Reales jüdisches Leben

Von Jens Rosbach · 05.06.2012
Seit Anfang der Neunzigerjahre sind rund 200.000 jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Doch wer weiß schon, was ihre russisch-jüdisch-deutsche Identität ausmacht? Darum geht es auch beim Jüdischen Filmfestival in Berlin und Potsdam.
Eine Straßenumfrage in Freiburg, Stuttgart, München: Was fällt Ihnen zum Thema Juden ein?

"Juden - scheiße, Alter! Juden – was soll ich sagen? Phhh ... wurden mal vergast, ja. /Verfolgung, Holocaust, ja, KZ. Was soll da noch sein?/ Juden – keine Ahnung. Die sind geizig!/Ich mag keine Juden, ich bin Moslem, ich hasse die./Ich denke mal, das bestimmt die Hälfte von denen, die in Deutschland wohnen, Juden sind./Nein! Ich denke nicht, dass es Juden gibt in Deutschland."

So beginnt der Dokumentarfilm Jew.de.ru - mit Aussagen, die jede Menge Unwissen, Vorurteile und Abneigung widerspiegeln. Dann zeigt der Streifen das reale jüdische Leben in Deutschland. Und zwar anhand von drei sympathischen Protagonisten. Sie sind zwischen Mitte 20 und Anfang 30 - und stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Familien sind in den 90er-Jahren ausgewandert. Die Kinder, wie S. N. (Name der Redaktion bekannt) aus Kirgisien, wurden damals nicht gefragt.

S. N.: "Für mich war das ein Trauma. Also für mich ist eine Welt zusammen gebrochen. Damals mit 15 nach Deutschland zu gehen, alles aufzugeben, die Schule, die Freunde, die Gesellschaft – war für mich ziemlich schwierig."

Jew.de.ru berichtet - als eine Collage ohne jeden Kommentar - von der harten Ankunft in Deutschland. Von überfüllten Asylheimen mit Kakerlaken. Von der unerwarteten Arbeitslosigkeit der Eltern. Und vom Mobbing, das die Kinder an den Schulen erlebten.

S. N: "Dann haben sie mich im Unterricht unterbrochen oder mich im Unterricht beschimpft und im Unterricht meine Hefte in den Pausen zerstreut und mich auf der Treppe geschubst, wo ich mich auch nicht gut wehren konnte, weil ich mich irgendwie schon so als die ‚Ausländerin’, als die Minderbemittelte gefühlt habe."

Die Filmemacherin Tanja Grinberg hat die drei jüdischen Kontingentflüchtlinge interviewt. Die 29-Jährige kennt die Geschichten der jungen Zuwanderer aus dem Effeff. Denn sie ist ebenfalls Jüdin und in Kiew aufgewachsen. So ist Jew.de.ru auch ein Film über ihre eigene Biografie. Völlig neu waren für Grinberg jedoch die Reaktionen bei den Straßen-Umfragen - besonders der Hass eines extrem antisemitischen Passanten.

Grinberg: "Ich habe mir in dem Moment gedacht: Was würde der Mensch tun, wenn er wüsste, dass ich jüdisch bin? Er hat mir dann auch unter anderem die Geschichte erzählt, dass er jemanden zufällig mit einem Davidstern gesehen hat. Dieser Person ging es danach nach seinen Angaben nicht mehr gut. Und ich habe mich dann natürlich schon gefragt, was wäre, wenn ich das gewesen wäre?"

Umfrage: "Juden - keine Ahnung. Die sind geizig! / Ich mag keine Juden./ Brauchen wir nicht weiter reden – das sind geldgeile Schweine, Arschlöcher, Missgeburten und gehören ausgerottet."

Grinberg hat ihre – teils schockierende - Dokumentation als Abschlussarbeit an der Hochschule Darmstadt produziert. Das Werk wurde mit einer Eins benotet. Dennoch interessierte sich kein Fernsehsender für den Film, niemand wollte ihn ins Programm nehmen. Bis auf den Hessischen Rundfunk, der Jew.de.ru nachts um 1:45 Uhr ausstrahlte. Die Autorin erhielt lauter merkwürdige Absagen.

Grinberg: "Also es hieß von einer Redaktion: Toller Film! Großartig gemacht! Jetzt, wo Sie bewiesen haben, dass Sie Filme machen können, machen Sie doch mal was Spannendes! Für die Juden interessiert sich keiner. Gut, habe ich gedacht. Gucke ich mal, was ist denn so Spannendes? Sagte er: Ja, so was wie Deutschland sucht den Superstar."

Ein anderer Fernsehsender lehnte mit dem Argument ab, man habe dieses Jahr bereits einen Film über Juden ausgestrahlt. Eine weitere Redaktion zeigte sich enttäuscht, weil Jew.de.ru nichts über den Holocaust erzähle - sondern "nur" über lebende Juden.

Grinberg: "Also in dem Moment wollte ich wirklich mit dem Kopf gegen die Tischplatte hauen."

Doch das Internet machte die Filmemacherin plötzlich berühmt: Irgendjemand hatte - illegal - einen Mitschnitt vom Hessischen Rundfunk auf die Videoplattform YouTube hochgeladen.

Grinberg: "Und ich habe drei Tage später wirklich von allen Ecken davon gehört: Du Tanja, Dein Film ist auf YouTube – ich habe dann auch Fanpost bekommen. Und dann gab es 26.000 Menschen, die sich wohl den Film angeschaut haben – also innerhalb von drei Tagen."

Auf diese Weise wurde Nicola Galliner auf den Film aufmerksam. Galliner leitet das Jüdische Filmfestival in Berlin und Potsdam und fördert ganz bewusst junge Autoren - wie Grinberg.

Galliner: "Sie geht ganz unbefangen ran. Sie hat nicht Hunderte von Dokumentationen schon gesehen zu dem Thema. Und dass die Leute so unglaubliche Antworten gegeben haben, weil da jemand stand in ihrem Alter. Die hätten, denke ich, nicht so geantwortet, wenn da jemand Älteres gestanden hätte mit einem Mikrofon, wo drauf ZDF steht."

So wurde aus einem studentischen No-Budget-Film, den niemand zeigen wollte, der Eröffnungsfilm des Jüdischen Filmfestivals in Potsdam. Tanja Grinberg plant bereits ein zweites Werk – wieder über Konflikte, die Juden heute erleben.