Recht, nicht Rache

Von Jochen Stöckmann · 31.12.2008
Als "Ein-Mann-Orchester" hat ihn seine Biographin Hella Pick bezeichnet: Simon Wiesenthal, heute vor 100 Jahren in Galizien geboren, der als einziger seiner Familie den Holocaust im KZ Mauthausen überlebte und der nach seiner Befreiung die Verfolgung flüchtiger Naziverbrecher zu seiner Lebensaufgabe machte. "Recht, nicht Rache" war die Devise des gelernten Architekten, dessen beharrliche Recherchen und umfangreiche Dokumentationen weit hinausgingen über jenes spektakuläre Bild des "Nazi-Jägers", mit dem Wiesenthal in den Medien charakterisiert wurde.
Kaum aus den Fängen der SS-Mordmaschinerie befreit, bittet ein KZ-Häftling in Mauthausen im Sommer 1945 Offiziere einer US War Crime Unit, bei Verhören des Wachpersonals dabei sein zu dürfen. So wird Simon Wiesenthal, ein Architekt aus Lemberg, zum "Nazi-Jäger". Mit seinem kleinen Dokumentationszentrum betreibt er von 1947 an, erst in Linz, dann von Wien aus, die Fahndung nach Kriegsverbrechern: ohne staatlichen Auftrag, in Privatinitiative. Etwa 1200 Täter kann Wiesenthal aufspüren, darunter Franz Stangl, KZ-Kommandant von Treblinka, der sich in Brasilien versteckt hat. Alles nur mit hartnäckiger Recherche, durch Zeugenbefragung und Aktenstudium:

"Wie ich zusammengekommen bin mit Leuten von der Résistance, sagen die mir: Du siehst ja so normal aus. Sage ich: Was hast du erwartet? Dass ich hier eine Pistole habe und hier eine Bombe habe? Schauen Sie, was machen wir: Wir haben Listen - etwa 150 000 - von Leuten, die seinerzeit beschuldigt wurden."

Hinter all diesen Listen stehen für Wiesenthal Schicksale, Biographien der Opfer und vor allem der Täter. Die These einer Kollektivschuld lehnt er ab, solche Pauschalisierungen hat er allzu oft auf der Gegenseite erlebt. Etwa bei Adolf Eichmann, dem Organisator der Transporte in die Todeslager, den Wiesenthal 1954 in Argentinien ausfindig macht und der 1958 in Israel vor Gericht gestellt wird:

"Da sagte Eichmann eiskalt: 100 Tote sind eine Katastrophe, eine Million Tote ist eine Statistik."

Als einziger Überlebender einer neunzigköpfigen jüdischen Familie hat Simon Wiesenthal, geboren am 31. Dezember 1908 im galizischen Buczacz, den Sinn für Gerechtigkeit nicht verloren. Diese Moral bewahrt ihn vor der Resignation im täglichen Umgang mit den Zeugnissen des Schreckens, bei Gesprächen mit den Überlebenden:

"Mir fehlt die wichtigste Komponente: Rache, Hass. Die Briefe von Leuten, die erzählen und so weiter, das ist alles Blut und Tränen. Aber wäre ich ein Hasser gewesen, hätte ich Unschuldige angeklagt."

In der Affäre um den österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim führt diese Haltung 1996 zum Zerwürfnis mit dem World Jewish Congress: Wiesenthal weigert sich, Waldheim offiziell als Kriegsverbrecher zu bezeichnen, durchkreuzt damit die Absichten linker Organisationen, stellt sich einer Medienkampagne in den Weg. Zwar nennt er Waldheim öffentlich einen "Lügner", aber für ein Gerichtsverfahren fehlt es dem "Nazi-Jäger" an beweiskräftigem Material. Und Schwarzweiß-Malerei ist seine Sache nicht:

"Ich habe auch solche dort kennengelernt, von denen ich wusste, dass sie innerlich nicht in der Partei sind. Mein Aufenthalt in der Sowjetunion zur Stalin-Zeit war die beste Vorbereitung für mich für die Nazi-Zeit: Ich habe gesehen - und ich habe unterscheiden können."

Wenig differenziert zeigen sich dagegen Kritiker, die 1996 in einem Beitrag des Fernsehmagazins "Panorama" gegen Wiesenthal zu Felde ziehen. Ein Chef des israelischen Geheimdienstes etwa, der die Mitwirkung Wiesenthals bei der Ergreifung von Adolf Eichmann in Bausch und Bogen bestreitet. Oder ein früherer Mitarbeiter Wiesenthals, der seinen Chef als eingebildet und eitel darstellt. Dagegen wehrt sich Simon Wiesenthal mit Verweis auf die vielen Fälle, in denen allein durch seine Initiative untergetauchte Naziverbrecher vor Gericht gekommen sind. Doch damit endet seine selbstgesetzte Aufgabe nicht:

"Die Verbrechen der Nazis sind derart enorm, dass sie überhaupt nicht bestraft werden können. Jeder Prozess endet mit einem symbolischen Urteil. Darum müssen wir in den Prozessen nicht nur die juridische Seite, aber auch die historische und die erzieherische Seite sehen."

Diese Arbeit führt nach Wiesenthals Tod am 20. September 2005 unter anderem das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles fort - ganz im Sinne des Mannes, der stets mehr war als nur ein "Nazijäger".

"Der ganze Wert meiner Arbeit ist eine Warnung an die Mörder von morgen, dass sie niemals Ruhe haben werden. Und dass unsere Welt so klein ist, dass sich niemand verstecken kann."