"Recht haben und Recht bekommen sind zwei Dinge"

Rüdiger Grube im Gespräch mit Matthias Thiel und Michael Groth · 10.12.2011
Rüdiger Grube ist zuversichtlich, auch nach dem Volksentscheid zu Stuttgart 21 gut mit der Landesregierung Baden-Württembergs zusammenarbeiten zu können. Bei der Höhe der Kosten will er sich nicht festlegen, allein schon, weil die Preise für das Baumaterial ständig schwankten.
Deutschlandradio Kultur: Heute mit Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben, Herr Grube, Herrn Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, nach der für Sie ja gelungenen Abstimmung über Stuttgart 21 die Freundschaft angeboten. Das ist ja eine interessante Taktik. Ziehen Sie jetzt mit den Grünen an einem Strang?

Rüdiger Grube: Wir haben uns bereits vor der Wahl zum Ministerpräsidenten getroffen und zwar auch lange vor der Landtagswahl. Wir hatten sofort einen Draht. Das liegt vielleicht auch daran, beide waren auch mal im Schuldienst. Da merkt man sofort, wenn man beruflich sich was zu sagen hat, dann ist es auch leicht auf andere Themen zu übertragen.

Ich sehe jetzt in dem Ergebnis der Volksbefragung eine große Verantwortung. Dieser Verantwortung müssen wir beide gerecht werden, denn die Bevölkerung hat mit 58% ihr klares Bekenntnis zur Infrastruktur in Baden-Württemberg ausgesprochen zu dem Bahnknoten Stuttgart 21.

Ich finde das einen sehr guten Stil von Herrn Kretschmann, dass er seine Karten vor der Landtagswahl gemischt und auch vor der Volksbefragung. Ich verlasse mich auf Herrn Kretschmann.

Wir haben immer gesagt, dass wir dialog- und arbeitsfähig bleiben. Sie haben nie gehört, dass ich Herrn Kretschmann kritisiert habe, umgedreht hat auch Herr Kretschmann meine Arbeit und meine Person nicht kritisiert. Jetzt haben wir gemeinsam eine große Aufgabe zu meistern.

Deutschlandradio Kultur: Aber Winfried Hermann, der baden-württembergische Verkehrsminister, wird nicht mehr Ihr Freund?

Rüdiger Grube: Das würde ich so nicht sagen. Erstens: Ich kenne auch Herrn Hermann schon sehr lange, nicht nur aus Stuttgart, sondern als er noch der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages war. Da haben wir ausgesprochen gut zusammengearbeitet.

Und auch heute, vielleicht sieht das manchmal in der Öffentlichkeit etwas anders aus, aber alle bemühen sich. Natürlich hat Herr Hermann bisher ganz konsequent gegen das Projekt gearbeitet. Aber auch Herr Herrmann hat uns gesagt, dass er jetzt hier konstruktiv und auch entsprechend des Projektes seiner Projektförderungspflicht, der wir ja alle vertraglich unterliegen, nachkommen wird.

Ich bin ein positiver Mensch und verlasse mich auf das Wort. Das gilt für mich, das hat eine große Bedeutung. Deshalb unterstelle ich heute, dass auch Herr Hermann das Projekt jetzt in Vollem unterstützen wird.

Deutschlandradio Kultur: Eine der offenen Fragen, Herr Grube, kann ja die Finanzierung noch werden. Kretschmann will nicht mehr als die vereinbarten 930 Millionen Euro zahlen. Reicht Ihnen das, sollte das Projekt die veranschlagten Gesamtkosten von 4,5 Milliarden dann doch überschreiten?

Rüdiger Grube: Mit den Kosten, die möglicherweise vielleicht in zehn Jahren mal entstehen, lässt sich leicht heute argumentieren. Aber mit Kosten kann ich alles heute kaputt reden. Dann dürfen Sie nicht ein einziges Infrastrukturprojekt mehr machen, denn Infrastrukturprojekte haben nun mal die Angewohnheit, dass sie lange laufen.

Unser Projekt läuft zehn Jahre. Wenn alles gut geht, sind wir 2019/2020 fertig. Sie bekommen heute für solche großen Infrastrukturprojekte keine Festpreise, zum Beispiel bei den Rohstoffen. Nehmen Sie mal den Stahl. Beim Stahl ist kein Unternehmer so sicher, dass der Preis von heute auch der Preis in zehn Jahren sein wird. Da haben Sie sogenannte Preisgleitklauseln. Deshalb werde ich einen Teufel tun und mich heute hier hinstellen, das habe ich weder vor noch nach der Volksabstimmung gesagt, dass genau exakt der Preis von 4,088 Milliarden für Bahnhofknoten rauskommt.

Deutschlandradio Kultur: Aber Kretschmann macht genau das. Kretschmann sagt, ich zahle die 930 Millionen.

Rüdiger Grube: Das ist der Disput, den wir heute haben. Ich denke, geben Sie uns einfach noch ein bisschen Zeit, da werden wir uns mehr ranarbeiten.

Das Gesamtprojekt mit 4,526 Milliarden für den Bahnknoten ist die sogenannte Schallgrenze. Wenn Kosten darüber entstehen, wobei wir uns bemühen, dass das nicht der Fall ist, aber wenn das der Fall sein sollte, ist das im Vertrag und in der gemeinsamen Erklärung, die die Vertragspartner unterzeichnet haben, ganz klar geregelt.

Da zieht man eine Sprechklausel. Dann setzen die Partner sich hin und die Partner müssen sich dann miteinander verständigen. Das, was die Grünen beziehungsweise die SPD in der Koalition vereinbart haben, spiegelt sich im Vertrag nicht wider.

Deutschlandradio Kultur: Sie rechnen also weiterhin mit einer geplanten Inbetriebnahme 2020?

Rüdiger Grube: Der ursprüngliche Plan ist 2019. Nur die bisherigen Verzögerungen durch die Schlichtung, die Volksbefragung etc. machen mich dort nicht sehr optimistisch, dass wir tatsächlich den Termin von 2019, der ohnehin schon sehr anspruchsvoll war, halten, sondern ich gehe eher davon aus, dass es 2020 wird.

Deutschlandradio Kultur: Welche Lehren ziehen Sie aus der Auseinandersetzung um diesen Bahnhof?

Rüdiger Grube: Ich persönlich habe sehr viel gelernt. Erstens, dass man nicht immer mit dem dicken Kopf durch die dicke Wand kommt, Recht haben und Recht bekommen sind zwei Dinge.

Man darf zwar auf der einen Seite nie das Ziel aus den Augen verlieren, aber ich habe gelernt, wenn man Spielräume hat, dann sollte man diese Spielräume auch aktiv nutzen, um Dinge nicht eskalieren zu lassen, sondern sie zu deeskalieren.

Das ist meine persönliche Erfahrung. Und nicht immer gleich nein sagen. Ich bin am Anfang vielleicht auch immer viel zu sehr mit der Einstellung an Themen herangegangen, das ist doch in den Verträgen gar nicht abgebildet.

Nehmen Sie die Schlichtung. Ich war am Anfang nicht besonders aufgeschlossen dieser Schlichtung gegenüber, weil ich natürlich immer den Zeitplan und auch die Kosten gesehen habe. Heute sage ich, die Schlichtung hat mit Herrn Heiner Geißler einen wesentlichen Beitrag zur Versachlichung gebracht.

Wir haben durch den Fakten-Check auch die Chance gehabt, die guten Argumente für den Bahnknoten der Bevölkerung in Baden-Württemberg näher zu bringen. Der Fakten-Check hat uns auch die Chance gegeben, dass wir Leistungsfähigkeit des Bahnhofs und des Bahnknotens nachweisen konnten.

Auch die Volksbefragung ist aus meiner Sicht eine große Chance gewesen, die ja letztendlich jetzt auch einen Schlussstrich unter die ganzen Streitereien gezogen hat, aber andererseits für mich auch einen Neuanfang ist.

Jetzt zählt eine neue Zeitrechnung. Ich rede nicht mehr über die Vergangenheit, da ist manchmal auch viel schmutzige Wäsche gewaschen worden, sondern jetzt gucken wir nach vorne, wir haben eine Verantwortung.

Meine Intention und meine Empfehlung an alle, die als Projektpartner dort gefordert sind, ist immer die, dass ich sage, die Bevölkerung schaut uns auf die Finger. Jetzt hat man sich deutlich für das Projekt ausgesprochen, jetzt müssen wir das auch realisieren. Wir wollen es ja auch realisieren. Deshalb müssen wir uns jetzt wirklich ein bisschen beeilen.

Deutschlandradio Kultur: Stuttgart 21 ist zweifelsohne kein billiges Projekt, aber immer weniger Geld fließt zum Beispiel in den Ausbau des Güterverkehrs, die Autobahnen sind verstopft. Heißt das, Sie setzen vor allem auf den Transport der Personen und weniger auf den Güterverkehr?

Rüdiger Grube: Nein, das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun, sondern wir setzen auf beides. In Deutschland betreiben wir ein Netz von 34.000 Kilometern. Das ist das größte und kompakteste Netz in ganz Europa. Dort findet der Personenverkehr und der Schienenverkehr statt – beides.

Wenn Sie heute ein Projekt wie Stuttgart 21 realisieren wollen, dann brauchen Sie – wie in diesem Projekt - fast 20 Jahre, um durch die ganzen Planfeststellungsbescheide, durch die Erörterungen, durch die Entwurfsrechnungen und dann zum Schluss auch eine Finanzierungsvereinbarung zustande zu bringen. Das sind 20 Jahre. Und das ist immer projektbezogen.

Projektbezogen heißt, wenn man so ein Projekt dann irgendwann beschließt nicht zu machen, heißt nicht, dass das Geld dann verwendet werden darf für andere Projekte. Deshalb ist das einfach eine falsche Behauptung gewesen, dass Stuttgart 21 anderen Projekten Geld wegnimmt. Das ist einfach nicht der Fall.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie steht es um die Investitionen im Güterverkehr?

Rüdiger Grube: Wenn ich heute eine Infrastruktur machen muss, dann muss ich das in fünf Ziele einteilen.

Erstens: Wir müssen in Deutschland insgesamt schneller fahren, wir haben viel zu viele Strecken, wo wir nicht mal 160 fahren dürfen, weil sie noch Bahnübergänge haben. Wir müssen nicht überall 300 oder 350 fahren, da bin ich gar kein Freund davon, aber 230 oder 280, das wäre eine gute Durchgangsgeschwindigkeit.

Zweitens: Alle Infrastrukturprojekte sollten immer beachten, dass sie schnelle und langsame Verkehre besser entflechten. Durch die Bahnknoten wie in Hannover, Fulda, Frankfurt, Nürnberg, München, Stuttgart müssen alle durch, schnelle ICEs, ICs, S-Bahnen, Schienengüterverkehre. In diesen Knoten ist es ähnlich wie heute die Flugzeuge auf dem Flughafen auf ihren Slot warten. So warten die Züge auch, um dort durchzukommen. Deshalb müssen die Knoten entknotet werden.

Für mich ist die moderne Mobilität die intelligente Verknüpfung der Verkehrsmittel. Das haben wir in Frankfurt, wo der ICE an den Flughafen fährt. Das haben wir in Köln, in Düsseldorf und Leipzig. Stuttgart wäre das fünfte tolle Beispiel, wo wir mit dem ICE an den Flughafen rankommen. Last, but not least – der fünfte Punkt, der einzahnen muss auf eine moderne Mobilität ist einfach die bessere Ausnutzung und eine höhere Effizienz des bestehenden Netzes.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir mal beim Personenverkehr bleiben. Das Kerngeschäft der Bahn liegt, so ist jedenfalls unser Verständnis, doch darin, möglichst viele Bürger mit einer Schienenanbindung zu versorgen und so von A nach B zu transportieren, und eben nicht in diesen Großprojekten. Nun haben Sie erklärt, das kann man nicht so einfach finanziell verschieben. Dennoch stellen wir ja immer wieder fest, dass kleinere Strecken stillgelegt werden, weil sie sich nicht rentieren. Wie kommen Sie mit dieser Diskrepanz zurecht?

Rüdiger Grube: Das sind zwei wichtige Punkte, die Sie ansprechen. Sie müssen zwei unterschiedliche Geschäftssysteme in Deutschland unterscheiden. Alles, was rot ist, also rote Züge, sind Verkehrsverträge, die in Deutschland von Verkehrsverbünden, von sogenannten Auftraggebern, im Wettbewerb vergeben werden. Da gewinnen wir mal, mal verlieren wir.

Alles, was weiß ist mit einem roten Strich, also der Fernverkehr, das betreibt die Deutsche Bahn eigenverantwortlich. Wenn Sie Streckenlegungen ansprechen, dann ist das keine Entscheidung der Deutschen Bahn, sondern es ist jeweils eine Entscheidung der Kommune beziehungsweise der Region. Wenn eine Strecke nicht beauftragt wird, weil sie im Verkehrsvertrag nicht mehr genutzt wird, dann ist das nicht die Entscheidung der Deutschen Bahn, sondern jeweils in der regionalen Verantwortung. Damit hat die Deutsche Bahn wirklich nichts zu tun.

Hinzu kommt ein zweites großes und wichtiges Thema: Nehmen Sie wieder Stuttgart 21. Wir haben in Baden-Württemberg elf Millionen Bürger. Wir haben eine Untersuchung in allen Stadt- und Landbezirken gemacht, dass von den elf Millionen alleine 8,6 Millionen Menschen eine Verbesserung des Regionalverkehrs erfahren.

Also von daher ist es auch hier eine falsche Behauptung, dass nur der Fernverkehr daran partizipiert. Es partizipiert der Fernverkehr, der Schienengüterverkehr und ist eindeutig eine deutliche Verbesserung des Regional- und Nahverkehrs.

Deutschlandradio Kultur: Herr Grube, kommen wir mal zum Service der Bahn. Der Fahrgastverband sagt, immer wieder defekte Toiletten, ausgefallene Speisewagen, die ICE-Züge fahren mit viel zu wenigen Wagen, weil sie kaputt sind, die Pünktlichkeit würde weit von den angestrebten 95 Prozent entfernt liegen. Ist das alles falsch, was der Fahrgastverband sagt? Und wie passt das zusammen? Gerade an diesem Wochenende haben wir die Fahrpreiserhöhung mit der Fahrplanumstellung. Wie passt das zusammen?

Rüdiger Grube: Zunächst gibt es noch vieles besser zu machen. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Die Menschen haben nach wie vor drei große Themen, denen wir uns auch persönlich sehr widmen. Das ist die gesamte Reiseinformation, das sind die Toiletten und die Pünktlichkeit.

Diesen Themen haben wir uns in einer großen Initiative gewidmet. Wir haben eine Kunden- und Qualitätsinitiative aufgesetzt. Aber wir müssen leider feststellen, wenn Sie pünktliche Verkehre machen wollen, dann brauchen Sie die Züge bzw. Züge, die auch verfügbar sind.

Nehmen Sie mal unsere ICE-Flotte. Wir haben heute 253 ICEs. Davon hat man in der Regel immer zehn Prozent der Fahrzeuge, also 25, im Puffer, wenn irgendwo mal technische Themen sind, dass man sofort Ersatzfahrzeuge hat. Diese Ersatzfahrzeuge haben wir heute nicht, weil im Juli 2008, also vor meiner Zeit, ein Achsenbruch in Köln vorgefallen ist.

Da hat man festgestellt, die Achse ist aus einem falschen Werkstoff, und die Räder sind nicht so dimensioniert, dass sie die Achsverhältnisse, die Lasten widerspiegeln. Das hat dazu geführt, dass heute ein ICE zehn bis zwölf Mal häufiger in die Werkstatt für Ultraschalluntersuchungen muss. Das entzieht uns täglich 17 Fahrzeuge.

Wenn jetzt der Winter kommt und Fahrzeuge sind total vereist, dann brauchen wir teilweise fünf bis 13 Stunden, um ein Fahrzeug zu enteisen, weil die Ultraschalluntersuchungen dürfen nur bei plus fünf Grad und mehr gemacht werden.

Deutschlandradio Kultur: Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche, auf den Winter kommen wir gleich. Aber wie passt das dann zusammen, jetzt auch die Fahrpreise zu erhöhen, wenn zum Beispiel durch den Winter oder durch andere Wartungen mehr Wagen in der Werkstatt stehen müssen, sich gleichzeitig die Schlangen in den Reisezentren verlängern? Wie passt das zusammen, jetzt die Preise zu erhöhen?

Rüdiger Grube: Sie haben jetzt viele Behauptungen aufgestellt, die so nicht zutreffen. Beispielsweise wenn Sie von den langen Reihen in den Reisezentren sprechen, das beobachten wir sehr genau. Wir befragen Tausende von Kunden und wir haben eine sehr, sehr hohe Kundenzufriedenheit in unseren Kundenzentren, also da wäre ich ein bisschen vorsichtig mit dieser Behauptung.

Das zweite Thema sind noch mal die Züge. Bei den Zügen ist es leider so, dass diese heute nicht zur Verfügung stehen. Wenn Sie heute einen Zug bestellen, dauert das in Deutschland fünf Jahre.

Wir haben in diesem Jahr den größten Auftrag platziert, der jemals überhaupt in der deutschen Industrie an ein anderes deutsches Unternehmen vergeben wurde, nämlich der Kauf von 300 Zügen, ein Auftrag von über 10,3 Milliarden.

Diese 300 Züge, die wir ICX nennen, sollen die IC-Flotte mal ersetzen. Aber alleine die Zulassung von solch einem Zug dauert in Deutschland offiziell nach dem Eisenbahn-Bundesamt 48 Monate.

Das heißt, wir haben vieles angepackt, aber ich kann auch nicht hexen, unsere Mitarbeiter auch nicht. Es dauert leider seine Zeit, weil alles zugelassen werden muss.

Ich muss sagen, ich bin sehr naiv zur Bahn gekommen. Ich habe gedacht, na ja, da hast du Autos gebaut, du hast ein Unternehmen mit 100 Milliarden – Daimler – mitgeführt als Vorstandsmitglied, ich habe die Europäische Luft- und Raumfahrt mit aufgebaut, ich war der Verwaltungsratsvorsitzende bis zum Schluss von Airbus, von Eurocopter, der europäischen Luft- und Raumfahrtgesellschaft EADS, und habe sicherlich viel Komplexität in meinem Leben kennengelernt.

Aber ich muss sagen, ich bin völlig arrogant in das Geschäft hierhin gekommen, weil ich geglaubt habe, diese Unternehmen hast du geführt, dann wirst du die Deutsche Bahn auch noch führen können. Nach vier Wochen habe ich erst erkannt, wie komplex das Schienensystem funktioniert, das rollende Rad mit der Infrastruktur und – und – und, dann die Wettbewerbssituation, dann dieses komplexe Netz, das wir in Deutschland betreiben. Ich muss sagen, da habe ich richtig Respekt und eine hohe Wertschätzung unseren Mitarbeitern gegenüber bekommen.

Deutschlandradio Kultur: Wo liegt denn das größere Problem, Herr Grube? In der Industrie, die nicht genug produziert und nicht schnell genug liefert, oder in der Bürokratie, die immer noch eine Prüfung möchte, die diesen Auslieferungs- und Inbetriebnahmeprozess verzögert?

Rüdiger Grube: Es ist eine Kombination aus beidem. Auf der einen Seite sind wir häufig nicht mit der Qualität zufrieden. Wir sind auch nicht mit der Lieferqualität zufrieden. Das heißt, die angegebenen Liefertermine werden größtenteils nicht eingehalten.

Auf der anderen Seite müssen wir aber auch den Herstellern zugestehen, dass sie sehr aufwendigen Prozessen ausgesetzt sind. Nehmen Sie zum Beispiel das Thema der Elektrofahrzeuge, der Talent 2, der von Bombardier gebaut wird. Den sollten wir eigentlich seit 2009 in Betrieb haben, derzeit hätten über 180 Züge davon im Regionalverkehr im Einsatz sein sollen. Bisher fährt nicht ein einziger Zug.

Wenn alles gut geht, übernehmen wir jetzt die ersten 18 bis 22 Züge für Nürnberg, aber Sie sehen, wir sind hier drei Jahre im Verzug und müssen mit altem Material die Verkehre fahren.

Das löst Ärger aus, das löst auch Probleme bei der Zugverfügbarkeit aus. Das wiederum fordert unsere Mitarbeiter. Unsere Mitarbeiter müssen häufig den Buckel für Dinge hinhalten, für die sie gar nicht zu verantworten sind. Das gefällt uns überhaupt nicht und ich stelle mich hier voll vor unsere Mitarbeiter. Wir haben einfach im wahrsten Sinne des Wortes die Schnauze voll, dass unsere Mitarbeiter pausenlos sich der Kritik aussetzen müssen, dass Dinge nicht funktionieren, einfach weil sie nicht ordentlich vom Hersteller geliefert werden.

Deutschlandradio Kultur: Gleichzeitig expandieren Sie aber auch in Europa. Sie werden in Stockholm die Straßenbahn betreiben. Ist das in Zeiten der wirtschaftlichen Krise eigentlich noch sinnvoll? Oder wäre es nicht sehr viel wichtiger, hier in Deutschland zu investieren?

Rüdiger Grube: Man muss erkennen, dass die Märkte in Europa sich öffnen, sie werden liberalisiert. Wir sind in Deutschland das Land mit den meisten Wettbewerbern. Nehmen Sie Wettbewerber aus Frankreich, die heute schon außerhalb Frankreichs über 3 Milliarden Umsatz machen.

Dagegen ist die Deutsche Bahn in der Vergangenheit, was Europa betrifft, nicht gut aufgestellt gewesen, insbesondere im Regionalverkehr. Da haben wir nur 250 Millionen gemacht. Wenn wir weiterhin an der Zukunft teilhaben wollen, dann müssen wir uns auch hier neu aufstellen.

Ich bin sehr stolz, die Deutsche Bahn ist das einzige Unternehmen in Europa mit Eisenbahn-Aktivitäten, die wirklich sogar in der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 gutes Geld verdient hat und gleichzeitig auch noch Schulden abgetragen hat.

Wir haben ein großes Investitionsprogramm aufgesetzt. Wir werden in den nächsten fünf Jahren fast 50 Milliarden Euro investieren, davon gehen über 36 Milliarden in die deutsche Infrastruktur und für fast 14 Milliarden kaufen wir neue Züge.

Deutschlandradio Kultur: Ich würde gerne noch mal auf die aktuellen Preiserhöhungen zurückkommen. Da hört man natürlich auch immer wieder, dass es teurer wird, weil die Energie teurer wird. Verteuert die Energiewende den Bahnverkehr?

Rüdiger Grube: Die Energiewende hat uns eine zusätzliche Last von ca. 100 Millionen in diesem Jahr beschert. Die Deutsche Bahn ist das Unternehmen mit der größten Energierechnung, wenn ich das mal kurz sagen darf. Wir haben einen Energieverbrauch wie die Stadt Berlin oder Hamburg von ungefähr zwölf Terrawattstunden. Die Energierechnung insgesamt umfasst 2,5 Milliarden Euro.

Wenn Sie sich den Energiesplit anschauen, dann kommt circa 47 Prozent aus der Kohle, 22 Prozent in der Vergangenheit Kernenergie. Wir haben heute bereits 20 Prozent den Einsatz von regenerativen Energien und 9 Prozent oder 10 Prozent Erdgas. Durch die Abschaltung von Neckarwestheim I sind 8 Prozent an Kernenergie rausgegangen. Dadurch haben wir den größten Vertrag mit der RWE in diesem Jahr unterzeichnet für die Lieferung von jährlich 900 Millionen Kilowattstunden an Wasserkraft. Das ist ein Auftrag von allein 1,3 Milliarden.

Und das bringt uns schlagartig zu einer deutlichen Verbesserung. Wir werden bereits in 2014 28 Prozent regenerative Energien einsetzen. Wir haben uns vorgenommen, bis 2050 soll alles völlig CO2-frei regenerativ betrieben werden.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind als Bahnchef angetreten, um die Kommunikation auch zu verbessern. Sie haben sich sogar, habe ich jedenfalls gelesen, für die schlechten Beziehungen zum Verkehrsausschuss des Bundestags vor Ihrem Amtsantritt, dann nach Ihrem Amtsantritt 2009 entschuldigt. Herrscht denn inzwischen ein offenerer Umgang zwischen der Bahn einerseits und den politischen Kontrolleuren auf der anderen Seite und auch den Kunden?

Rüdiger Grube: Ja. Ich denke, hier können wir wirklich auch mit ein bisschen Stolz sagen, dass wir die Kommunikation zwischen den Stakeholdern wesentlich verbessert haben.

Auf der Seite Kunde lässt sich sicherlich noch einiges besser machen, aber mit der Politik ist es heute so, wie es sein soll, da gibt es aus meiner Sicht nichts. Wir haben einen intensiven Austausch mit allen Parteien, die im Deutschen Bundestag sitzen, auch mit der Politik. Ich denke, das ist ein völlig normales, professionelles Verhältnis.

An der Kundenfront kann man nie gut genug sein, da muss man immer noch besser werden wollen. Ein Thema ist zum Beispiel die Reiseinformation, wo ich heute nicht zufrieden bin. Das ist ein großes Feld, wo wir in den nächsten Jahren viel Geld investieren, um dort wirklich Benchmark zu werden.

Deutschlandradio Kultur: Wie oft fahren Sie selbst mit der Bahn? Vor allen Dingen unangemeldet, ohne dass es alle wissen?

Rüdiger Grube: Unangemeldet kommt seltener vor. Aber ich fahre bestimmt im Durchschnitt einmal am Tag Bahn. Natürlich mache ich das heute auch ganz bewusst am Wochenende. Aber ich bin ganz ehrlich, ich kann bei meinem Terminkalender leider nicht alles mit der Bahn machen. Ich nutze genau so gut das Auto, das Flugzeug, aber natürlich vorwiegend die Bahn.

Ich bin ein großer Anhänger der integrierten Mobilität. Das wird aus meiner Sicht auch das nächste Jahrhundert kennzeichnen. Das letzte Jahrhundert galt dem Automobil, das kommende Jahrhundert der integrierten Mobilität. Das heißt für mich die intelligente Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsmittel, das wird die Zukunft sein.

Deutschlandradio Kultur: Ich würde gerne zum Schluss noch einmal den Blick zurückwerfen. War denn der Börsengang – von heute betrachtet – so was wie die Mutter vieler Probleme?

Rüdiger Grube: Erstens steht mir das nicht zu, zweitens hat der Börsengang für mich im Moment keine Bedeutung, weil ein Börsengang nie ein Selbstzweck sein darf. Man geht an die Börse, weil man nicht genügend Liquidität hat, weil man wachsen will und der Eigentümer die Liquidität nicht zur Verfügung stellt oder weil man die Schulden abzahlen will.

Wir sind glücklicherweise, ich sagte es eingangs schon mal, in der Situation, dass wir aus unserer eigenen Liquidität, die wir haben, den Betrieb und alle betriebsnotwendigen Investitionen tätigen können, sodass ich mir da im Moment keine Sorgen mache.

Mein Hauptaugenmerk liegt zurzeit darauf, dass ich in Deutschland das Brot- und Butter-Geschäft besser mache. Ich hätte gar keine Zeit. Stellen Sie sich mal vor, wir würden jetzt einen Börsengang machen! Dann müsste ich in der ganzen Welt herumtingeln und Investoren erzählen, warum es richtig ist, bei der Deutschen Bahn zu investieren. Dann würde man mich aus meiner Sicht zu recht auch abstrafen, als Kunde in Deutschland. Deshalb lege ich mein ganzes Augenmerk auf den deutschen Bahnverkehr, natürlich auch auf die anderen Aktivitäten, aber dort haben wir als Vorstand einen ganz besonderen Schwerpunkt gesetzt.

Wir haben insgesamt drei große Initiativen gestartet: die Kunden- und Qualitätsinitiative, die Investitionsinitiative mit 46 bis 50 Milliarden in den nächsten fünf Jahren, und wir haben eine Technologie- bzw. eine Technik-Initiative gestartet, dass wir nämlich einen Technikbereich wieder aufgebaut haben, der heute auch im Vorstand abgebildet wird, um die vielfältigen Herausforderungen, die wir haben, einfacher in den Griff zu bekommen, Lösungen zu erarbeiten und die auch spürbar dem Kunden zugänglich zu machen.
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