"Rechtsstaatliche Prinzipien werden mit Füßen getreten"

Jens Malte Fischer im Gespräch mit Ulrike Timm |
Die Indizien gegen den verstorbenen Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht, der sich 1941 an Gräueltaten gegen Juden beteiligt haben soll, hält der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer für unzureichend. "Ich wünsche mir, dass dieses Urteil vor der Beweisaufnahme umgekehrt wird."
Ulrike Timm: Der bedeutende Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht sorgte zehn Jahre nach seinem Tod letzte Woche für Schlagzeilen. Er habe als junger Mann 1941 auf der Krim als Soldat mitgewirkt bei Gräueltaten an Juden, bei Morden. Das schrieb der Musikhistoriker Boris von Haken in der Wochenzeitung "Die Zeit". Er hat akribisch in Archiven recherchiert, den Beweis für eine persönliche Schuld von Hans Heinrich Eggebrecht konnte er jedoch nicht erbringen, aber die Indizien sind seiner Ansicht nach erdrückend. Wir sprachen vor ein paar Tagen darüber mit Boris von Haken und sprechen jetzt mit dem Vertreter eines Fachs, das durch diese Meldungen gründlich durchgeschüttelt wird, mit dem Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer von der Universität in München. Schönen guten Tag!

Jens Malte Fischer: Ja, guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Fischer, die Formulierung dieser Meldung, dass einer der bedeutendsten Musikwissenschaftler als junger Mann an der Ermordung von Juden beteiligt sei, habe die Musikwissenschaft sehr durchgeschüttelt und aufgeschreckt, die ist wohl nicht übertrieben. Was für Reaktionen sind Ihnen bekannt?

Fischer: Ja, das sind bisher bezeichnenderweise eher private Reaktionen, die auch zum Teil in dem Kommentarartikel der "Zeit" zitiert werden. Man muss dazusagen, was der Öffentlichkeit offensichtlich nicht bekannt ist, dass die Geschichte, wenn ich das mal in Anführungszeichen so sagen darf, seit September dieses Jahres bereits in der Welt ist. Herr von Haken hat da in Tübingen bei einer Tagung der Gesellschaft für Musikforschung einen Vortrag gehalten, wo er genau dieses noch sehr viel ausführlicher entwickelt hat. Und in der Fachwelt kursierte der Text des Vortrages. So ist er auch mir zu Ohren und zu Augen gekommen. Also die Kollegen, die vielleicht jetzt so überrascht sind, konnten es nicht ganz sein, das kursierte. Aber man hat natürlich gewartet, ob jetzt solidere, beweiskräftigere Dinge auf den Tisch kommen. Das ist allerdings mit dem Artikel in der "Zeit" auch noch nicht geschehen.

Timm: Man ist trotzdem erst mal komplett geplättet und entsetzt, trotzdem treten Sie, Herr Fischer, diesem Artikel entgegen. Worauf gründen Sie Ihren Protest und Ihre Zweifel?

Fischer: Ich kann in der Sache, in den Fakten natürlich überhaupt nicht diskutieren, ich bin kein Militärhistoriker, ich habe die Belege von Herrn von Haken nicht gesehen. Aber was ich sagen kann, ist, dass mit dem Vortrag und dem Artikel jetzt im Grunde nach meiner Meinung rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen getreten werden, denn es wird erst das Urteil verkündet. Das heißt also, Eggebrecht war Kriegsverbrecher, hat Gräueltaten verübt, und dann wird sozusagen in die Beweisaufnahme eingetreten. Das scheint mir nicht der richtige Weg zu sein. Es hätte umgekehrt sein müssen, Herr von Haken hätte seine Beweise, sage ich mal, kompetenten Militärhistorikern vorlegen müssen, die hätten das prüfen müssen, und dann hätte er ans Licht der Öffentlichkeit treten sollen. Er hat den umgekehrten Weg gewählt. Er ist ja kein Fachmann für die Ereignisse auf der Krim, das bin ich auch nicht. Aber da muss man doch sehr vorsichtig sein, bevor man zu einem Urteil kommt, das letztlich darauf hinausläuft, dass es sich hier um einen Mörder handelt. Und diesen Begriff hat Herr von Haken in seinem Vortrag, von dem ich vorhin sprach, im September benutzt. Da steht drin, wörtlich: Eggebrecht hat Menschen ermordet. Dieser Begriff steht jetzt hier nicht drin in der "Zeit", also da scheint er vorsichtiger geworden zu sein. Mich stört einfach die sensationslüsterne Aufbereitung – da trifft ein Teil meines Tadels auch die "Zeit", muss ich sagen – und die mangelnde Beweiskraft dessen, was bisher vorgelegt worden ist.

Timm: Nun stehen wir ja auch als beide, die das nicht genau nachvollziehen und beweisen können, trotzdem vor einem Problem: Die persönliche Schuld ist nicht bewiesen, das hat Herr von Haken auch mir gegenüber im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton" wirklich gesagt, und die Indizienlage wiegt gleichwohl schwer und Hans Heinrich Eggebrecht ist tot. Wenn es stimmt, dann hat mit ihm ein weiterer Nazitäter im Nachkriegsdeutschland unbehelligt eine glanzvolle Karriere gemacht. Wenn es nicht stimmt, wird ein großer Intellektueller im Nachhinein aufs Schwerste verunglimpft. Was macht denn jetzt die Musikwissenschaft mit dieser Situation?

Fischer: Ja, das weiß ich nicht. Ich muss in Parenthese hinzufügen, ich bin sozusagen nur Nebenfach-Musikwissenschaftler, interessiere mich aber für diese Dinge sehr, schon seit Langem, und publiziere auch in musikalischen Sachverhalten. Das also nur, nicht dass ich hier als der Münchener Ordinarius für Musikwissenschaft durchgehe, der bin ich nicht.

Timm: Sie haben ein großes Buch über Mahler geschrieben.

Fischer: Das ist richtig.

Timm: Genauso wie Hans Heinrich Eggebrecht.

Fischer: Ja, ich wollte es nur am Rande erwähnen. Ja, das ist der zweite Teil des Problems, dass es jetzt in dem Referat da in der "Zeit" und auch in anderen Zusammenhängen plötzlich Absetzbewegungen von Eggebrecht gibt, und es gibt Autoren, die zum Teil behaupten, also jetzt müsse man gewisse Stellen in seinen Werken, die ja wohlgemerkt alle erst in den 50er-Jahren begonnen haben zu erscheinen … Es ist ja nicht der Fall von einem Musikwissenschaftler, der bereits im Dritten Reich publiziert hat, und hernach, das gab es ja auch früher, hernach Dinge verschwiegen hat und so getan hat, als sei er das reinste Lamperl gewesen, um mich auf Österreichisch auszudrücken, das ist hier nicht der Fall. Der hat ja erst nach dem Krieg sein Studium beendet und seine akademische Karriere in den 50er-Jahren begonnen. Und er war ein bedeutender Musikwissenschaftler.

Timm: Lassen Sie mich da noch mal einhaken, Herr Fischer. Nun steht der Eggebrecht vor allem mit seinem Buch "Die Musik des Abendlandes" bei vielen Musikliebhabern im Bücherregal, deswegen "der Eggebrecht". Trotzdem wird er vielen unserer Hörer ein Unbekannter sein. Sagen Sie uns ein paar Worte zu dem Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht: Was genau hat ihn zum, ja, vielleicht zum Doyen seines Faches in der Nachkriegszeit gemacht?

Fischer: Ja, Doyen, ja ist vielleicht eine Idee zu hoch gegriffen, aber er war ein ganz wichtiger Mann. Er hat großen Einfluss gehabt, er war Professor in Freiburg, fast seine ganze Professorenzeit lang, und er hat viel publiziert und er hat auch umfangreiche Bücher publiziert. Er hat das große "Brockhaus Riemann Musiklexikon" mit Carl Dahlhaus zusammen herausgegeben, das sicher viele Musikliebhaber in ihren Regalen haben. Er hat ein – das ist eher Fachwissenschaft – "Handwörterbuch der musikalischen Terminologie" herausgegeben, ganz wichtig, und dann dieses großes Buch "Musik im Abendland", das Sie nennen. Das ist sicherlich über den Kreis der Musikwissenschaftler deutlich hinausgegangen, hat sozusagen die gebildeten Laien auch angesprochen, und ein nicht unbedeutendes Buch, Sie haben es eben erwähnt, über die Musik Gustav Mahlers. Also das ist schon eine ganz respektable Sache, und er war sicher in den 70er-, 60er-, 70er-, 80er-Jahren neben sagen wir Rudolf Stephan, Carl Dahlhaus, Reinhold Brinkmann, Ludwig Finscher der bekannteste deutsche Musikwissenschaftler.

Timm: Muss man denn einiges von Eggebrecht in Zukunft ich sag mal vorsichtiger lesen als bisher?

Fischer: Das versuchen jetzt einige auf eine mich etwas befremdende Weise. Da kann ich nur sagen, wenn das alles so zweideutig ist, was er geschrieben hat, oder zumindest einiges, dann hätte man es vielleicht auch früher merken können. Bisher hat es eigentlich niemand gemerkt. Das Einzige, was sicher unstrittig ist, ist das, dass er sagen wir mal einerseits politisch – das ist auch interessant – hochschulpolitisch und politisch eher auf der linken Seite stand, er war ein Professor, der in Freiburg auf der Seite der Studentenbewegung stand, mit cum grano salis, dass er als Wissenschaftler vielleicht doch in seinen Formulierungen ein eher abendländisches – um den Titel noch mal zu erwähnen – abendländisches, eher konservatives Musikverständnis hatte. Allerdings, er war einer der ganz wenigen deutschen Musikwissenschaftler, die sich relativ früh mit Gustav Mahler beschäftigt haben, muss man auch wieder sagen.

Timm: Und gerade dieses Buch über Gustav Mahler wird jetzt von einigen Musikjournalisten auf antisemitische Tendenzen hin, ja gefilzt kann man fast sagen. Wie sehen Sie das?

Fischer: Ja, also das ist Unsinn. Das Buch selbst ist völlig unverdächtig. Ich halte es nach wie vor für ein ziemlich gutes Buch. Was jetzt zitiert wird zum Teil, bezieht sich gar nicht auf dieses Buch, sondern auf einen Mahler-Aufsatz aus seinen letzten Lebensjahren in einem Buch, das heißt "Die Musik und das Schöne", also sagen wir ein Mahler-Kapitel dort drin, wo er sich mit der 8. Sinfonie von Mahler auseinandersetzt und die ziemlich heftig kritisiert – das ist sein gutes Recht –, und er setzt im Grunde etwas fort, was Adorno schon angedacht hatte, was die 8. Sinfonie betrifft. Ich teile dieses Urteil überhaupt nicht, aber das tut hier nichts zur Sache. Aber da ihm in einzelnen Formulierungen verdeckten Antisemitismus vorzuwerfen, das halte ich für – vorsichtig zu sagen – unseriös. Ich sehe das nicht.

Timm: Was wünschen Sie sich denn für die derzeitige Diskussion um Hans Heinrich Eggebrecht?

Fischer: Ich wünsche mir, dass diese Verurteilung, dieses Urteil vor der Beweisaufnahme, etwas umgekehrt wird. Ich wünsche mir, dass Herr von Haken alle seine Fakten, alle Dokumente mit entsprechenden Aktenzeichen, sodass es auch jeder überprüfen kann, auf den Tisch legt. Das hat er ja angekündigt für das Frühjahr, wird er das Ganze als Buch veröffentlichen. Wenn ich den Titel allerdings sehe, mit dem er dieses Buch ankündigt, "Holocaust und Musikwissenschaft", dann werde ich etwas bedenklich, was in diesem Buch zu lesen ist.

Timm: Der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer über den Streit um den vor zehn Jahren verstorbenen Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht, der an Gräueltaten an Juden 1941 beteiligt gewesen sein soll. Herzlichen Dank fürs Gespräch!

Fischer: Gerne, auf Wiederhören!