Infodemie als Seuche der Zukunft

Rebellische Halbbildung

04:47 Minuten
Plakat mit einer Zeichnung von Donald Trump, der Desinfektionsmittel trinkt.
In der Corona-Pandemie sind Verschwörungstheorien und gezielte Desinformation regelrecht explodiert, sagt Medienwissenschaftler Roberto Simanowski. © Unsplash / Mika Baumeister
Ein Kommentar von Roberto Simanowski · 18.01.2021
Audio herunterladen
Corona hat das Virus der Verschwörungstheorie voll zum Ausbruch gebracht. Medienwissenschaftler Roberto Simanowski sieht dahinter die Sehnsucht nach einer Geschichte – im Gegensatz zu reiner Informiertheit. So wird das Unglaublichste glaubhaft.
Die Infodemie wurde erstmals 2003 im Umfeld der SARS-Epidemie diagnostiziert. Es handelt sich um eine höchst ungesunde, höchst ansteckende Mischung aus Fakten, Gerüchten, Ängsten, Bedürfnissen und Propaganda. Eine Mischung, die vorrangig durch die sozialen Medien befördert wird, als alternative Wahrheit zu dem, was die öffentlich-rechtlichen Medien, also der "Staatsfunk", verbreiten.
Das Ergebnis sind nicht selten Theorien, die hinter der offiziellen Sicht der Dinge weitverzweigte und tiefgreifende Verschwörungen aufdecken. Also ein bisschen wie investigativer Journalismus, wenn auch ohne dessen methodischen Rigorismus.

Eine punktuelle, unverbundene Informiertheit

Aber im Ernst: Verschwörungstheorien sind im Grunde nichts anderes als die ungewollten Kinder der Aufklärung und der Verachtung, mit der die Kritische Theorie einst auf das obrigkeitsgläubige Staatsvolk schaute. Was wollte man gegen den Spruch der Verschwörungstheoretiker einwenden: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"? Warum ist das, was zur Grundausrüstung des aufgeklärten, kritischen Bürgers gehört, jetzt so problematisch wie das Covid-Virus? Was ist da schief gelaufen?
1959 beschreibt Theodor Adorno in seiner "Theorie der Halbbildung" diese als "punktuelle, unverbundene Informiertheit", als ein "urteilsloses ‚Das ist‘"-Wissen. Medienphilosophisch betrachtet entspricht dies dem fotografischen Zugang zur Welt, der das Hier und Jetzt relativ urteils- und gedankenlos verbucht – im Unterschied zum narrativen Zugang, der die verschiedenen Elemente und Ereignisse zu einem sinnvollen Ganzen verwebt.
Verschwörungstheoretiker begnügen sich nicht mit der Halbbildung von gestern. Sie wollen keine Fotos, sie wollen eine Geschichte.
Wenn sich dem Subjekt der Spätmoderne schon die Elemente des eigenen Lebens nicht mehr sinnvoll als planvoll Ganzes erzählen lassen, will es zumindest den Elementen der Außenwelt eine narrative Kohärenz abringen. Darin liegt der Reiz der Verschwörungstheorie: Sie entdeckt im scheinbar Unverbundenen die verborgene Verkettung; nichts ist Zufall, nichts geschieht ohne Absicht – und man selbst deckt alles auf. So lässt sich der allgemeine Kontrollverlust zumindest etwas kompensieren.

Millennials kaum interessiert an Verschwörungstheorien

Diese Sehnsucht nach Sinn und Kohärenz gilt allerdings eher für die Babyboomer und die Generation X. Die Millennials interessieren sich wenig für Verschwörungstheorien. Sie kompensieren den Mangel an narrativer Einheit dadurch, das Hier und Jetzt ihres Lebens permanent im sozialen Netzwerk zu teilen – mit der Das-ist-Geste des Snapshots, wie in Adornos Theorie der Halbbildung, nun, als Snapchat, jedoch geadelt durch Interaktion.
So sind die Millennials auch vor dem logischen Fehlschluss gefeit, der dem Verschwörungstheoretiker immer wieder passiert, wenn er die Cui bono-Frage stellt: Wem nützt es? Denn es stimmt zwar, dass die Pharmaindustrie von der pharmazeutischen Bekämpfung einer Pandemie profitiert. Aber rechtfertigt das den Umkehrschluss, dass sie die Pandemie verursacht hat? Man solle es eigentlich vom Sonntagskrimi wissen: Nicht jeder, der ein Motiv hat, ist auch der Mörder.

Misstrauen gegen das offizielle Wissen

Die Coronapandemie hat das Virus der Verschwörungstheorie voll zum Ausbruch gebracht. Der Bürger, so zeigt sich nun, will alles andere sein als gutgläubig und obrigkeitshörig. Sein Misstrauen gegen das offizielle Wissen beruht auf dem richtigen Gedanken, dass die herrschende Meinung immer die Meinung der Herrschenden ist, der sich dann aber durch keinen zweiten irritieren lässt.
Dieser Geiz im Denken führt dazu, dass man am Ende das Unglaublichste glaubt, so lange es nur nicht das Offizielle ist. Halbbildung heute ist nicht weniger lückenhaft als früher, aber viel rebellischer. Darin liegt ihre Gefahr gegenüber dem, was Adorno vielleicht etwas vorschnell kritisierte. Eine Gefahr für die Demokratie.
Das Virus der Infodemie ist deswegen so heimtückisch, weil es sofort die Mittel seiner Bekämpfung befällt: Jede Information, die gegen das Ökosystem der Verschwörungstheorien eingesetzt wird, ist immer schon mit ihm infiziert und mutiert zu einer "Fake News" der "Lügenpresse".
Anders als beim epidemiologischen Abwehrkampf gibt es beim infodemiologischen Abwehrkampf keine praktikablen Schutzmaßnahmen, keinen Impfstoff, keine Maske. Nicht einmal die Option des Lockdowns besteht, will man nicht wie China das Internet durch eine große Firewall kontrollieren. Die Infodemie ist die Pandemie der Zukunft.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

© privat
Mehr zum Thema