Reden als Kunst
Mit 34 Jahren ist Tino Sehgal einer der jüngsten Künstler, die je im Guggenheim Museum ausgestellt haben. Dabei trifft „Ausstellen“ die Sache auch nicht richtig: Sehgal arbeitet objektlos, die Besucher werden in ein Gespräch verwickelt und können einem Pärchen bei Zärtlichkeiten zusehen.
„My name is Chloé. Would you like to follow me?” Ich nicke. Das kleine Mädchen rennt ein paar Schrittte voraus und bleibt dann stehen. „Can I ask you a question?“ Ich nicke wieder. „What is progress?“ – Was ist Fortschritt? Und damit beginnt eine Unterhaltung, die sich die gesamte Rampe der völlig leer geräumten Rotunde des Guggenheim Museums hinaufzieht. Kein Bild oder Austellungsgegenstand ist zu sehen, ein seit der Eröffnung des Museums vor 50 Jahren noch nie dagewesener Zustand.
„So in meinem eigenen Hinterkopf lugte das schon so, dass das natürlich – aber mehr so im Spass – dass das natürlich der perfekte Ort dafür wäre für diese Arbeit, aber ich hätte natürlich nicht gedacht, dass das dann so schnell passiert.“
Tino Sehgal ist mit seinen 34 Jahren der jüngste Künstler, der je im Guggenheim Museum ausgestellt hat. In Berlin lebend, bricht der britische Künstler durch seine gestellten Situationen mit dem sonst üblichen Museums- oder Galeriekontext und der Art und Weise, wie wir Kunst als Objekt erfahren. Mit seinem Hintergrund als studierter Ökonom und Tänzer verbindet er seine politische Kritik an der massiven Überproduktion von Gütern in der westlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden Objektüberflutung mit der ästhetischen Erfahrung des Bewegens und der Schönheit des vergänglichen Augenblicks.
In seiner Arbeit erschafft er, oft mit Hilfe von Laiendarstellern und inszenierten Versuchsanordnungen, objektfreie Kunstwerke, die in der Interaktion mit dem Besucher entstehen. Manchmal muss man sogar erst auf etwas reagieren, damit sich der Augenblick als Kunstwerk „outet“.
Und doch ist Sehgals Arbeit weder einmalige Performance noch festgelegte Installation. Sie ist eine inszenierte Begegnung. Und wie jedes andere Kunstwerk kann sie von Museen erstanden werden. Man kann sie während der Öffnungszeiten mit dem Kauf einer Eintrittskarte erleben und sie kann immer wieder neu ausgestellt werden. Seine eigene Rolle würde Tino Sehgal am ehesten mit der eines Regisseurs beschreiben.
„So meine Berufsbezeichnung: Ich bin also letztlich ein Regisseur, aber das Verhältnis sozusagen von mir zum Theater ist sozusagen wie von ‚nem Videokünstler zum Film.“
Man kann nicht wirklich über Tino Sehgals Arbeit berichten, ohne sich selbst als Teil des Geschehens mit einzubeziehen. Das kleine Mädchen führt mich ein paar Windungen die Rampe hinauf zu einer jungen Frau, der sie meine Antwort auf die Frage, was Fortschritt sei, zusammenfassend wiedergibt. In meinem Falle ging es am Beispiel eines Frühstücks ohne Milch im Vergleich zu einem Frühstück mit Milch um den Fortschritt von Situationen. Dann führt mich die Frau, ihre Name ist Lailah und sie unterrichtet englische Literatur, weiter und erzählt von Robert Frosts berühmten Gedicht „The Road Not Taken“ und der amerikanischen Eigenart, gerne Zitate aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen, um es für eigene Zwecke zu nutzen.
Auf dem letzten Teil der Rampe treffe ich John, der mir verrät, dass dies Kunstwerk „This Progress“ heißt und von Tino Sehgal ist. Er redet über Shakespeares „A Winter's Tale“ und wie längst tot Geglaubtes als lebendiges Kunstwerk wieder neues Leben findet. Oben unter der Glaskuppel angekommen verlässt er mich. „Thank you for this very nice conversation“.
Bei dem langsamen Weg die leere Rampe hinab, gehen mir fragmentarische Gesprächsfetzen der verschiedenen Gespräche durch den Kopf. Bei einem zweiten Versuch ergeben sich andere Fragmente: Fortschritt als das Verändern von Verhaltensmustern, die Sehnsucht nach Liebe und Wut als Antriebsfeder für Veränderung.
Unten am Boden der Rotunde liegen eng umschlungen ein Mann und eine Frau. Sie liebkosen sich. Sie streicheln sich, bewegen sich zeitlupenartig, nehmen erotische Posen ein und küssen sich immer wieder. Man fühlt sich berührt, voyeuristisch zuerst, dann mehr und mehr als bewusster Betrachter, der den fast kontemplativen Effekt dieser sich bewegenden Skulptur erlebt. Manchmal schaut mich einer der beiden für einen kurzen Augenblick an. Von einem der umhergehenden Museumswärter, der ein kleines Schild mit einem roten Fragezeichen trägt, erfahre ich, dass diese Arbeit „Kiss“ heißt.
„Begegnung – bei mir natürlich so ein Kernwort, also sicher das, was mich interessiert sozusagen. Anstatt ein Verhältnis zu den Dingen immer zu promoten, wie das ja bildende Kunst macht, promote ich halt so eine Art Begegnung.“
Die Arbeit Tino Sehgals macht den Betrachter zu einem Akteur, einem unverzichtbaren Teil des Kunstwerkes. Die Tatsache, dass er sich weigert, seine Arbeit in irgendeiner Weise zu dokumentieren oder zu archivieren, zeigt, wie ernst es ihm damit ist, Kunst wieder zurück in das Unmittelbare zu führen. Damit findet er einen beeindruckenden Ansatz jenseits der etablierten Kunstproduktion. Das Guggenheim Museum hat mit „This Progress“ und „Kiss“ zwei außergewöhnliche neue Kunstwerke erstanden.
„So in meinem eigenen Hinterkopf lugte das schon so, dass das natürlich – aber mehr so im Spass – dass das natürlich der perfekte Ort dafür wäre für diese Arbeit, aber ich hätte natürlich nicht gedacht, dass das dann so schnell passiert.“
Tino Sehgal ist mit seinen 34 Jahren der jüngste Künstler, der je im Guggenheim Museum ausgestellt hat. In Berlin lebend, bricht der britische Künstler durch seine gestellten Situationen mit dem sonst üblichen Museums- oder Galeriekontext und der Art und Weise, wie wir Kunst als Objekt erfahren. Mit seinem Hintergrund als studierter Ökonom und Tänzer verbindet er seine politische Kritik an der massiven Überproduktion von Gütern in der westlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden Objektüberflutung mit der ästhetischen Erfahrung des Bewegens und der Schönheit des vergänglichen Augenblicks.
In seiner Arbeit erschafft er, oft mit Hilfe von Laiendarstellern und inszenierten Versuchsanordnungen, objektfreie Kunstwerke, die in der Interaktion mit dem Besucher entstehen. Manchmal muss man sogar erst auf etwas reagieren, damit sich der Augenblick als Kunstwerk „outet“.
Und doch ist Sehgals Arbeit weder einmalige Performance noch festgelegte Installation. Sie ist eine inszenierte Begegnung. Und wie jedes andere Kunstwerk kann sie von Museen erstanden werden. Man kann sie während der Öffnungszeiten mit dem Kauf einer Eintrittskarte erleben und sie kann immer wieder neu ausgestellt werden. Seine eigene Rolle würde Tino Sehgal am ehesten mit der eines Regisseurs beschreiben.
„So meine Berufsbezeichnung: Ich bin also letztlich ein Regisseur, aber das Verhältnis sozusagen von mir zum Theater ist sozusagen wie von ‚nem Videokünstler zum Film.“
Man kann nicht wirklich über Tino Sehgals Arbeit berichten, ohne sich selbst als Teil des Geschehens mit einzubeziehen. Das kleine Mädchen führt mich ein paar Windungen die Rampe hinauf zu einer jungen Frau, der sie meine Antwort auf die Frage, was Fortschritt sei, zusammenfassend wiedergibt. In meinem Falle ging es am Beispiel eines Frühstücks ohne Milch im Vergleich zu einem Frühstück mit Milch um den Fortschritt von Situationen. Dann führt mich die Frau, ihre Name ist Lailah und sie unterrichtet englische Literatur, weiter und erzählt von Robert Frosts berühmten Gedicht „The Road Not Taken“ und der amerikanischen Eigenart, gerne Zitate aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen, um es für eigene Zwecke zu nutzen.
Auf dem letzten Teil der Rampe treffe ich John, der mir verrät, dass dies Kunstwerk „This Progress“ heißt und von Tino Sehgal ist. Er redet über Shakespeares „A Winter's Tale“ und wie längst tot Geglaubtes als lebendiges Kunstwerk wieder neues Leben findet. Oben unter der Glaskuppel angekommen verlässt er mich. „Thank you for this very nice conversation“.
Bei dem langsamen Weg die leere Rampe hinab, gehen mir fragmentarische Gesprächsfetzen der verschiedenen Gespräche durch den Kopf. Bei einem zweiten Versuch ergeben sich andere Fragmente: Fortschritt als das Verändern von Verhaltensmustern, die Sehnsucht nach Liebe und Wut als Antriebsfeder für Veränderung.
Unten am Boden der Rotunde liegen eng umschlungen ein Mann und eine Frau. Sie liebkosen sich. Sie streicheln sich, bewegen sich zeitlupenartig, nehmen erotische Posen ein und küssen sich immer wieder. Man fühlt sich berührt, voyeuristisch zuerst, dann mehr und mehr als bewusster Betrachter, der den fast kontemplativen Effekt dieser sich bewegenden Skulptur erlebt. Manchmal schaut mich einer der beiden für einen kurzen Augenblick an. Von einem der umhergehenden Museumswärter, der ein kleines Schild mit einem roten Fragezeichen trägt, erfahre ich, dass diese Arbeit „Kiss“ heißt.
„Begegnung – bei mir natürlich so ein Kernwort, also sicher das, was mich interessiert sozusagen. Anstatt ein Verhältnis zu den Dingen immer zu promoten, wie das ja bildende Kunst macht, promote ich halt so eine Art Begegnung.“
Die Arbeit Tino Sehgals macht den Betrachter zu einem Akteur, einem unverzichtbaren Teil des Kunstwerkes. Die Tatsache, dass er sich weigert, seine Arbeit in irgendeiner Weise zu dokumentieren oder zu archivieren, zeigt, wie ernst es ihm damit ist, Kunst wieder zurück in das Unmittelbare zu führen. Damit findet er einen beeindruckenden Ansatz jenseits der etablierten Kunstproduktion. Das Guggenheim Museum hat mit „This Progress“ und „Kiss“ zwei außergewöhnliche neue Kunstwerke erstanden.