Recay Halac: Ein Schock, der die Herzen der Türken geöffnet hat

Recay Halac im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Im Januar 2007 wurde der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink auf offener Straße erschossen. Er hatte sich für eine Annäherung von Türken und Armeniern eingesetzt. Seine Schriften seien erst nach seinem Tod in der Türkei wirklich bekannt geworden, sagt der Autor Recay Halac. Hrant Dinks Buch "Von der Saat der Worte" ist nun auf Deutsch erschienen.
Liane von Billerbeck: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 ist in der Türkei für viele ein Tabuthema. Einer, der offen darüber gesprochen und geschrieben hat, war der Schriftsteller Hrant Dink. Im Ausland vielfach ausgezeichnet, wurde er in seinem Heimatland wegen Verunglimpfung des Türkentums vor Gericht gestellt, in Mails und Briefen vielfach bedroht. Vielleicht töten sie mich, hatte er noch im Januar 2007 zu seinem Anwalt gesagt. Kurz danach fühlte sich ein junger Mann von der Pogromstimmung getragen und erschoss Hrant Dink auf offener Straße. Der Traum von der türkisch-armenischen Annäherung schien danach ausgeträumt, die Türkei stand unter Schock. Wie tief dieser Schock ging und welche gesellschaftlichen Debatten nach dem Mord an Hrant Dink in seinem Heimatland geführt wurden, das wollen wir jetzt von Recay Halac wissen, der Autor und Schauspieler kannte Hrant Dink gut und war zudem sein Übersetzer. Mit ihm bin ich jetzt in München verbunden. Ich grüße Sie!

Recay Halac: Guten Tag!

von Billerbeck: Wenn wir uns an die Zeit vor dem Mord an Hrant Dink im Januar 2007 erinnern, wie war die Stimmung damals in der Türkei?

Halac: In der Türkei ist auch vor dem Mord eine Pogromstimmung entstanden. Da hat auch die Presse sehr viel mitgewirkt. Da spielt natürlich auch eine Rolle, dass die Kinder in der Türkei schon in der Schule "lernen", in Anführungszeichen, dass die Armenier die Türken damals während des Ersten Weltkrieges verraten haben. Und so wachsen viele Menschen oder fast alle in der Türkei mit dem falschen Wissen auf, sie seien ein trojanisches Pferd in der Türkei und unseren inneren Feinde. Und das hat diese Pogromstimmung erleichtert. Es hat es auch erleichtert, dass Hrants Aussagen verfälscht wiedergegeben wurden in der Presse und zu allem Überfluss hat auch der Generalstabschef sich eingemischt in diese Debatte und hat ihn - vielleicht nicht so offen gesagt -, aber als Feind der Türken bezeichnet, sodass eigentlich sehr viele, die ihn nicht kannten, die seine Schriften nicht gelesen hatten, in ihm einen Feind der Türken gesehen haben.

von Billerbeck: Nun gibt es immer einen Täter und es gibt Hintermänner. Wer waren die?

Halac: In der Türkei ist es seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten so, dass diese Hintermänner einmal aus pantürkischen oder, man kann auch sagen, türkisch-faschistischen Gruppierungen bestehen, die sich die Aufgabe machen, diejenigen zu bestrafen, die der für sie viel zu liberale Staat nicht bestraft. Aber das Schlimme ist, dass diese Gruppen, Gruppierungen auch Verbindungen zu der Polizei und zu dem Militär haben, sodass dieser sogenannte tiefe Staat sich da auch mitmischt.

von Billerbeck: Morddrohungen haben auch andere Schriftsteller und Intellektuelle erhalten, Pamuk beispielsweise. Wie ist denn die türkische Gesellschaft mit dem Mord an Hrant Dink umgegangen? Was hat dieser Mord auch in intellektuellen Kreisen für Debatten ausgelöst?

Halac: Zuerst, wie Sie auch gesagt haben, war das ein großer, ein tiefer Schock für die türkische Gesellschaft. Damit hat eigentlich niemand gerechnet, obwohl diese Pogromstimmung schon da war. Und nach dem Mord an Hrant ist etwas Unglaubliches passiert. Hunderttausende von Menschen, niemand hat sie wirklich zählen können, sind mit Transparenten über die Straßen gelaufen, nur auf der einen Seite auf Türkisch, auf der anderen auf Armenisch stand: "Wir sind alle Hrant. Wir sind alle Armenier." Als diese Initiative kam, hat man auch nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen mitmachen würden. Da hat man geglaubt, es wird wahrscheinlich eine Gruppe von ein paar Hundert Menschen sein, die das tun. Aber tatsächlich haben das Hunderttausende gemacht. Und man hat auf den Straßen von Istanbul weinende Frauen mit Kopftüchern gesehen, die um Hrant getrauert haben und die ihn wie ihren eigenen Sohn angenommen haben, wie gesagt, die ihn vorher auch gar nicht gekannt haben. Dieser tiefe Schock hat auch bewirkt, dass in der Türkei, in der türkischen Presse nicht nur unter den Intellektuellen zum ersten Mal offen diskutiert wurde über den türkischen Rassismus mit diesem Begriff auch, zum ersten Mal auch über den falschen Schulunterricht diskutiert wurde. Nach dem Mord an Hrant ist die Zahl der Abonnenten der Zeitung "Agos", die er herausgegeben hat, um ein Vielfaches gestiegen. Da haben die Menschen, sehr viele Menschen in der Türkei erkannt, dass seit der Gründung der Republik ein großer Fehler gemacht worden ist.

von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur, über den Traum von der türkisch-armenischen Annäherung sprechen wir mit Recay Halac, dem Übersetzer des im Januar 2007 in der Türkei ermordeten Schriftstellers Hrant Dink. Wenn die Türken und Armenier sich streiten, dann sollten sie immer bedenken, dass sie die gleichen Wurzeln haben. Diesen Satz hat Hrant Dink mal gesagt. Ist das inzwischen eine Erkenntnis, die tatsächlich auf breiter Basis fußt in der Türkei?

Halac: Auf breiter Basis noch nicht. Ich sehe es in der Türkei kommen. Vor allem ist ein großes Interesse, eine große Neugier an dem Armenischen, das sieht man vor allem in den Geschäften, wo CDs verkauft werden. Ich spreche jetzt von Istanbul, noch nicht von den kleinen Städten in Anatolien. In diesen Geschäften gab es schon immer eine Weltmusikabteilung. Es gab in den letzten Jahren eine größere Abteilung für kurdische Musik. Und wenn man heute in diese Geschäfte reingeht, dann wächst immer weiter die Abteilung für armenische Musik. Die Türken machen die Bekanntschaft mit dem armenischen wunderbaren Musikinstrument Duduk. So entdecken sie langsam und immer mehr, dass die Musik sich ähnelt, dass die Speisen sich ähneln, dass die Art, das Leben wahrzunehmen, sich ähnelt. Aber das ist ein Prozess, der noch ganz langsam im Gange ist.

von Billerbeck: Die Türkei steht ja auch im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse, die in wenigen Tagen beginnt. Welche Rolle spielt denn Armenien, die armenische Literatur innerhalb der türkischen Literatur?

Halac: Noch keine große. Das Interesse ist da. Sofern ich weiß, ist auch das große Interesse an dem Buch da, an dem Buch, das jetzt auch in Deutschland erscheint mit den Schriften von Hrant Dink. Aber armenische Schriftsteller, die armenische Literatur sind in der Türkei noch weitgehend unbekannt. Das muss noch kommen.

von Billerbeck: Dieses Buch heißt "Von der Saat der Worte" von Hrant Dink und darin sind seine Texte, und das ist eben gerade auf Deutsch erschienen, wie Sie es gesagt haben. Ist das in der Türkei auch so wahrgenommen worden als ein wichtiges Buch?

Halac: Auf jeden Fall. Das hat inzwischen breite Kreise in den Bann gezogen, dieses Buch. Hrant wurde erst nach seinem Tod in der Türkei bekannt, auf einmal bekannt, auf Anhieb bekannt. Die Fernsehsender in der Türkei haben die ganze Nacht über Hrant Dink gesendet. Und dieser Schock hat auch die Herzen der Türken aufgemacht, sodass sie diesen Menschen erst mal lieben gelernt haben und danach kam die Neugier. Und jetzt ist diese Neugier noch da, nicht mehr so lebendig wie in den ersten Tagen nach dem Mord, auch deswegen nicht mehr so lebendig, weil die Türkei in einer großen Krise steckt, die vor allem in dem Kampf zwischen Kemalisten und Nichtkemalisten besteht. Das beschattet die Selbstreflexion der Türken heute.

von Billerbeck: Recay Halac war bei uns im Gespräch über die gesellschaftlichen Folgen des Mordes an dem armenisch-türkischen Schriftsteller Hrant Dink. Ich danke Ihnen!

Halac: Ich danke auch.

von Billerbeck: Das Buch mit Texten von Hrant Dink ist übrigens im Hans Schiler Verlag erschienen, heißt, hier noch mal der Titel, "Von der Saat der Worte". Und heute Abend können Sie hier im Programm eine Literatursendung über Armenien in der türkischen Literatur hören. Autorin ist Susanne Güsten, Beginn 19:30 Uhr.

Programmtipp: Das Feature "Solange wir nicht gemeinsam geweint haben ... - Armenien in der türkischen Literatur" hören Sie in Deutschlandradio Kultur in der Sendung Literatur am 30. September 2008 um 19:30 Uhr.