Rechtspopulismus in Europa

Der Geist geht nicht zurück in die Flasche

Ein Pfeil nach rechts vor einem Europa Gebäude in Brüssel
Ein Pfeil nach rechts vor einem Europa Gebäude in Brüssel © imago stock&people
Von Bettina Klein · 23.12.2017
In vielen Ländern Europas werden rechtspopulistische Parteien immer stärker und nationale Absetzbewegungen sind unübersehbar. Und trotzdem: Für Europa war das Jahr 2017 - alles in allem betrachtet - kein schlechtes, meint Bettina Klein.
Das Jahr 2017 begann für die EU in einem Tal der Tränen, führte in einer Kurve über ein kaum für möglich gehaltenes Hoch und endet – in einer Art Ernüchterung. Die Furcht vor dem Rechtspopulismus und der Zerstörung der Europäischen Union und ihrer Grundwerte erschien nach den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich unbegründet.
Der Zusammenhalt nach Brexit und Trump-Wahl wuchs. Mit der Verteidigungsunion konnte die EU einen wichtigen Erfolg feiern. Das Team Merkel-Macron ließ die Blütenträume von einer besseren, gefestigteren Union reifen. Menschen mit Europafahnen gingen zu tausenden auf die Straße. Alles in allem steht die EU besser da als zuvor.

Euro-Kritiker müssen ernst genommen werden

Unter der Oberfläche aber gärt es. Rechtspopulistische Parteien sind zum Allgemeingut in Europa geworden – auch ohne einen Wahlsieg von Marine Le Pen und Geert Wilders. Sie haben sich offen die Zerstörung der Europäischen Union zum Ziel gesetzt. In Deutschland sitzen sie im Bundestag - während es noch immer keine neue Regierung gibt. In Österreich befinden sie sich an der Macht.
Polen und Ungarn sind an rechtstaatlichen Normen, auf denen die EU gründet, nicht mehr interessiert. Anders als behauptet ist die EU Kommission kein Zentralkomitee, das seine Werte von oben durchsetzen kann. Die Macht in der EU liegt bei den Nationalstaaten. Auch ein Artikel 7 ist zahnlos, wenn die Einstimmigkeit am Ende fehlt. Und die Fliehkräfte bleiben stark, wie die Wahl in Katalonien gezeigt hat.

Wegschauen hilft nicht

Die Rebellion gegen Strukturen ist ein Phänomen dieser Zeit. Sie muss als solches ernst genommen werden. Das wäre der Erwähnung nicht Wert, wenn einige Politiker in der EU nicht glauben würden, durch wegschauen oder ignorieren könnten diese Phänomene zum Verschwinden gebracht werden.
Die Angst, die dahinter steht, ist berechtigt, denn Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen aller Art wirken immer ansteckend und in gewisser Weise faszinierend. Das wird so lange so sein, wie Menschen die Möglichkeit dazu haben. Etwas darin ist authentisch und vielen von uns vertraut. Das macht ihre Ansteckungsgefahr aus. Wenn man sie als Gefahr bezeichnen will.

Zerstörung der EU ist kein Zukunftsmodell

Sich als politisch Verantwortlicher aber die Decke über den Kopf zu ziehen und zu behaupten, die Dinge hätten keine Bedeutung, hat schon scheinbar in Beton gegossene Regime zum Einsturz gebracht. Vorsicht. Nun ist es allerdings so, dass die Freiheitssehnsucht und der Unabhängigkeitsdrang von Menschen auch auf Systeme und Strukturen projiziert werden. Historisch betrachtet muss, nachdem die Form zerstört ist, irgendwann eine neue Form im Zusammenleben entstehen. Und die ist erstmal nicht unbedingt besser als die alte. Oder sie wird – interessanterweise - nicht als besser empfunden.
Katalonien würde bei Unabhängigkeit aus der EU herausfallen, die Wirtschaft zeigt schon jetzt Tendenzen der Abwanderung. Wie es Großbritannien geht, nach dem es sich los gesagt haben wird, ist offen. Die Zerstörung der europäischen Union, wie sie sich die rechtspopulistischen Parteien vorgenommen haben, kann niemand im Ernst als Zukunftsmodell begreifen.
Als die alte DDR überwunden war – ohne Blutvergießen im Unterschied zu früheren Versuchen – schien aus Sicht ganzer Bevölkerungsschichten theoretisch alles möglich zu sein: Tabula Rasa, eine bessere DDR, ein dritter Weg, das Paradies. Was auch immer. Was danach kam - eine funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft - erschien vielen als so abweichend von dem erträumten Ideal, dass sie das neue System als "aufoktroyiert" und jedenfalls schlechter als das vorherige empfanden.

Mehr Freiraum und Flexibilität

Es wird immer einen Spannungszustand geben zwischen dem Autonomie- und Freiheitsbedürfnis von Menschen und den Strukturen, in denen sie zusammen leben. Das bedeutet in demokratischen Gesellschaften: Je mehr Freiraum und Flexibilität diese Strukturen bieten, umso dauerhafter sind sie. Und je glaubhafter vermittelt werden kann, dass Spielregeln für alle gut sind - umso besser.
Die EU muss also beides, sie muss Strukturen bewahren und optimieren, und sie muss ernst nehmen, was da gärt. Eines sollte zum Ende des Jahres allen klar sein: Rechtstaat, Demokratie und Gewaltenteilung, sprich: unser derzeitiges Leben - ist kein auf ewig gottgegebenes Geschenk. Es muss zu bestimmten Zeiten verteidigt werden. Die Kreativität des Aufstands in diese Bahn zu lenken, das wäre ein lohnendes Ziel.
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