Rechte Ausschreitungen

"Das war nicht die Bürgerschaft von Chemnitz"

Ausschreitungen in Chemnitz (27. 8.2018).
Wutbürger, Hooligans und Neonazis: Wütender Demonstrationszug in Chemnitz. © dpa- news / AP / Jens Meyer
David Begrich im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 29.08.2018
Die Teilnehmer der rechten Demonstration in Chemnitz seien Hooligans, Neonazis und "rassistisch motivierten Wutbürger" gewesen, sagt Rechtsextremismus-Experte David Begrich. Die gesamte rechte Szene richte sich derzeit auf die Stadt aus.
Wutbürger oder Neonazis? Darüber, wer am Montagabend in Chemnitz auf Seiten der Rechten auf die Straße ging, gehen die Einschätzungen auseinander.
"Das war nicht die Bürgerschaft Chemnitz", sagt David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus vom Magdeburger Verein "Miteinander". Er sieht vor allem "eine Mischszene aus Neonazis und Hooligans am Werk", plus "rassistisch motivierte Wutbürger".

Die Demonstranten kamen aus der Region

Die Einschätzung, dass viele der Gewalttäter von weiter her angereist seien, teilt Begrich nicht. "Für eine solch kurze Mobilisierungszeit, wie wir sie am Montag gesehen haben, setzt sich niemand, der am nächsten Tag arbeiten gehen muss, länger als eine Stunde ins Auto", sagte er im Deutschlandfunk Kultur. "Ich glaube, die Mobilisierungsressource derer, die dort am Montag tatsächlich gekommen sind, das sind diejenigen, die aus dem sozialen Nahraum, aus dem Umland von Chemnitz gekommen sind."
David Begrich von Verein "Miteinander" in Magdeburg
David Begrich von Verein "Miteinander" in Magdeburg© picture alliance / ZB / Arno Burgi
Chemnitz sei in der Geschichte des Rechtsextremismus "kein unbeschriebenes Blatt", betont Begrich. Hier gebe es "zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine weit zurückreichende neonazistische Szene" – etwa einen Versand für rechtsextremistische Rockmusik, der bundesweit bekannt sei.

"Eine Art Endzeitfantasie"

Derzeit sei die gesamte rechtsextremistische Szene auf Chemnitz fokussiert, warnt er. Die Ereignisse hätten "sozusagen eine Erzählung hervorgebracht, die da sagt: Jetzt geht es los, jetzt müssen wir die entscheidenden Fragen stellen und posten eben sozusagen so eine Art Endzeitfantasie".
Wie sich die Situation in Chemnitz weiterhin entwickeln wird, lässt sich dem Rechtsextremismusexperten zufolge derzeit noch nicht einschätzen. Einerseits gebe es "Rache- und Gewaltankündigungen" an die migrantische Community in Chemnitz. "Und es gibt auf der anderen Seite die Ankündigung der AfD, eine Trauerdemonstration machen zu wollen, ohne Transparente, ohne Plakate, in gedeckter Kleidung, mit schwarzen und weißen Rosen", so Begrich.
"Wie das zusammengehen soll oder ob das getrennt sich vollziehen soll, wie die Chemnitzer Bürgerschaft sich dazu verhält – all das sind ja sozusagen Fragen, die man von heute aus, von Mittwochmorgen aus noch gar nicht sagen kann."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Die Neonazis in Sachsen sind erschreckend gut organisiert. Ein paar Facebook-Posts mit klaren Stichworten – Deutsche als Opfer, Frau belästigt, Südländer als Täter –, Stunden später sind Hunderte auf der Straße, egal, ob das nun stimmt oder nicht, viele davon gewaltbereit. Die Strukturen der rechten Szene auch in Chemnitz untersucht David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Herr Begrich, nach Ihrem Eindruck, war da wirklich die von einem Verbrechen geschockte Zivilgesellschaft auf den Straßen, durchsetzt von einer kleinen Minderheit von Rechtsextremen, wie CDU-Ministerpräsident Kretschmer das darstellt?
David Begrich: Zunächst einmal muss man ja sagen, dass allein die Zahl derer, die daran teilgenommen haben, offenkundig alle, die in Chemnitz politisch und auch polizeilich damit befasst waren, überrascht haben. Gerechnet hat die Polizei mit etwa 1.000 Teilnehmern. Gekommen sind dann zwischen fünf bis 7.000 Teilnehmern. Die Schätzungen gehen da weit auseinander. Und wenn man sich die Bilder ansieht, dann muss man sagen, das war jetzt nicht die Bürgerschaft Chemnitz', die da auf die Straße gegangen sind, sondern das waren im Grunde genommen drei Mobilisierungsmomente, die eine Mischszene aus Neonazis und Hooligans auf die Straße gebracht haben.

Milieu mit "Lust an der Angst"

Und da war zu einem eben das gruppendynamische Moment des Zusammenspiels zwischen Neonazi-Szene, Hooligans und rassistisch motivierten Wutbürgern auf der einen Seite, auf der anderen Seite die sozusagen ideologisch motivierte Sachlage dieser Lustangst, die es ja in dieser Szene gibt, die Lustangst vor Flüchtlingen, vor Migranten, vor, wie sie es selbst nennen, dem "großen Austausch", vor der Islamisierung, das schwingt ja beides mit. Es ist also eine große Angst, und die ist sicher auch real, aber es gibt auch eine Lust an der Angst. Und es gibt noch ein drittes Moment, nämlich die ostdeutsche Erfahrung, die bei jeder Demonstration dieser Art in den letzten drei Jahren, ob bei Pegida oder jetzt bei diesem Anlass – wenn ein bisschen mehr Leute auf die Straße gehen, sofort den Sturz der Regierung auf die Agenda setzen mit den Worten "Wir sind das Volk" und ähnliche Dingen. Das sind so drei Momente, die, glaube ich, für die Mobilisierung am Montag eine wichtige Rolle gespielt haben.
Karkowsky: War das denn für Sie bereits eine Eskalation der Lage, was Sie dort gesehen haben?
Begrich: Ich glaube, es ist ganz gut, mal einen Moment innezuhalten und in die Binnenwahrnehmung dieses Milieus hineinzuschauen. Wenn man dies tut, dann wird man feststellen, dass das für deren Verhältnisse eigentlich eine relativ ruhige Veranstaltung war. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Großteil der Teilnehmenden entweder gewaltaffin oder sogar gewalterfahren ist im Kontext von Fußballspielen, im Kontext von anderen öffentlichen Ereignissen, dann muss man sagen, ja, da sind Flaschen geflogen, ja, da sind Böller geflogen, ja, da sind auch Menschen gejagt und angegriffen worden, aber längst nicht in dem Ausmaß, wie wir das zu anderen Ereignissen auch in Sachsen bei rassistischen Gewaltstraftaten, bei rassistischen Mobilisierungen in der Vergangenheit gesehen haben. Das heißt, aus der Sicht des Milieus war das sicher eine Veranstaltung, die eher ruhig abgelaufen ist.
Karkowsky: Dann fürchten Sie also, da kommt noch was?
Begrich: Das muss man jetzt mal anschauen. Ich glaube, man muss jetzt mal darauf achten, wer jetzt wozu mobilisiert. Es gibt ja hinsichtlich der Ereignisse am Wochenende unterschiedliche Mobilisierungserzählungen. Es gibt die, die sich im Umfeld des von mir skizzierten Milieus bewegt. Da gibt es Rache- und Gewaltankündigungen an die migrantische Community in Chemnitz. Und es gibt auf der anderen Seite die Ankündigung der AfD, eine Trauerdemonstration machen zu wollen, ohne Transparente, ohne Plakate, in gedeckter Kleidung, mit schwarzen und weißen Rosen. Wie das zusammengehen soll oder ob das getrennt sich vollziehen soll, wie die Chemnitzer Bürgerschaft sich dazu verhält, all das sind ja sozusagen Fragen, die man von heute aus, also von Mittwochmorgen aus, noch gar nicht sagen kann. Fest steht aber, dass sich die gesamte spektrenübergreifende rechtsextremistische Szene darauf fokussiert, auf Chemnitz - sie hat sozusagen eine Erzählung hervorgebracht, die da sagt, jetzt geht es los, jetzt müssen wir die entscheidenden Fragen stellen, und sie posten also sozusagen so eine Art Endzeitfantasie.

"Chemnitz ist kein unbeschriebenes Blatt"

Karkowsky: Welche Rolle spielen dabei die Ultras, die extremen Fußballfans, die Hooligans?
Begrich: Zunächst einmal geht es darum, nicht alle in einen Topf zu werfen. Die Ultra-Szene ist sehr differenziert zu betrachten. Da gibt es sehr unterschiedliche Leute. Worüber wir jetzt hier reden, das ist eine Teilgruppe gewaltbereiter Hooligans und Ultras, die eine lange Vorgeschichte innerhalb der neonazistisch-rechtsextrem orientierten Fußballszene haben. Und die sind in Chemnitz und darüber hinaus seit mehreren Jahrzehnten gut vernetzt und aufgestellt. Ich glaube, man muss sich noch mal daran erinnern, dass Chemnitz ja, was die Frage der Geschichte des Rechtsextremismus angeht, kein unbeschriebenes Blatt ist. In Chemnitz gab es diese NSU-Connection. Es gibt in Chemnitz einen Versand für rechtsextremistische Rockmusik, der überregional, bundesweit bekannt ist. Es gibt in Chemnitz eine Vorgeschichte zur Entstehungsgeschichte der Neuen Rechten, die wir heute sozusagen haben. Das heißt, für den Regionalraum Chemnitz gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine weit zurückreichende neonazistische Szene.
Karkowsky: Würden Sie denn sagen, dass Ost- und West-Nazis in Chemnitz zusammenarbeiten? Denn CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer hat ja angedeutet, dass von den schlimmsten Randalierern am Wochenende einige durchaus angereist sein könnten.

"Eine unübersichtliche Situation"

Begrich: Ja, angereist sind da sicher viele, daran habe ich gar keinen Zweifel. Aber ich will die Frage mal andersherum stellen: Für eine solch kurze Mobilisierungszeit, wie wir sie am Montag gesehen haben, setzt sich niemand, der am nächsten Tag arbeiten gehen muss, länger als eine Stunde ins Auto. Und das heißt, ich glaube, die Mobilisierungsressource derer, die dort am Montag tatsächlich gekommen sind, das sind diejenigen, die aus dem sozialen Nahraum, aus dem Umland von Chemnitz gekommen sind. Und man muss jetzt gucken, was das für eine Situation am Wochenende bedeutet, ob der Mobilisierungsresonanzraum sich erweitern lässt, auf wen er zielt. Man kann sich noch mal die unterschiedlichen rechtsaffinen Fanszenen im Umfeld von anderen ostdeutschen Zweit- und Drittligavereinen angucken. Man kann sich noch mal angucken, was im Milieu von Pegida passiert. Ich glaube, das ist eine zunächst erst einmal unübersichtliche Situation, und ich würde eine vorschnelle eindeutige Zuordnungen erst mal ablehnen, weil ich glaube, dazu ist die Entwicklungsdynamik vor Ort im Moment zu hoch.
Karkowsky: Wie die rechte Szene organisiert ist, und dass in Chemnitz durchaus noch einiges passieren könnte, das hat uns David Begrich erklärt von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Herr Begrich, für dieses Gespräch besten Dank!
Begrich: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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