Rebellion als Lifestyle-Frage

Rezensiert von Tobias Rapp |
Tilmann Rammstedts zweiter Roman "Wir bleiben in der Nähe" erinnert an französischen Existenzialismus der fünfziger Jahre. Mit der französischen Atlantikküste als Lokalkolorit erzählt Rammstedt eine Dreiecksgeschichte, die die existenzielle Leere der postmodernen Existenz aufzeigt.
Es geht gut los: "Auch das Meer ist nicht gut in Entscheidungen" heißt der erste Satz von Tilman Rammstedts neuem Roman "Wir bleiben in der Nähe", und im Grunde ist darin fast alles eingekapselt, wovon die kommenden 240 Seiten handeln werden.

Ein Mann steht am Strand und muss eine Entscheidung fällen und er sträubt sich dagegen. Felix ist sein Name, ein Arzt aus Berlin um die Dreißig, auf das Meer blickt er von der französischen Atlantikküste aus und entschieden werden muss, wie es nun weitergeht: Er und sein Freund Konrad haben nämlich ihre alte Freundin Katharina entführt. Diese wollte heiraten, ausreden ließ sie es sich nicht, also wurde sie kurzerhand betäubt und ins Auto gelegt. Nun sitzen die drei in Frankreich und wissen nicht mehr weiter, Katharina ist bereit, auf die Heirat zu verzichten, sofern ihr die Entführer einen Vorschlag für ein besseres Leben unterbreiten können.

Eine Dreiecksgeschichte ist die Vorgeschichte: Konrad, Felix und Katharina kennen sich noch aus dem Sandkasten, irgendwann sind Konrad und Katharina aber ein Paar und kurz darauf fängt sie auch etwas mit Felix an, ohne das Konrad es weiß. Eine Dreiecksgeschichte, die scheitert. Irgendwann ist Katharina einfach weg - bis sie sich mit der Ankündigung ihrer Hochzeit wieder meldet.

Man merkt schon: Hier wird mit Chiffren aus dem Frankreich der Fünfziger und Sechziger Jahre gespielt: das Ferienhaus am Meer, die komplizierten psychosexuellen Verwicklungen. Aber auch der philosophische Unterton des Textes: Ist nicht die Schwierigkeit, seinem Leben über Entscheidungen Sinn zu verleihen, das Grundproblem, woraus der französische Existenzialismus große Gedankengebäude konstruiert hat?

"Wir bleiben in der Nähe" ist der zweite Roman des jungen Berliner Autors und Musikers der Gruppe "Fön" Tilman Rammstedt. Ein ehrgeiziges Buch: denn der Ton ist locker, mit leichter Hand werden die intellektuellen Abschweifungen seines Protagonisten in einen perlenden Gedankenstrom übersetzt, das Thema aber, die existenzielle Leere der postmodernen Existenz, ist schwer und ernst.

"Lass uns in die Ukraine gehen", schlägt Felix irgendwann vor, er hat eine Zeitung in der Hand, worin die Bilder der friedlichen Revolution zu sehen sind. Da will er hin, dort gehe es den Menschen noch um was.

Natürlich fahren sie dann doch nicht, aber der kleine Satz umreißt nicht nur das Dilemma der Protagonisten, er steht auch für das Problem des Romans selbst. Denn die Frage nach der Entscheidung im Existenzialismus war eine politische Frage. Doch weder Rammstedt noch seine Protagonisten können sie als solche begreifen, für sie ist es eher eine Lifestyle-Frage. Deshalb geht die Geschichte nicht richtig auf, bleibt sie in der Postadoleszenz-Rebellion hängen.

Und was dem Buch als philosophischem Roman fehlt, macht er auch als psychologischer Roman nicht so ganz wett. Die Charaktere werden aus ihrer gemeinsamen Geschichte heraus zwar sehr glaubwürdig entwickelt, doch dann fehlt der Sex. Die zwei Jungs entführen ihre gemeinsame Exfreundin, die findet Gefallen daran - und dann gehen sie nicht miteinander ins Bett? Man muss kein Vorabendfilmemacher sein, um sich darüber zu wundern.

Tilman Rammstedt: Wir bleiben in der Nähe
DuMont Verlag, Köln 2005.
240 Seiten, 19,90 Euro.