plebiszit am 25. Oktober. Da entscheidet sich, ob Chile eine neue Verfassung bekommt. Sie ist eine der Hauptforderungen der Massenproteste, die im Oktober 2019 begonnen haben, Chile monatelang im Griff hatten, bis Corona kam. Doch jetzt, nach mehr als sechs Monaten Ausgehbeschränkungen, wird die Straße zurückerobert, mit Mundschutz, versteht sich.
Als Dinosaurier und Pikachu verkleidete Demonstranten nehmen an einem regierungsfeindlichen Protest auf der Plaza de la Dignidad teil.
In Santiago de Chile kämpfen seit Oktober wieder Aktivisten gegen die Regierung.© Getty Images / Anadolu Agency / Cristobal Vogel
"Wir sind alle Demonstranten, wir alle kennen uns von den Protesten, von der Revolution auf der Plaza Dignidad. Pikachu, Spiderman, die sind damals mit ihren Verkleidungen zu Ikonen der Proteste geworden. Da war eine Energie, wir merkten, dass wir etwas bewegen können. Dann kam die Coronapandemie."

Die Wut über soziale Ungerechtigkeit treibt die Menschen an

Alias Chancho de Guerra spricht mit mir per Instagram-Call. Er ist einer der Organisatoren, Klan Kiltro nennen sie sich, Clan der Straßenköter – das Kollektiv entstand als Antwort auf den Coronastillstand.
"Es war, als hätte man uns die Flügel gekürzt, aber dann begannen wir gemeinsam, uns sozial zu engagieren. Die Pandemie hat umso deutlicher gemacht, was die Menschen auf die Straße getrieben hat: Die Wut über die soziale Ungerechtigkeit in Chile, darüber, dass wir seit Jahren in einer Lüge leben."

Chile im Oktober 2019. Die Erhöhung der U-Bahnpreise führt zu massiven Protesten und Ausschreitungen. U-Bahn-Stationen brennen, die Polizei geht mit voller Härte vor. Präsident Sebastian Piñera spricht von Krieg, verhängt den Ausnahmezustand und schickt, erstmals seit Diktaturende vor 30 Jahren, das Militär auf die Straßen. Doch die Wut wird immer größer. Das Land, das gerade noch als "Oase der Stabilität" in Lateinamerika galt, wird von einer Protestwelle überrollt, wie sie Chile noch nie erlebt hat.

"Wir haben unsere Eliten satt"

"Chile despertó", Chile ist aufgewacht, rufen die Demonstranten.
"Wir sind auf der Straße, um ein würdiges Leben zu fordern. Ein soziales Gesundheitssystem, gerechte Renten, Bildung mit Qualität, wir haben unsere Eliten satt, die nichts anderes suchen, als Profit zu machen, und zwar auf unserem Rücken!"
Längst wird die Systemfrage gestellt. Im Zentrum der Kritik: Chiles Verfassung. Die aktuelle Carta Magna stammt aus dem Jahr 1980, damals herrschte noch Diktator Augusto Pinochet, der foltern und morden ließ. Und Chile, mithilfe seiner in den USA ausgebildeten Wirtschaftsweisen, den sogenannten "Chicago Boys", zum Versuchslabor eines radikalen Neoliberalismus machte.


"Ich bin so alt, dass ich vor 40 Jahren über diese Verfassung abstimmen musste, es war eine Farce. Entworfen wurde sie von Pinochets Chefideologen Jaime Guzman, ausgehandelt wurde sie zwischen vier Wänden und von Bürgerpartizipation und freien Wahlen konnte keine Rede sein, wir waren ja noch mitten in der Diktatur", sagt Politikwissenschaftler Gonzalo Bacigalupe im Interview per Whatsapp.
"Schon wie die Verfassung zustande kam, ist symbolisch. Es gab seitdem zwar eine Reihe von Reformen, die Rolle der Parteien wurde aufgewertet, die Sicherheitskräfte verloren an Einfluss. Doch am Kern hat sich nichts verändert. Nämlich, dass der Staat das Privateigentum sichert, aber kaum soziale Rechte.

Hören Sie zum Thema auch den Beitrag von Viktor Coco in "Tonart". Er beschreibt, wie die chilenische Musikszene sich in die Protestmärsche einreiht.
Audio Player

In der Praxis heißt das: Zentrale öffentliche Aufgaben, wie Bildung, Gesundheit oder Renten sind in Chile privatisiert. Selbst die Wasserversorgung! Um dieses Modell zu ändern, braucht es Mehrheiten, die nie zustande kommen, weil sie von Sperrminoritäten blockiert werden können. Das garantiert den immer gleichen Eliten die Einflussmacht. Und damit zementiert die Verfassung auch bestimmte Ideologien der Diktatur."

Helm, Schutzbrille, Gasmaske

Ein Beispiel: die Rolle der Sicherheitskräfte. Immer wieder wurde eine Polizeireform gefordert, in der Praxis hat sich bisher wenig geändert. In Chile wird das Recht auf Demonstrationsfreiheit nicht respektiert, sagt Ursula Eggers. Als Menschenrechtsbeobachterin hat sie die Massenproteste ab Oktober 2019 begleitet, immer dabei: Helm, Schutzbrille und Gasmaske. Polizei und Militär waren mit Wasserwerfen und Panzerwagen im Einsatz, der beißende Geruch von Tränengas lag wie ein Filter über der Stadt.
Eine Gruppe von chilenische Bereitschaftspolizisten schießen Tränengas auf Demonstranten.
Chilenische Bereitschaftspolizisten schießen am 9. Oktober 2020 in Santiago, Chile, Tränengas auf Demonstranten.© Getty Images / Marcelo Hernandez
"Santiago und speziell das Zentrum haben sich in eine Art Kriegsterritorium verwandelt, dazu kam die Verwüstung, die Zerstörung, die niemand will, aber die es gab. Aber das kann nicht als Rechtfertigung für die überzogene massive Repression durch die Sicherheitskräfte dienen, die eigentlich Garanten der Menschenrechte sein müssten."
Mehr als 30 Tote, Tausende Verletzte, darunter 460 an den Augen – durch Tränengaspatronen und Gummigeschosse, die laut einer Untersuchung der Universidad de Chile zu 80 Prozent mit Metall versetzt waren. Menschenrechtsbeobachter, darunter die UN-Kommission sprechen von massiven Menschenrechtsverletzungen.

"Chile ist eine sehr ungleiche Gesellschaft"

Der Druck auf Chiles Regierung nimmt zu. Zunehmend auch aus der Privatwirtschaft, dem Stammklientel Piñeras, wie Textilunternehmer Gonzalo Heresi.
"Der soziale Aufstand war ein harter Schlag, weil die Geschäfte um mehr als 70 Prozent eingebrochen sind. Ich lehne die Gewalt ab, aber ich verstehe, dass sich was ändern muss. Chile ist eine sehr ungleiche Gesellschaft, manche leben in Haiti, Leute wie ich in Luxemburg. Was mich aber besorgt: Es gibt eine Gruppe junger, linker Politiker, die ihre Ideen sehr vehement durchsetzen will. Ich sorge mich nur um bestimmte Garantien, zum Beispiel um das Recht auf Privateigentum."
Demonstrierende Menschenmenge auf der Plaza de la Dignidad in Santiago De Chile.
Proteste in Santiago de Chile gegen die Regierung von Sebastián Piñera.© Getty Images / Nur Photo / Gonzalo Murillo Iturbe
Am 15. November 2019 beschließen Regierungs- und Oppositionsparteien: Chile soll abstimmen dürfen, ob es eine neue Verfassung gibt. Der Volksentscheid ist für den 24. April 2020 geplant. Doch dann kommt Corona. Am 18. März wird der Ausnahmezustand verhängt, erneut patrouillieren die Militärs auf den Straßen. Und Präsident Piñera lässt sich in Siegerpose auf einer menschenleeren Plaza Dignidad ablichten, dem einstigen Epizentrum der Proteste. Es scheint – zumindest zunächst – als sei das Coronavirus seiner ratlosen Regierung zur Hilfe geeilt.

Demonstranten ausgebremst durch Corona

Eyleen Valenzuela erlebt die Pandemie in vorderster Linie, als Krankenschwester in einem öffentlichen Krankenhaus: Schutzkleidung, Masken, Desinfektionsmittel sind knapp – genauso wie ihr Lohn, dazu jeden Tag Überstunden. Ich kann per Video zuschauen, wie die energische Frau mit langen braunen Haaren und Mundschutz trotzdem noch in einer "Olla Popular" mithilft, einer solidarischen Suppenküche, die 700 Nachbarn versorgt. Corona wirkt wie ein Vergrößerungsglas des Zwei-Klassen-Systems, sagt Eyleen Valenzuela
"Das Virus hat nicht nur Krankheit gebracht, sondern auch Arbeitslosigkeit, Hunger, es hat unsere Schuldenberge wachsen lassen. Mein Mann hat seine Arbeit verloren, wir mussten uns entscheiden: Essen oder Rechnungen bezahlen? Die Regierung hat wieder nur die Unternehmen geschützt, nicht die Arbeiter."

82 Prozent sind für eine neue Verfassung

Auch wenn die Regierung im Juli schließlich ein milliardenschweres Hilfspaket ankündigt, sitzt das Misstrauen tief. 82 Prozent sind laut aktuellen Umfragen für eine neue Verfassung. Bezeichnend auch, dass die wenigen Gegendemonstrationen hauptsächlich in den Oberschichtsvierteln stattfinden, wie hier in Las Condes: Nationalflaggen werden geschwungen, auf Plakaten steht "Gegen eine zweite Unidad Popular", so hieß in den 1970er-Jahren die linke Regierungskoalition des später von Pinochet geputschten Sozialisten Allende. Die Polizei eskortiert, eine Dame mit Mundschutz in Nationalfarben erklärt vor den TV-Kameras:
"Ich bin für das Nein, weil ich immer in einem freien Land gelebt habe, aber seit dem 18.Oktober 2019 ist dieses Land nicht mehr mein Land, es gibt keinen Respekt mehr. Nicht gegenüber der Autorität, nicht gegenüber den Gesetzen, niemand wird mehr respektiert."

Auch Chiles Rechte ist gespalten

Doch auch Chiles Rechte ist gespalten: Der liberalere Teil, zu dem der Abgeordnete Diego Schalper von Pineras Partei gehört, setzen auf einen moderateren Diskurs.

"Natürlich haben auch wir Kritik an der jetzigen Verfassung, aber das heißt für uns nicht, dass wir von null neu anfangen, mit einem weißen Blatt. Deswegen lehnen wir eine neue Verfassung ab, aber mit dem Vorschlag, Reformen vorzunehmen, statt mindestens zwei Jahre über eine neue Verfassung zu diskutieren, die die wahren Probleme der Menschen nicht lösen wird."
Ein Schild mit der Karikatur von Sebastian Piñera und dem Diktator Pinochet, während der Demonstration gegen die chilenische Regierung in Barcelona, Spanien.
Ein Schild mit der Karikatur von Sebastian Piñera und dem Diktator Pinochet, während der Demonstration gegen die chilenische Regierung in Spanien.© Getty Images/Light Rocket/Paco Freire
Sie wissen, eine neue Verfassung wird kaum zu verhindern sein – entscheidend ist, wie sie ausgearbeitet wird: Durch ein gemischtes Verfassungskonvent, also die Parteien, oder eine gewählte verfassungsgebende Versammlung, die den traditionellen Eliten weit weniger Einfluss ermöglichen würde.

Ein Vorfall mit Folgen

Doch dann kommt der 2. Oktober: Im Zentrum von Santiago wird wieder demonstriert, es sind noch wenige, etwa 200, die Polizei rückt trotzdem vor, treibt sie vor sich her über eine Brücke. Dann passiert es: Ein junger Mann, 16 Jahre alt, stürzt über das Geländer sieben Meter tief in den Mapocho, damals mehr Rinnsal als Fluss.

Ursula Eggers ist damals nur wenige Meter entfernt. Sie filmt Augenzeugenberichte, die bezeugen, was später auch auf Videos zu sehen ist: Er fiel nicht, er wurde gestoßen, von einem Polizisten. Der junge Mann überlebt. Der 22-jährige Polizist wurde angeklagt: wegen versuchten Mordes und unterlassener Hilfeleistung. Präsident Piñera spricht erneut von individuellen Regelverstößen.
"Wir verurteilen jeden Angriff auf die Menschenrechte klar und kategorisch und lehnen auch jede Abweichung von den Protokollen und Regeln ab, die das Handeln unserer Ordnungs- und Sicherheitskräfte regeln sollen."

"Es geht um das Wiederherstellen von Würde"

Mit dem Vorfall ist die Corona-Protest-Pause endgültig vorbei. Pacos Asesinos, Polizistenmörder, rufen die Demonstranten, erstmals seit sechs Monaten haben sie erneut die Plaza Dignidad im Zentrum Santiagos besetzt. Auch Ursula Eggers ist wieder dabei. Sie schickt mir ein Video:
"Beim Ja zur neuen Verfassung geht es um mehr als eine politische Entscheidung, es geht auch um das Wiederherstellen von Würde, dem Anerkennen von Bürger – und Menschenrechten, um die Basis unserer Demokratie."
Es wäre ein erster Etappensieg im Ringen um einen strukturellen Wandel in Chile.
Mehr zum Thema