Recherchen in der eigenen Verwandtschaft

Von Stefan Keim · 08.12.2005
Im Kino und auf dem Büchermarkt gibt es einen Tendenz zur ganz persönlichen Art der Geschichtsschreibung. Neu in den Kinos ist der Dokumentarfilm "Winterkinder - Die schweigende Generation" von Jens Schanze. Sein Großvater war Naziaktivist. Der Enkel nimmt sich Zeit für Fragen an Eltern und Geschwister.
"Opa war kein Nazi". So heißt eine Untersuchung von Forschern um den Sozialpsychologen Harald Welzer. In vielen Interviews fanden sie heraus, dass die meisten Deutschen ihre Eltern und Großeltern während des Nationalsozialismus als Opfer und Widerstandskämpfer sehen. Und dass der emotionale Zugang über die eigene Familiengeschichte führt, nicht über Geschichtsbücher oder Fernsehdokumentationen.

Recherchen in der eigenen Verwandtschaft spiegeln also viel genauer, was Menschen über die Nazi-Diktatur empfinden. Vor einem halben Jahr startete in den Kinos Malte Ludins Dokumentation "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß". Ein harter und zugleich feinfühliger Film eines Regisseurs, der die direkte Auseinandersetzung nicht scheut.

Ludins Vater war SA-Mann und Kriegsverbrecher und zu Hause ein liebevoller Familienmensch. Nun hat Jens Schanze mit dem Film "Winterkinder" eine ähnliche Recherche unternommen, aber viel ruhiger, sanfter, zurückhaltender. Sein Großvater war Naziaktivist, hielt Reden, gab Seminare, schulte die Jugend und starb 1954 nach einem Autounfall.

Jens Schanze nimmt sich Zeit, es dauert, bis seine Mutter ein Foto geholt hat, bis sie, ihr Mann und ihre Kinder die richtigen Worte finden. Wahrheit lebt in den Pausen, es geht Jens Schanze nicht um Antworten, sondern um den Weg dorthin.

Ausschnitt aus dem Film: " Als du vor vier Jahren das erste Mal hier in Posen warst, hast du danach geschrieben, dass du gerne mit deinen Eltern sprechen würdest. Warum? – Ja, weil ich wissen wollte, ob sie das gewusst haben. Dass hier so´n Lager war. – Was glaubst du? – Dazu kann ich nichts sagen. Natürlich möchte ich glauben, dass sie es nicht wussten."
Vielleicht mussten 60 Jahre vergehen, bis eine ehrliche Erinnerung möglich ist. Denn man spürt immer noch die Verletzungen bei der Frage, wie weit die eigenen Eltern und Großeltern in die Naziverbrechen verstrickt waren.

Die Filmemacher und Autoren suchen keine ideologische Konfrontation wie sie in den sechziger und siebziger Jahren üblich war. Sie fragen ruhig, mitfühlend und auf sympathische Weise beharrlich.

Zum Beispiel Thomas Medicus. Sein Großvater war Generalmajor der Wehrmacht und wurde 1944 von Partisanen erschossen. Das Buch heißt "In den Augen meines Großvaters". Oder Wibke Bruhns, die ihrem Vater nachspürt, der erst gläubiger Nazi war, dann zu den Mitwissern des Attentates auf Hitler zählte und hingerichtet wurde. "Meines Vaters Land" hat sie ihr Buch genannt. Gemeinsam ist allen Filmen und Büchern, dass Menschen Dinge erzählen, die sie viele Jahrzehnte in sich vergraben haben. Und dass die Autoren reisen, an die historischen Orte und dorthin, wo die alten Leute leben.

Knut Elstermann ist in die USA geflogen, zu einer Freundin seiner Großmutter. Die Jüdin Gerda hat ihr Baby in Auschwitz verloren, der berüchtigte KZ-Arzt Mengele ließ es in ihren Armen verhungern. "Gerdas Schweigen" heißt das Buch, an dessen Ende der Satz steht "Was ausgesprochen werden kann, ist gesagt worden."

Das Gespräch mit Dokumentarfilmer Jens Schanze können Sie bis zu acht Wochen nach der Sendung in unserem Audio-On-Demand-Player hören.