Reden über das deutsche Wesen

06.07.2011
Lässt sich nationales Selbstverständnis in Bilder fassen? Mit dieser Frage beschäftigten sich vor einiger Zeit eine Ausstellung und eine prominent besetzte Vortragsreihe in Berlin. Die Beiträge lassen sich nun in diesem Sammelband nachlesen.
Thomas Demand ist ein ungewöhnlicher Künstler. Der Berliner, Jahrgang 1964, baut aus Papier maßstabsgetreu Räume oder historische Szenen nach, fotografiert diese und zerstört danach das Modell. Die Abstraktionswirkung, die er mit seinen menschenleeren Aufnahmen erzielt, verdichtet seine Tableaus zu allgemeingültigen Symbolen, zur Essenz einer Situation.

Eine Methode, wie geschaffen für ein Projekt von Udo Kittelmann. Lässt sich nationales Selbstverständnis in Bilder fassen?, hatte der Direktor der Berliner Nationalgalerie gefragt. Und in Demand einen kongenialen Partner gefunden. Dessen Bild "Drei Garagen" mit geriffelten Schwingtüren in Metallic-Grün aus dem Jahr 1995 lässt sich unschwer als Sinnbild deutscher Spießerwelten verstehen. Im Herbst 2009 sahen die Besucher es in der Schau, die denselben Titel trug wie das Haus, dem Kittelmann vorsteht: "Nationalgalerie".

Wer die Vortragsreihe, die die Ausstellung begleitete, verpasst hat, kann nun aufatmen. Weltbewegende Erkenntnisse hat er nicht versäumt, wie die Dokumentation der Reden in diesem Band beweist. Zu der Prägnanz, die Demands Bilder auszeichnet – für die sich das Versenken in das Buch lohnt – , fanden die 30 eingeladenen Geistesgrößen nur selten, als sie sich an der Frage abmühten: "How German is it?"

Eine Ausnahme ist Herfried Münkler. In seinem luziden kleinen Beitrag lässt sich der Politologe über der Deutschen Liebe zum Wald aus. Inspiriert von Demands Bild "Lichtung" zeichnet er ein nationales Psychogramm zwischen Vereinzelung und Gemeinschaft. Ansonsten spulten die meisten Vortragenden, vom Philosophen Jacques Rancière bis zur Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, routiniert ihr jeweiliges Lieblingsthema ab.

Das Ominosum "deutsches Wesen" bleibt in diesen Lektionen sattsam vertraut: Es hat Sehnsucht nach der Vergangenheit. Demands Bild "Zeichensaal" im Auge, sieht der Architekt Philip Oswalt dieses Motiv hinter dem Berliner Schlossbau. Das "deutsche Wesen" hat Angst vor zu viel Chaos: Diese Furcht löst Demands Bild "Büro" bei Joachim Gauck aus. Es zeigt durchwühlte Aktenberge in der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Und dieses Wesen flüchtet sich in den "Präventionsstaat", wie der ehemalige FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum angesichts von Demands Bild "Attempt" warnt. Auf der Aufnahme sieht man den Raketenwerfer, mit dem die RAF im August 1977 die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe unter Feuer nehmen wollte.

Die Liste der Prominenten in dem Band ist lang. Ausgerechnet zwei alten Hasen gelang es, Perspektiven über den Tag hinaus zu entwickeln. Michael Blumenthal, der 1926 geborene Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, zieht aus der Geschichte der Deutschen den Schluss, sie hätten "ein Beispiel dafür zu setzen, wie in einer globalen Welt Minderheiten als gleichberechtigte Bürger in einem Land zusammenleben können". Und der Soziologe Wolfgang Engler, Direktor der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch", rät der Politik zur Abkehr vom "Fraktionszwang", den er als Relikt einer zivilisatorisch überholten "Sippenhaft" deutet. Sollten die ordnungsliebenden Deutschen eines Tages wirklich Geschmack an Vielfalt und Streit finden – an diesem Wesen könnte die Welt dann sicher gefahrlos genesen.

Besprochen von Ingo Arend

Udo Kittelmann und Thomas Demand (Hg.): Nationalgalerie. How German is it?
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
432 Seiten, 29,90 Euro