Recycling-Pioniere im Libanon

"Besser als Plastik ins Meer zu kippen"

Müllberge in der libanesischen Hauptstadt Beirut.
Während der Müllkrise 2015 stapelt sich der Müll in Beirut. © AFP / JOSEPH EID
Von Cornelia Wegerhoff · 04.12.2017
Bilder riechen nicht, sonst wäre die Müllkrise im Libanon vor zwei Jahren noch stärker im Gedächtnis geblieben. Es hat gestunken, es gab Appelle für mehr Recycling und Mülltrennung. Und heute? Das fragile Land hat einige Visionäre und viele Müllstrände.
Die Müllabfuhr ist da. Es wurde auch Zeit. Die Tonnen im Beiruter Stadtviertel Achrafieh quillen schon über. Dass die Behälter dunkelgrün sind, bedeutet nicht etwa, dass in ihnen Spezielles gesammelt wird. Der Abfall wird hier nicht getrennt. Seit eh und je kommt alles in eine Tonne.
In dieser Gegend sind das die Haushaltsabfälle aus den umliegenden Hochhäusern und auffallend viele sperrige Kartons. Wie die arabischen und englischen Aufschriften verraten, handelt es sich um Großverpackungen für die Waren der Supermärkte nebenan.

Mit Hilfe der Kippautomatik am Müllwagen entleeren die Männer die ersten zwei der vier großen Container, die an dieser Straßenecke stehen. Aber dann fährt der Müllwagen überraschend wieder los. Die Hälfte des stinkenden Abfalls haben die Müllmänner einfach stehen lassen.
Grüne Müll-Container in der libanesischen Hauptstadt Beirut mit viel Pappe.
Müll-Container in der libanesischen Hauptstadt Beirut.© Von Cornelia Wegerhoff

Müllkrise seit Juli 2015: Gestank und Ungeziefer

"Sukleen" ist der originelle Name der Entsorgungsfirma, die fast überall im Großraum Beirut den Müll beseitigt oder eben nicht. Die Witze über diese "ach so saubere" Müllabfuhr sind den Hauptstadt-Bewohnern des Libanon allerdings vor zwei Jahren vergangen. Von Juli 2015 an transportierte "Sukleen" nämlich über Monate hinweg überhaupt keinen Müll mehr ab. Der Grund: die Behörden hatten die Deponie vor den Toren Beiruts geschlossen. Die Kapazitäten dort waren schon lange erschöpft gewesen. Aber erst jetzt sperrten die Behörden endgültig die Zufahrten. Die Folge: Binnen kürzerster Zeit türmten sich mitten im Hochsommer die Müllberge in den Straßen von Beirut. Lena Merhej hat die Krise miterlebt.
"Manchmal konnten nicht mal mehr Autos durch die Straßen fahren. Wir bekamen Ungeziefer zu sehen, das uns völlig neu war. Auch der Gestank war unerträglich: Es roch wie der Tod. Als die Leute dann anfingen, den Müll zu verbrennen, um ihn zu beseitigen, konnten wir wegen der giftigen Gase nicht mal mehr auf den Balkon gehen. Die Situation war unerträglich."
Lena Merhej ist Comic-Künstlerin. Ihre Kritik an den libanesischen Unzulänglichkeiten bringt die 40-Jährige normalerweise mit dem Zeichenstift zum Ausdruck. Aber während der Müllkrise im Sommer 2015 ging sie zusammen mit Zehntausenden auf die Straße.
Unter dem Motto "Ihr stinkt" warfen die Demonstranten der libanesischen Regierung Versagen vor. Die Müll-Krise sei exemplarisch für Misswirtschaft, Korruption und die Ignoranz der Politiker gegenüber den Nöten der Bürger.
Sogar Rufe nach einer Revolution wurden 2015 laut.
"Leider wurde die Regierung dann so gewalttätig, dass die Demonstranten nicht auf der Straße bleiben konnten. Es wurde Tränengas eingesetzt. Ich selbst wurde von Wasserwerfern abgedrängt. Ich dachte, meine Haut wird zerfetzt. Es gab viele Festnahmen. Einige Leute kämpfen bis heute vor dem Militärgericht um ihr Recht."

In dem libanesischen Comic-Magazin "Samandal" zeichnet Lena Merhej später die Ereignisse nach. Eine Schlüsselszene aus den realen Protesten zeigt Demonstranten, die geloben, ab sofort auch ihr eigenes Umweltverhalten zu ändern.
Wasserwerfer im Einsatz gegen Demonstranten in der libanesischen Hauptstadt Beirut.
Mit Wasserwerfern drängt die Polizei im Sommer 2015 die Demonstranten im Regierungsviertel von Beirut zurück.© dpa/picture-alliance/Wael Hamzeh
"Wir waren alle bei einer Demo, wo der Sprecher vorne rief: 'So, nun lasst uns alle die Hand heben und schwören: Ich werde recyceln.' Und wir haben alle die Hand gehoben und gerufen: 'Wir werden recyceln'. Ich war sehr stolz darauf. Ich dachte damals: Wow, ab jetzt verbessern sich die Dinge im Libanon."

"Recycle Beirut" arbeitet im Untergrund

Recyling war im Libanon bis 2015 nur ein Nischen-Thema. Nur Umweltinitiativen und einige Kleinunternehmer wie Kassem Kazak engagierten sich hier. Wer sich die Arbeit seiner Entsorgungsfirma ansehen will, muss im Beiruter Stadtbezirk Owzaai unter die Erde.
Über eine Tiefgarage führt ein niedriger Gang in den Katakomben-ähnlichen Untergrund. Bei schwachem Licht geht es vorbei an unzähligen Plastiksäcken, die dem Geruch nach mit Müll gefüllt sind. Am Ende des Ganges wirft ein junger Mann stapelweise alte Kartons in eine Presse.
"Recycle Beirut" hat jemand mit Hilfe einer Schablone an die Wand gesprüht. So heißt das Unternehmen, das der palästinensische IT-Ingenieur Kassem Kazak bereits Ende 2014 zusammen mit einem Freund gründete. Die beiden hatten die Zeichen der Zeit früh erkannt.
"Wie Sie wissen, gibt es ein Defizit bei den Service-Angeboten der libanesischen Regierung. Das betrifft die Müllabfuhr, die Versorgung mit Wasser und Strom und andere Infrastruktur. Wir wollten eine Lösung für das Müllmanagement anbieten und zusätzlich Arbeitsplätze schaffen. Viele Leute haben mit uns angefangen, zu recyeln. Sie können uns kontaktieren. Wir schicken Ihnen dann den Müllwagen vorbei oder Sie bringen uns den Müll selbst. Inzwischen haben wir 15 Angestellte: Alle sind syrische Flüchtinge."
Einer von ihnen ist Ahmad al-Aswat. Der junge Syrer macht eine kleine Führung durch das Gewölbe.
"Das ist der Eingangsbereich. Hier schütten wir die Mülltüten aus. Wir verarbeiten hier alles außer organischen Müll. Wir haben gut 2000 Kunden, bei denen wir die Abfälle abholen. Bei Firmen, Privathäusern, Botschaften, Restaurants. Wir trennen alles sortenrein."
Für das Sortieren sind Frauen zuständig. Sie stehen etwas weiter hinten im halbdunklen Keller an einem Tisch. Die Syrerinnen tragen schlichte, lange Gewändern, Kopftücher und Plastikhandschuhe. Sechs Stunden täglich, an sechs Tage in der Woche trennen sie hier den Müll, erklärt Manal:
"Cola-Dosen und andere Sachen aus Blech werden raus sortiert. Plastik kommt an die eine Seite, Papier und Kartons an die andere. Dafür gibt es keine Maschinen. Diese dünnen Plastiktüten sammeln wir. Und Glas."
Nur wenige Meter von den Frauen entfernt wird die ohnehin stickige Luft im Gewölbekeller nebelig trüb. Dort wird das aus dem Müll sortierte Glas zerkleinert.
Ein Angestellter wirft gerade leere Bierflaschen in den rotierenden Schredder. So häuft sich rund um die Maschine ein Berg mit kleinen Glaspartikeln an, die nur noch die Größe von Ein-Cent-Stücken haben. Staub wird dabei aufgewirbelt. Sehr feiner Staub, den ein Ventilator in den Gang blasen soll, damit der Arbeiter nicht alles einatmet. Eine Schutzmaske trägt er nicht.
Ein Arbeiter schreddert Glas im Untergrund von Beirut. Es ist dunkel, nur eine Lampe. Am Boden liegen Glassplitter.
Ein Arbeiter schreddert Glas im Untergrund von Beirut.© Von Cornelia Wegerhoff
"Wir haben ein ziemlich großes Problem mit grünem und weißen Glas im Libanon."
Erklärt unterdessen Mitarbeiter Ahmad al-Aswat.
"Das Bier wird hier zum Beispiel in Flaschen verkauft, aber es gibt keine Wieder-verwertung. Es gab eine Recyling-Firma, aber die hat vor vier Monaten geschlossen. Es gibt aber ein Unternehmen, das Fliesen aus dem zerkleinerten Glas herstellt."
Immerhin: Es wird also recycelt im Libanon, wenn auch in kleinem Maßstab. Aus dem hier zerkleinerten Altglas werden Bodenfliesen produziert, aus Altpapier und Pappe neue Kartons und Toilettenpapie hergestellt. In Kubikmeter großen Blöcken bringt "Recycle Beirut" tonnenweise gepresste Wasserflaschen in eine Kunststoff-Fabrik. Und Metall geht an einen Schrotthändler, der das Material ins Ausland verschifft. Drei bis vier Tonnen Müll werden so tagtäglich mit Hilfe von "Recycle Beirut" zurück in den Wertstoff-Kreislauf gebracht. Doch die Libanesen produzieren nach Expertenschätzung täglich insgesamt über 7000 Tonnen Müll. Ahmad seufzt.
"Das Problem ist, dass wir keine große Unterstützung bekommen. Wir sind ein Privatunternehmen und arbeiten für uns allein. Unsere Ausstattung hier ist auch nicht wirklich modern. Wenn das alles technisch besser entwickelt wäre, könnten wir den Müll von 10.000 bis 20.000 Häusern übernehmen. Wir entwickeln uns, aber sehr langsam."

Fehlende Umsetzung und Korruption

Das sieht Bente Scheller genauso: "Da könnte die Regierung sicherlich mehr tun, stärker auf Recycling selbst setzen. Im Moment ist es wirklich eine Sache der NGOs, der kleinen Initiativen, der Privatleute, sich hierum zu kümmern."
Bente Scheller leitet in Beirut das Büro der deutschen, grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung. Die Müllkrise 2015 hat sie persönlich miterlebt. Doch der Libanon habe seine Lektion nicht gelernt, so die Politikwissenschaftlerin. Die Regierung hat zwar einen Aktionsplan beschlossen. Zwei neue Mülldeponien sollen eröffnet werden, die Kommunen mehr Verantwortung übernehmen, heißt es darin. Aber im Libanon sei in Wahrheit nicht das Abfallkonzept das Problem, meint Bente Scheller.
"Theoretisch sollte es gar keiner neuen Konzeptes bedürfen, weil es schon seit Jahren in den Verträgen festgeschrieben ist: Die Firma, die den Müll abholt, muss einen gewissen Anteil davon recyceln. Das tut sie nur noch nicht. Das hat sie auch in den vergangenen Jahren nicht getan. Und sie wird nicht daran gebunden. Sie bekommt weiterhin die Verträge. Und deswegen hakt es hier nicht an den Papieren, die es brauchen würde, sondern tatsächlich an der Umsetzung. Und natürlich muss man auch sagen: Korruption ist hier ein Problem, das auch den Müll beeinflusst oder die Entsorgung des Mülls. Da ist es wirklich ein sehr hart umstrittener Profitbereich, der unter den etablierten Parteien so auch abgesteckt wird."

Besuch beim libanesischen "Müll-König"

"Ich versuche mich von der Regierung fernzuhalten. Ich bin froh, wenn die sich nicht allzu sehr in meine Arbeit einmischen."
Ziad Abichaker ist ein Mann der klaren Worte. Der Libanese ist dreifacher Ingenieur und Chef des Recyling-Unternehmens "Cedar environmental". In den Medien wird der 48-Jährige gern als der libanesische "Müll-König" bezeichnet.
"Ich bin da nicht beleidigt. Müll ist eine Ressource. Das hat man mir an der Uni beigebracht. Schauen Sie, ich bin eine strikt unreligiöse Person. Aber wer immer unseren Planeten geschaffen hat, diejenigen waren sehr clever. Denn alles wurde in Kreisläufen eingerichtet. Die Natur produziert niemals Müll."
Der Recycling-Unternehmer Ziad Abichaker in schwarzer Jacke vor weißen Müllsäcken.
Verfechter der Zero-Waste-Idee: Der Recycling-Unternehmer Ziad Abichaker.© Von Cornelia Wegerhoff
Ziad Abichaker geht an einer seiner Kompostierungsanlagen vorbei. Mit der Verwertung von organischem Abfall hat er vor 20 Jahren seine Arbeit begonnen. Doch inzwischen hat der ehrgeizige Geschäftsmann ein Dutzend Großanlagen gebaut, die der Zero-Waste-Philosphie folgen. Eine befindet sich nur 15 Kilometer östlich von Beirut in Beit Mary, die anderen liegen im Süden Libanons. 100 Tonnen Müll bewegen sich in diesen Anlagen täglich durch die modernen Sortieranlagen, die teils automatisch, teils mit Handarbeit funktionieren. 500 Tonnen Müll könnten es in Zukunft werden, hofft Ziad Abichakr.
"Wir bauen Sortier-, Kompostier- und Recycling-Anlagen. Unsere direkten Kunden sind die Kommunen. Dafür bauen wir einen Betrieb auf und betreiben ihn. Die Stadtverwaltung bringt uns ihren Müll und zahlt uns pro Tonne. Und wir sind vertraglich daran gebunden, nichts davon auf die Deponie zu bringen oder etwa zu verbrennen. Wir müssen absolut alles wiederverwerten."
In seinem Büro demonstriert der Libanese, wie das funktioniert. Die dekorative Zimmerdecke beispielsweise, die mit ihren weiß-bunten Flächen an ein Gemälde des berühmten Malers Mondrian erinnert, ist recyclter Müll, klärt Ziad Abichaker auf. Der Fußboden ist aus dem Gummi alter Autoreifen, die Türen sind aus recylcten Schiffspaletten. Und die Türgriffe? Der Ingenieur schmunzelt.
"Billiard-Kugeln. Aber besonders stolz sind wir auf die Vertäfelungen. Hier schauen Sier. Wir nennen das Material 'Eco-Board'. Es besteht aus recylten Plastiktüten. Plastik hält 500 Jahre. Wenn man eine Lösung findet, ein Recycling-Produkt herzustellen, das 500 Jahre hält, dann ist das besser, als es für 500 Jahre ins Meer zu kippen."

Die Mittelmeerküste wurde zur Abfalldeponie

Denn da liegt schon genug. Die libanesische Mittelmeerküste hat sich in den letzten Jahren nämlich zur größten Abfalldeponie des Landes verwandelt. Das Gesicht des Reycling-Unternehmers wird finster, wenn er über die Details spricht, über die man von den offiziellen Stellen nur wenig erfährt.
"Die sagen nichts. Aber sie haben zwei Orte ausgesucht vor der Küste, in Bourj Hamoud und den anderen in der Choueifat-Zone, an einem Strand, der 'Costa Brava' heisst. Tja, das ist sehr ironisch. Sie bauen zuerst Wellenbrecher. Und der so eingefasste Raum wird von der Küste aus mit Müll und Bauschutt verfüllt. So gewinnen sie Land. Aber überall, wo man jetzt an den Strand kommt, hat man jetzt Plastikmüll und diese Art Jauche, die durch organischen Müll entsteht. Das Wasser riecht wirklich schlecht."
Rein rechnerisch lässt sich nicht nachvollziehen, warum der Müll ins Meer gekippt wird, statt ihn zu recyceln. Denn das Unternehmen von Ziad Abichaker würde für nur 65 US-Dollar pro Tonne den Abfall sortieren und wieder in den Wertstoffkreislauf zurückbringen. Der Entsorgungs-Riese "Sukleen", der derzeit im Großraum Beirut und in vielen anderen Regionen des Libanon für die Müllabfuhr zuständig ist, soll doppelt so teuer sein, heißt es in libanesischen Medien, und behält trotzdem seine Aufträge. Ziad Abichaker zeigt das, wie Libanons Müllgeschäft funktioniert, oder eben nicht.
"Ich denke nicht, dass wir hier eine gut durchorganisierte Mafia im Libanon haben. Aber wir haben genügend korrupte Leute, Politiker, was auch immer, mit denen man da dealen kann."

Recycling ist immer noch ein Kampf

Der nächste Termin steht an. Eine junge Wissenschaftlerin namens Amal Ephren möchte über ein gemeinsames Recylcing-Projekt an der libanesischen Universität sprechen, wo sie arbeitet.
"Alle Fakultäten machen mit. Die Leute im Libanon sind bereit, zu sortieren. Wir brauchen nur die Infrastruktur von den Stadtverwaltungen."
Amal Ephren glaubt, dass sich seit der Müllkrise vor zwei Jahren zumindest in den Köpfen der Menschen einiges verändert hat.
"Viele Leute haben gleich danach angefangen, zu sortieren. Aber als sie gesehen haben, dass der ganze Müll dann wieder zusammengeschüttet wird, waren sie sehr entmutigt. Keiner strengt sich an, wenn er sieht, das etwas sinnlos ist."
Das gleiche Problem hat auch Comic-Zeichnerin Lena Merhej. Ihre Recycling-Vorsätze von den Massenprotesten 2015 seien nur schwer umzusetzen, muss sie zugeben.
"Wir hatten diese Krise und wir dachten, jetzt profitieren wir vom Müll und machen sogar Geld draus. Aber leider ist das Recycling immer noch ein Kampf. Leider sind wir noch nicht so weit."
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